„Doctrine according to need“. John Henry Newman and the history of ideas.

Any history of ideas and concepts hinges on the observation that ideas and concepts change over time. This notion seems to be so self-evident that the question of why they change is rarely addressed.

Interestingly enough, it was only during the course of the nineteenth century that the notion of a history of ideas, concepts, and doctrines became widespread. Ideas increasingly became to be seen as contingent or “situational” as we might phrase it today. Ideas were no longer regarded as quasi-metaphysical entities unaffected by time and change. This hermeneutic shift from metaphysics to history, however, was far from sudden. It came about gradually and is still ongoing.

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Der Begriff der Situation und die Ideengeschichte

Der Begriff der Situation leidet daran, dass er auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kaum über eine Art „sanctified common sense“ hinauskommt. Situation meint einfach das, was jeder so oder so schon darunter versteht, ohne dass man sich noch weiter darüber verständigen müsste. Letztlich meint der Begriff der Situation (nur) unsere Verortung in einem gegenwärtigen Netz von Interaktionen und Reflexionen, Erfahrungen und Erwartungen.  Dies mag man existentialistisch vertiefen, psychologisch ausbuchstabieren, soziologisch ausarbeiten. Wer sich hier tiefer einlesen möchte, sei auf den guten Übersichtsartikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie verwiesen (HWPh Bd. 9, 924-937).

Bei aller Banalität hat der Begriff der Situation aber einige Reize, wobei mich hier vor allem die Vorzüge hermeneutischer Art interessieren. Der Ahnherr der zeitgenössischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, sprach in Wahrheit und Methode sogar von einer sogenannten „hermeneutischen Situation“. Angelehnt an das existentialistisch von Karl Jasper Vorgedachte schreibt Gadamer: „Man steht in ihr (der Situation, BC), findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist.“ (Gadamer 1990: Wahrheit und Methode, 6. Auflage, Tübingen, 307). Und dezidiert von der hermeneutischen Situation schreibt Gadamer: Das sei „die Situation, in der wir uns gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben“ (ebd.). Gegenwartsbezogen ist die hermeneutische Situation also; bezogen auf das Zuvorgesagte ist sie; und letztlich ihrem Verständnis nach nicht vollständig zu durchschreiten.

Situationen sind zudem keine singulären Momenterscheinungen, sondern sie sind je schon eingebettet: in ein normatives, rhetorisches, sozialgeschichtliches, ideelles Umfeld. Dazu werden Situationen von jedem Betrachter stets und unwiderruflich durch eine bestimmte hermeneutische Brille gelesen. Der Blick in die Vergangenheit, der Weg des Verstehens, ist nie ohne solch eine Brille zu haben. Eine erste Frage, die sich im Umgang mit dem Begriff der Situation also stets stellt, ist die Bedeutung, die man dem weiteren Umfeld der Situation zuschreibt im Gegensatz zum eigentlichen, disruptiven situativen Augenblick. Und eine zweite Frage stellt sich bezüglich des eigenen Blicks auf diese Situation, der erwähnten Brille: Kann ich sinnvolle, beständige Aussagen treffen über einen historischen Augenblick, eine früher formulierte Idee, einen einst aufgekommenen Begriff? Oder muss ich mich damit abfinden, dass zwischen mir und der Geschichte ein unüberwindbarer Graben klafft?

In der Ideen- und Begriffsgeschichte kommt, drittens, immer einmal wieder die Frage auf, welche Bedeutung der kontinuierlichen, langfristigen Entwicklung von Begriffen oder Ideen zukommt und wie dagegen die diskontinuierlichen, eher kurzfristigen Veränderungen im Begriffsapparat und Ideenhaushalt einer Gesellschaft zu verstehen sind. So wurde in der Vergangenheit Reinhart Koselleck mit der Langfristbewegung der Begriffe in Verbindung gebracht und Quentin Skinner mit den kurzfristigen Veränderungen. Exemplarisch nachlesen lässt sich dies unter anderem bei Kari Palonen (2003: Die Entzauberung der Begriffe, Münster).

Die beschriebenen Polaritäten – Situation vs. Kontext bzw. Zugänglichkeit der Geschichte vs. trennender Graben bzw. Kurzfristigkeit vs. Langfristigkeit  – kommen dabei nur einem heutigen Bedürfnis nach Klarheit und Parteinahme entgegen. Die Zuspitzung hilft dem heutigen forschenden Subjekt, sich seiner eigenen Position im Gewebe der vielen möglichen Positionen zu versichern. Die Lösung liegt nicht in einem entweder-oder, aber auch nicht in einem zufälligen sowohl-als-auch, sondern in der gründlich hermeneutisch durchdachten, historisch fundierten, anspruchsvollen Begründung der eigenen Position.

Aber auch das ist wieder eine banale Feststellung. Diese Feststellung hat aber gar nicht so banale Folgen. Fordere ich nämlich eine ordentliche Begründung für meinen eigenen Blickwinkel auf die jeweilige „ideengeschichtlich Situation“ (Andreas Dorschel 2010: Ideengeschichte, Göttingen, 104) ein, dann sage ich zweierlei: Zum einen zwinge ich die Ideengeschichte auf konkrete, historisch-diskursive Zusammenhänge einzugehen, gründliches Quellenstudium zu betreiben, Ideen- und Sozialgeschichte zusammen zu bringen. Ich schaue mir somit eine konkrete Situation vertieft an und anerkenne sie als einen Ort des Verstehens. Zum zweiten stelle ich aber auch die Forderung auf, dass ich nicht einfach isolierte ideengeschichtliche  Situationen bzw. Stationen betrachte, sondern auch den Sinn für die größeren Zusammenhänge wahre. So versuchte bspw. Reinhart Koselleck in seiner Einleitung zu Geschichtliche Grundbegriffe die Ideologisierung, Politisierung, Säkularisierung und Verzeitlichung als einen solchen größeren Verstehenszusammenhang für die Begriffsgeschichte auszuweisen (vgl. Koselleck, Reinhart 1972: Einleitung, in: Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Stuttgart, S. XIII-XXVII).

In konkreten Situationen wird Ideengeschichte fortgeschrieben. Im bloßen Stieren auf die Situation schreibt sich aber noch keine Ideengeschichte. Es sind auch Fragen zu klären wie: Warum entwickeln sich Ideen fort? Wie entwickeln sich Ideen fort? Wohin entwickeln sich Ideen? Und welche realen Auswirkungen mag diese Entwicklung haben? Einen weiteren Beitrag zu diesen Fragen hoffe ich in Bälde nachliefern zu können. Denn ich mag den Anspruch nicht aufgeben, „in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (Gadamer: Wahrheit und Methode, 309).

Nachtrag: Hier geht es zu dem angekündigten weiteren Beitrag.

Ideengeschichte als Sinngeschichte

In einer der jüngeren Ausgaben der Zeitschrift „Sinn und Form“ ist ein Essay von Georg Brandes mit dem Titel „Vom Lesen“ (Sinn und Form, Jg. 64/2012 , Nr. 4, S. 437-453) abgedruckt. In den Anmerkungen derselben Ausgabe wird Brandes, der von 1842 bis 1927 lebte, als „dänischer Philosoph, Literaturkritiker und Schriftsteller“ vorgestellt. Die kurze Biographie auf Wikipedia beschreibt ihn als den „Urheber einer antiklerikalen Geisteshaltung“ in Skandinavien.

Brandes gibt in dem Essay, einem Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1900, einen der Zeit angemessenen kulturpessimistischen Ausblick auf die Gegenwart und Zukunft des Lesens. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, daß es so etwas wie einen Lektürekanon nicht gibt. Vielmehr seien von jedem persönlich die Bücher zur Lektüre heranzuziehen, welche jeder für sich selbst mit nachhaltigem Gewinn zu lesen vermag.

Dabei sollte man, so Brandes, nicht nach einem möglichst allgemeinbildenden, universalen Buch greifen, sondern nach etwas Speziellem, Partikularem. Als Begründung schreibt der Däne: „So wird der hervorragende Autor sein Thema stets symbolisch behandeln. Selbst wenn er über einen kurzen Zeitraum oder eine einzelne Persönlichkeit schreibt, werden durch die Darstellung, die Erklärung und die Kritik des Themas – immer sind es diese drei Dinge – die Gesetze allen Schaffens und aller geistigen Tätigkeit an den Tag kommen“ (ebd., S. 445).

Und ganz im Sinne seines Landsmannes Sören Kierkegaards fügt er hinzu: „Aber alle Menschen, die etwas können, können etwas Besonderes. Vom Besonderen aus öffnen sich Fenster aufs Allgemeine. Weitaus weniger Wege aber führen vom Allgemeinen zum Besonderen“ (ebd.).

Heutzutage würde Georg Brandes mit dieser „symbolischen“ Haltung wohl recht alleine da stehen. Unter Ideen- und Begriffsgeschichtlern gilt nämlich der Grundsatz, daß es keinerlei Wege gibt, die vom Besonderen zum Allgemeinen führen. Auf die Frage nach dem Sinn bezogen: Einen ideengeschichtlichen Sinn, der kontingente historische Situationen überdauert, gibt es nicht.

Ganz dezidiert wird diese hermeneutische Position in den Schriften des Briten Quentin Skinner vertreten. In einem Aufsatz für das „Finnish Yearbook of Politikcal Thought“ (heute: „Redescriptions“) aus dem Jahr 1999 macht Skinner deutlich, was er von einer Konzeption der Ideengeschichte als Sinngeschichte hält. Skinner schreibt gegen etwas an, was er „Arthur Lovejoy and his school“ nennt. Ähnlich wie Georg Brandes geht Lovejoy nämlich davon aus, daß sich im Besonderen einer ideengeschichtlichen Situation auch etwas Allgemeines ausdrücken. Lovejoy nennt dieses Allgmeine „unit ideas“ (vgl. Q. Skinner 1999: Rhetoric and Conceptual Change, in: Finnish Yearbook of Political Thought, Jg. 3, S. 61). Diesen übergreifenden Ideen möge der Schreiber von Ideengeschichte nachgehen.

Dagegen schreibt Skinner, auf einen älteren Text von sich Bezug nehmend: „Against this contention I tried once more to speak up for a more radical contingency in the history of thought. Drawing on a suggestion of Wittgenstein’s, I argued that there cannot be a history of unit ideas as such, but only a history of the various uses to which they have been put by different agents at different times. There is nothing, I ventured to suggest, lying beneath or behind such uses, their history is the only history of ideas to be written“ (ebd. S. 61f.).

Brandes und Lovejoy gehen vor ca. 100 Jahren von einer Ideengeschichte aus, die auch Sinngeschichte sein kann. Sinngeschichte nicht im normativ, vorschreibenden Sinne, aber im Sinne einer die Welt und das Leben auslegenden Gedankenbewegung. Skinner und andere (von denen noch die Rede sein wird) gehen heute von der radikalen Kontingenz aus, die jeder Formulierung von Ideen und Begriffen zugrunde liegt.

Quentin Skinner würde wohl zustimmen, wenn auch seine eigene hermeneutische Ausgangsposition als in sich selbst kontingent bezeichnet werden würde. Zustimmen würde er wohl kaum, wenn diese Position wiederum als eine im Ganzen der Ideengeschichte durchaus Sinn machende und Sinn fortschreibende Haltung behandelt werden würde, oder?!