Folgender Text ist einem Aufsatz entnommen, der neu in dem Sammelband „Dominikanische Predigt“ abgedruckt ist. Der Aufsatz trägt den Titel: „Das Schweigen der Prediger. Von der Gegenwart der Kontemplation in der dominikanischen Verkündigung“ und schließt an Ideen an, die in den vergangenen Jahren auf diesem Blog entwickelt wurden, z.B. hier.
„Hannah Arendt (1906-1975) ist die paradigmatische Repräsentantin einer Denkrichtung, welche der traditionellen Hochschätzung der Vita contemplativa, also dem beschaulichen Leben, eine moderne Hochschätzung der Vita activa, des tätigen bzw. politischen Lebens, entgegensetzte. Dies tut sie in der gleichnamigen Schrift “Vita activa oder vom tätigen Leben” aus dem Jahre 1958 (engl. Originaltitel: The Human Condition).
Schweigen, Stille, Kontemplation: All dies sind Weisen des Daseins, die auf den ersten Blick passiv erscheinen. Arendt stellte diesem passiven Schweigen das aktive Handeln gegenüber. Als politische Philosophin blieb Arendt gar nichts anderes übrig, als ein anti-kontemplatives Programm zu entwerfen. Aus ihrer Sicht war das aktive Handeln dem kontemplativen Schweigen vorzuziehen, vor allem, wenn es um den politischen Raum der Öffentlichkeit geht. Dieser Raum zeichnet sich dadurch aus, dass viele verschiedene Stimmen und Handlungen aufeinander treffen und im politischen Entscheidungsprozess lautstark miteinander konkurrieren. Geschwiegen wird in der Öffentlichkeit herzlich wenig. Das empfänden viele, nicht nur Hannah Arendt, als einen Widerspruch in sich. Denn wie soll man sein Gegenüber überzeugen, ohne pausenlos zu „predigen“, auf ihn einzureden, Argument an Argument reihend?
Aus Arendts Perspektive herrschte in der Ideengeschichte über lange Zeit hinweg eine Bevorzugung des kontemplativen, beschaulichen Lebens gegenüber dem tätigen, politischen Leben vor. Bei Aristoteles sei dies der Fall gewesen, aber auch im monastisch geprägten Mittelalter. Sie nennt exemplarisch Thomas von Aquin, der für sie ein Repräsentant der kontemplativen Denkrichtung und Weltanschauung ist. Sie gibt Thomas in ihren eigenen Worten wieder: „Was immer Körper und Seele bewegt, die äußeren wie die inneren Bewegungen des Sprechens und des Denkens müssen zur Ruhe kommen im Betrachten der Wahrheit.”[1] Daraus folgert Arendt: „So ist bis zum Beginn der Neuzeit die Vorstellung der Vita activa immer an ein Negativum gebunden; sie stand unter dem Zeichen der Un-ruhe”[2]. Der göttlichen Wahrheit nähert man sich mittels der Schau, nicht indem man ihr in Wort und Tat nacheifert – so urteilen die Verehrer der Vita contemplativa in den Augen Hannah Arendts.
Die Philosophin verwirft das Modell der kontemplativen „Anschauung der Wahrheit”[3] nicht generell. Ihr Ton bleibt konziliant. Sie besteht aber darauf, dass die Wahrheit nicht nur geschaut, sondern auch durch Tun und Handeln verwirklicht werden kann. In ihrem Akt der Rehabilitierung des tätigen, politischen Lebens muss Arendt das beschauliche Leben schon aus rhetorischen Gründen schlecht ausschauen lassen. Sie gibt es aber nicht der Lächerlichkeit preis, sondern setzt „nur“ einen ideengeschichtlich anderen Akzent.
Dieser Akzent ist aber deutlich. Er macht die wirkungsgeschichtliche Bedeutung des Werkes aus. Arendt unterstreicht ihn geschickt mit einem Verweis auf das Beispiel Jesu Christi. Dieser ist für sie eine Person, die eher durch Handeln und weniger durch Beschaulichkeit hervorsticht. Sie schreibt: „Daß es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, ‚Wunder‘ zu vollbringen, und daß diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth (…) nicht nur gewußt, sondern auch ausgesprochen.“[4] Jesu Wunder sind für Arendt ursprüngliches Handeln, da sie Neues schaffen und damit vorher unbekannte Möglichkeiten eröffnen. Arendt stellt fest: „Das ‚Wunder‘ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins.“[5] Die Wunder Jesu sind aus diesem Blickwinkel ebenfalls Neuschöpfungen, ein Ausdruck von Natalität. Sie sind alles andere als eine beschauliche Schau des vermeintlich Wahren, sondern der Geburtsschrei einer neuen Welt. Hierin liegt durchaus eine rhetorische Spitze: Die Vita activa wird in Arendts Augen gerade von jener Person exemplarisch praktiziert, welche für viele am Anfang der Entwicklung einer christlich-kontemplativen Lebenshaltung und Weltanschauung stand.
Nach der Lektüre von Arendt erscheinen Vita activa und Vita contemplativa als zwei gegensätzliche Pole auf einer Skala. Beides zusammen geht nicht. Als Mitglied im Orden der Prediger ist man gezwungen zu fragen: Ist dem wirklich so? Wie kann eine Verbindung zwischen der Kontemplation auf der einen Seite und dem aktiven Handeln auf der anderen Seite aussehen? In welchem Verhältnis stehen das Schweigen und die Predigt als einem Handeln in Worten?“
[1] Arendt, Hannah 2006: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 4. Auflage, München: Piper, 25.
[2] Ebd.
[3] Ebd., 384.
[4] Ebd., 316.
[5] Ebd., 317.
Der vollständige Text findet sich in: Thomas Eggensperger & Ulrich Engel (Hrsg.): Dominikanische Predigt, Reihe: Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Band 18, Leipzig: St. Benno, 2014.
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