Hannah Arendt ist dafür bekannt, daß sie der ideengeschichtlichen Hochschätzung der Vita contemplativa, also dem beschaulichen Leben, eine Hochschätzung auch der Vita activa, des tätigen bzw. politischen Lebens, entgegensetzte. Dies tut sie in der gleichnamigen Schrift „Vita activa oder vom tätigen Leben“ aus dem Jahre 1958 (engl. Orginaltitel: The Human Condition).
Vom Beginn der Ideengeschichte an sieht Arendt eine Bevorzugung des kontemplativen, beschaulichen Lebens gegenüber dem tätigen, politischen Leben. Bei Aristoteles sei dies der Fall gewesen, aber auch im monastisch geprägten Mittelalter, so z.B. beim Dominikaner Thomas v. Aquin. Sie gibt Thomas in ihren eigenen Worten wieder: „Was immer Körper und Seele bewegt, die äußeren wie die inneren Bewegungen des Sprechens und des Denkens müssen zur Ruhe kommen im Betrachten der Wahrheit.“ (hier zitiert nach Arendt 2006: Vita activa, 4. Auflage, München: Piper, 25). Daraus folgert sie: „So ist bis zum Beginn der Neuzeit die Vorstellung der Vita activa immer an ein Negativum gebunden; sie stand unter dem Zeichen der Un-ruhe“ (ebd.). Der göttlichen Wahrheit nähert man sich mittels der Schau, nicht indem man ihr in Wort und Tat nacheifert – so urteilen die Verehrer der Vita contemplativa in den Augen Arendts.
(Dabei ergibt sich ein interessanter ordengeschichtlicher Nebenaspekt: Thomas v. Aquin war als Dominikaner Mitglied eines Ordens, der sich von den „streng“ beschaulichen Prinzipien der monastischen Orden des Frühmittelalters abhob. Die Reformorden des Hochmittelalters – v.a. Franziskaner und Dominikaner – wirkten auf viele Menschen anziehend, weil sie ein dezidiert aktives, tätiges Moment besaßen und die Welt um sich herum zu gestalten suchten. Bei den Dominikanern ist dieses aktive Moment bis heute in der Predigt in all ihren verschiedenen Facetten zu suchen.)
Arendt verwirft die „Anschauung der Wahrheit“ (ebd. 384) nicht. Sie besteht aber darauf, daß die Wahrheit nicht nur geschaut, sondern – meine Worte – auch getan werden kann. In ihrem Akt der Rehabilitierung des tätigen Lebens muß sie das beschauliche Leben schon aus rhetorischen Gründen hier und da schlecht ausschauen lassen. Sie gibt es aber nicht der Lächerlichkeit preis, sondern setzt nur einen ideengeschichtlich anderen Akzent.
In einer Rede vor der römisch-katholischen Bischofssynode in Rom vom 10. Oktober 2012 treibt Rowan Williams das Gegeneinander und Zusammenspiel der beiden Lebensweisen weiter. Rowan Williams propagiert darin nämlich die Vita contemplativa als eine Vorbedingung der Vita activa, das tätige Leben aber auch als einen Nährboden für die Kontemplation. Wenn man bei der Lektüre von Williams Rede auch den Eindruck gewinnen kann, daß für ihn das beschauliche Leben einen prinzipiellen Vorrang vor dem tätigen Leben genießt, so besteht er doch auf der notwendigen Verbindung der beiden Pole des einen Lebens.
Im Manuskript von Williams ist zu lesen: „Contemplation is very far from being just one kind of thing that Christians do: it is the key to prayer, liturgy, art and ethics (…). To learn contemplative practice is to learn what we need so as to live truthfully and honestly and lovingly. It is a deeply revolutionary matter.“
Kontemplation als Katalysator für Revolution und radikale Veränderung?
Ich kann mir gut vorstellen, daß Hannah Arendt diesen Gedanken interessant gefunden hätte. Auch sie konnte zeit Ihres Lebens der Revolution als einem Moment der radikalen Veränderung, Kontingenz, Freiheit und Neuschöpfung viel abgewinnen. Doch sie hätte sich wohl nicht vorstellen können, daß aus den Kreisen der Theologie die Kontemplation und das politische Handeln so komplementär miteinander verknüpft würden, wie dies Williams in seiner Rede tut.
Dabei ist Williams keineswegs der erste, der solches tut, sondern er steht in einer Tradition des theologischen Denkens, für die spätestens nach 1945 eine unpolitische Beschaulichkeit nicht mehr vorstellbar war. Zu diesen Denkern gehört mindestens ein weiterer Dominikaner: Marie-Dominique Chenu OP (1895-1990). Dieser war Hannah Arendt durchaus bekannt, aber nur als einen „liberalen katholischen Autoren“, der die Arbeit idealisiere (Vita activa, 452).
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Ein interessantes Buch zu diesem Thema von Byung-Chul Han: Duft der Zeit.
Eine Besprechung zum Buch findet sich unter:
http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/extras/rezensionen_details?k_beitrag=4442213
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