Über die Konkretion im Augenblick

Wir denken gerne in großen Linien, in den vollumfänglichen Systemen, den ganzheitlichen Lehren und den überspannenden (und manchmal auch: überspannten) Theorien. Wir schätzen das Allgemeine und blicken auf das Konkrete oft nur in seiner exemplarischen Bedeutung. Gerade eben habe ich mein Kind darüber belehrt, dass zum Verstehen eines Textes in einem Schulbuch die allgemeine Aussage das wichtigste ist und das Beispiel erst dannach zu nennen sei.

Was nun H.G. Gadamer über die „Konkretion im Augenblick“ schreibt (in: Wahrheit und Methode, 328) lehrt mich, den Augenblick, das Konkrete, die Situation höher zu schätzen als es meine Belehrung dem Kinde es vermitteln wollte. Beides gehört nämlich zusammen: das Allgemeine und das Spezifische, die Kontinuität und der Augenblick.  Eine Einseitigkeit hin zu dem einen oder anderen ist eben das: einseitig.

Gadamer formuliert sein „Konkretion im Augenblick“ in Bezug auf das ethische Handeln, das sich, so Gadamer im Anschluss an Aristoteles, gerade in einer konkreten Situation – dem Augenblick – verwirkliche. Es verwirklicht sich im Handeln nicht eine allgemeine ethische Idee, sondern das Handeln im Augenblick generiert seinen eigenen ethischen Sinn. Damit wird man nicht gleich zum Situationisten, sondern lediglich zu einem Menschen, der weiß, dass jegliches Allgemeine in Recht, Politik, Spiritualität usw. stets nur auf die Realität Einfluss nehmen kann im Modus der Konkretion.

Das andere Extrem, die Dezisionisten, sind dann jene, welche im Augenblick der Entscheidung den alleinigen Ausdruck situativ ausgelebter und gültiger Wahrheit sehen. Gadamer schlägt sich auf deren Seite aber nicht. Er hält die hermeneutische Waage zwischen dem Verstehen „von oben“ her auf der einen Seite und einem Verstehen „von unten“ her auf der anderen Seite. Wo oben und unten zusammenkommen wird für ihn dann die „fordernde Situation des Augenblicks“ (ebd. 327) geboren. Hier wird, man mag folgern, Wort zu Fleisch.

Und dann sind da noch die Augenblicke, die einen bisher unerkannten Aspekt von Wirklichkeit auch ganz ohne Theorie und allgemeines (Vor-) Wissen enthüllen. Aus sich heraus und unvermittelt spricht die Situation Wahres aus, und ich erfahre im konkreten Augenblick: In den besten Fällen offenbaren sich Wahrheit und Wirklichkeit als ein und dasselbe. Hier und jetzt, an diesem Ort sind sie da. Der Augenblick wird so konkret: wirklicher und wahrer geht es nicht.

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