In einer der jüngeren Ausgaben der Zeitschrift „Sinn und Form“ ist ein Essay von Georg Brandes mit dem Titel „Vom Lesen“ (Sinn und Form, Jg. 64/2012 , Nr. 4, S. 437-453) abgedruckt. In den Anmerkungen derselben Ausgabe wird Brandes, der von 1842 bis 1927 lebte, als „dänischer Philosoph, Literaturkritiker und Schriftsteller“ vorgestellt. Die kurze Biographie auf Wikipedia beschreibt ihn als den „Urheber einer antiklerikalen Geisteshaltung“ in Skandinavien.
Brandes gibt in dem Essay, einem Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1900, einen der Zeit angemessenen kulturpessimistischen Ausblick auf die Gegenwart und Zukunft des Lesens. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, daß es so etwas wie einen Lektürekanon nicht gibt. Vielmehr seien von jedem persönlich die Bücher zur Lektüre heranzuziehen, welche jeder für sich selbst mit nachhaltigem Gewinn zu lesen vermag.
Dabei sollte man, so Brandes, nicht nach einem möglichst allgemeinbildenden, universalen Buch greifen, sondern nach etwas Speziellem, Partikularem. Als Begründung schreibt der Däne: „So wird der hervorragende Autor sein Thema stets symbolisch behandeln. Selbst wenn er über einen kurzen Zeitraum oder eine einzelne Persönlichkeit schreibt, werden durch die Darstellung, die Erklärung und die Kritik des Themas – immer sind es diese drei Dinge – die Gesetze allen Schaffens und aller geistigen Tätigkeit an den Tag kommen“ (ebd., S. 445).
Und ganz im Sinne seines Landsmannes Sören Kierkegaards fügt er hinzu: „Aber alle Menschen, die etwas können, können etwas Besonderes. Vom Besonderen aus öffnen sich Fenster aufs Allgemeine. Weitaus weniger Wege aber führen vom Allgemeinen zum Besonderen“ (ebd.).
Heutzutage würde Georg Brandes mit dieser „symbolischen“ Haltung wohl recht alleine da stehen. Unter Ideen- und Begriffsgeschichtlern gilt nämlich der Grundsatz, daß es keinerlei Wege gibt, die vom Besonderen zum Allgemeinen führen. Auf die Frage nach dem Sinn bezogen: Einen ideengeschichtlichen Sinn, der kontingente historische Situationen überdauert, gibt es nicht.
Ganz dezidiert wird diese hermeneutische Position in den Schriften des Briten Quentin Skinner vertreten. In einem Aufsatz für das „Finnish Yearbook of Politikcal Thought“ (heute: „Redescriptions“) aus dem Jahr 1999 macht Skinner deutlich, was er von einer Konzeption der Ideengeschichte als Sinngeschichte hält. Skinner schreibt gegen etwas an, was er „Arthur Lovejoy and his school“ nennt. Ähnlich wie Georg Brandes geht Lovejoy nämlich davon aus, daß sich im Besonderen einer ideengeschichtlichen Situation auch etwas Allgemeines ausdrücken. Lovejoy nennt dieses Allgmeine „unit ideas“ (vgl. Q. Skinner 1999: Rhetoric and Conceptual Change, in: Finnish Yearbook of Political Thought, Jg. 3, S. 61). Diesen übergreifenden Ideen möge der Schreiber von Ideengeschichte nachgehen.
Dagegen schreibt Skinner, auf einen älteren Text von sich Bezug nehmend: „Against this contention I tried once more to speak up for a more radical contingency in the history of thought. Drawing on a suggestion of Wittgenstein’s, I argued that there cannot be a history of unit ideas as such, but only a history of the various uses to which they have been put by different agents at different times. There is nothing, I ventured to suggest, lying beneath or behind such uses, their history is the only history of ideas to be written“ (ebd. S. 61f.).
Brandes und Lovejoy gehen vor ca. 100 Jahren von einer Ideengeschichte aus, die auch Sinngeschichte sein kann. Sinngeschichte nicht im normativ, vorschreibenden Sinne, aber im Sinne einer die Welt und das Leben auslegenden Gedankenbewegung. Skinner und andere (von denen noch die Rede sein wird) gehen heute von der radikalen Kontingenz aus, die jeder Formulierung von Ideen und Begriffen zugrunde liegt.
Quentin Skinner würde wohl zustimmen, wenn auch seine eigene hermeneutische Ausgangsposition als in sich selbst kontingent bezeichnet werden würde. Zustimmen würde er wohl kaum, wenn diese Position wiederum als eine im Ganzen der Ideengeschichte durchaus Sinn machende und Sinn fortschreibende Haltung behandelt werden würde, oder?!