Hinweis: Es folgt ein Text aus dem persönlichen Archiv; die Literatur entspricht nicht dem aktuellen Forschungsstand, BC.
Das Begriffspaar von Zeit und Politik, welches bisher nur wenig politik- und sozialwissenschaftlich relevant aufgearbeitet wurde (Stand: 2003), läßt sich vorläufig in drei verschiedene grammatikalische und damit auch semantische Verbindungen einteilen. Zum einen als die beiden Genetivkonstruktionen „Zeit der Politik“ bzw. „Politik der Zeit“. Beide Konstruktionen verweisen auf einen jeweils spezifischen Zusammenhang, welcher folgend anhand von Literatur skizziert werden soll. Es wird sich zeigen, daß im Falle dieser Genetivkonstruktionen Zeit als nur begrenzt abstrakte Größe in einem je und je modifizierten Sinne von chronologischer Zeit gemeint ist. Zum anderen soll noch auf einen dritten, und zwar präpositionalen Zusammenhang hingewiesen, nämlich die „Zeit in der Politik“. Diese Hintergrundzeit (Palonen 2003) setzt sich von der reinen Chronologie ab und kann auch mit der geschichtlichen Zeit Reinhart Kosellecks (1989/2000) verglichen werden. Sie verspricht vor allem auf der theoretischen Ebene ein fruchtbares Vorankommen. Festzuhalten ist aber, daß folgende Einteilung nur einen hinweisenden Charakter besitzt, da die verschiedenen Dimensionen sich auch vielfach ineinander verhaken bzw. das ein und dasselbe Argument in verschiedene Richtungen hin gewendet werden kann.
Zeit der Politik
Diese Konstruktion verweist in der ein oder anderen Weise stets auf den prozeduralen Aspekt der Politik. Zeit wird als konstituierend für Politik angesehen, da es das politische Handeln in bestimmter Weise in bestimmten Kontexten ordnet. So macht Riescher (1994) in einer der wenigen Monographien zum Thema von Zeit und Politik deutlich, daß politische Systeme wie der Präsidialismus, Parlamentarismus usw. über je eigenen Zeitstrukturen verfügen, in dem sie den verschiedenen Akteuren jeweils unterschiedliche Zeitkonten zur Verfügung stellen, bzw. den einen Akteur über das Zeitkonto eines anderen Akteurs verfügen lassen, wie z.B. die Macht des britischen Premierministers zur „spontanen“ Auflösung des Parlamentes. Institutionen stehen somit in einem zeitlichen Verhältnis zueinander, was ihre jeweilige Machtstellung im System bedingt. Die Zeit der Politik wird nach Riescher im politischen System auch durch die Zyklizität solcher Ereignisse wie Wahlen geprägt, die der operativen Politik einen Wiederholungscharakter verleihen. Dieser Wiederholungscharakter kontrastiert mit der Linearität in der Bearbeitung von politischen Themen, welche Zukunft jenseits aller Wahlen und Wiederholungen ausfüllen wollen.
Institutionelle Zeitregime gibt es aber nicht nur in den nationalen politischen Systemen, sondern auch in anderen politischen Organisationsformen wie z.B. der Europäischen Union. Hier stellt der französische Anthropologe Abelès (1993) eine institutionelle „Eigenzeit“ (Nowotny 1989) fest, welche sich durch ein Primat der Dringlichkeit auszeichnet. Abelès’ Studien stellen ein befremdliches, aber die moderne Politik immer mehr ergreifendes Zeitregime fest, welches nur noch Planung und Dringlichkeit, prosaisch gesprochen, Unrast kennt. Europäische Integrations- und Koordinationprozesse kennen kein eigentliches Ende, da man sich der politischen Zukunft der Organisation aus politischen Gründen nicht stellen möchte. Die Bürokratie der EU fällt dadurch in einen steten Neuerungsprozeß, der die Vergangenheit nur als Gründungsmythos kennt und gleichzeitig, da die Zukunft jeden Zieles beraubt ist, Gegenwart zur Zukunft macht und umgekehrt. Abelès kommt dabei zum Schluß, daß dies zu niedrigen Bewertung jeder Reflexion und Nachdenklichkeit führt, da das „Projekt“ dadurch gefährdet würde. Hier verliert die EU also ihren Organisationscharakter und wird zu einer immerwährend Baustelle, deren Projektcharakter gerade das Spezifikum der Union ausmacht.
Manche mögen dann auch gleich die Dringlichkeit und Beschleunigung als Spezifika der modernen Politik als solcher festhalten (Eberling 1996). Die erhöhte Geschwindigkeit sozialer Prozesse, gedacht als gehetzte Abfolge regelungsbedürftiger politischer Problemlagen, macht, so Eberling, das Herrschaftsproblem der Moderne aus. Politik in der beschleunigten Moderne schafft es kaum noch die entstehende Komplexität des sozialen Lebens in geregelte Bahnen zu lenken und gibt ihr Steuerungsmonopol für die Gesellschaft an andere Akteure und/oder Systeme ab. Die vergleichende Transformationsforschung kennt mit dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ von politischer und wirtschaftlicher Transformation in Drittweltstaaten einen ähnlich gelagerten Fall, wo die Komplexität der zu treffenden Entscheidungen in sich rapide wandelnden Gesellschaften zusammentrifft mit fehlenden Normen zur Hierarchisierung der Probleme hinsichtlich ihrer Dringlichkeit (Riescher 1995). Politik, so mag man schließen, entwickelt ihr eigenes Zeitsystem, welches die sozialwissenschaftliche Forschung erschließen muß.
Politik der Zeit
Wie schon angeklungen können Fragen der Macht auch verstanden werden als Fragen der Zeitsouveränität verschiedener politischer Handlungseinheiten. Was Rutz (1992) für verschiedene Kulturen feststellt, weiß Riescher (1994) von den politischen Systemen der westlichen Moderne zu berichten: Politische Akteure haben es in der Geschichte vermocht, die Zeitsouveränität der anderen Akteure zu appropriieren und ihre eigene Zeitordnung allgemein gültig zu institutionalisieren, wobei man mit Max Weber vielleicht die modern-rationale Bürokratie als einen solchen aggressiven Zeitmonopolisten betrachten kann. Ebenso kann die Entstehung einer demokratischen politischen Ordnung verstanden werden als das Zurückdrängen der allumfassenden monarchischen Zeitdirektive. Zeitfragen werden damit zu Machtfragen. Schlichte (2000) weist darauf hin, daß die Prozesse der Vereinheitlichung und staatlichen Vereinnahmung auf zwei Grundkonstanten modernen Lebens, Geld und Zeit, gleichermaßen zutreffen. Dem Staat erwächst damit eine wichtige Rolle in der Regelung des „zeitlichen“ Lebens einer Gesellschaft, was darauf hinausläuft, daß die soziale Zeitordnung in der Moderne stets ein vermachteter Raum ist, in welchem bestimmte, nämlich staatliche Präferenzlagen zum Ausdruck kommen. Ebenso kann die Vereinheitlichung des Kalenders, welcher in der Moderne den Menschen weitgehend internalisiert zu eigen ist, als ein Prozeß beschrieben werden, in welchem sich die Ansichten eines machtvollen Akteurs gegen jene eines weniger mächtigen Akteurs durchsetzen. Nicht umsonst werden in gesellschaftlichen Umbruchphasen, wie z.B. zur Zeit der französischen Revolution, bei der Machtübernahme Napoleons, dem Zerfall der Sowjetunion mitunter radikale kalendarische Neuerungen eingeführt, um das neue Regime im Alltag der Menschen zu verankern (Riescher 1994).
Zeitliche Aspekt lassen sich aber nicht nur in der Herrschaft von Menschen über Menschen finden, sondern auch in der Hierarchisierung politischer Themen. Die Zeit, die ein Politiker einem bestimmten Problem widmet, ist Ausdruck der Wichtigkeit dieser Sache für die Machterhaltungsstrategie des politisch Tätigen (Böhret 1989). „Klausursitzungen“ zu einem bestimmten Thema kommen dabei einer Adelung jenes Themas gleich, da man sich zu seiner Bearbeitung extra und ausschließlich „Zeit nimmt“. Demokratie, diese Herrschaft auf Zeit, verleitet dabei in besonderem Maße dazu, die politische Themen nach ihrer kurzfristigen und langfristigen Wichtigkeit für die Machterhaltung zu beurteilen. Langfristige Probleme, die einer Lösung harren, zu denken wäre z.B. an die Atommüllentsorgung und demographische Entwicklung, werden als sekundär eingestuft, da sie in den kurzgetackteten Legislaturperioden nicht zu einer sichtbaren Veränderung, wenn nicht sogar zu einer vorübergehenden „Verschlechterung“ und damit zu einer Verringerung der Wahlchancen führen. Zwar können diese zukünftigen Probleme auch zu einem gegenwärtigen Problem werden, Nowotny (1989) spricht hierbei von einer „erstreckten Gegenwart“ der Politik, doch dies bedarf einer zusätzlichen zeitpolitisierenden Anstrengung gesellschaftlicher Akteure. Zeit, so mag man schließen, kann in verschiedenen Facetten zu einem Objekt politischer Machtkämpfe werden.
Zeit in der Politik
Die Hintergrundzeit (Palonen 2003) bzw. geschichtliche Zeit (Koselleck 1989/2000) bildet die eigentliche Herausforderung einer theoretisch inspirierten politischen Sozialwissenschaft. Die geschichtliche Zeit verläßt den Boden der reinen Chronologie, und „die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber“ (Koselleck 1989: 321). Man mag dann, so wie es Laïdi (1997) tut, von einer „temps mondial“ sprechen, in welcher sich seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Ausbruch einer zügigen Globalisierung verschiedene gesellschaftliche Großprozesse vereinigt haben, um dadurch den „Handlungshorzizont“ (Luhmann 1975) der Menschen global auszuweiten. Die geschichtliche Zeit läßt sich aber wie von Koselleck (1975) festgestellt wesentlich früher fruchtbar ansetzen, nämlich indem man die Geschichte der Moderne als eine Verzeitlichung der Geschichte liest. Diese „neue“ Art der Geschichtsauffassung setzte sich mit dem Aufbruch der Moderne im 19. Jahrhundert durch, öffnete die Geschichte in Richtung der Zukunft, was es möglich machte von einem „Fortschritt“ der Menschheit und der Gesellschaft zu sprechen. Geschichte und Zeit nehmen einen linearen, auf ein weltliches Ziel hinstrebenden Charakter an. Moderne Politik nimmt hier die Natur einer säkularisierten Heilsgeschichte an. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß jede politische Theorie und Ideologie, sei es der Liberalismus, der Nationalismus, der Konservativismus usw., all jene haben im 18. und 19. Jahrhundert ihre Wurzeln, von der Möglichkeit der Formung von Zeit ausgeht, von einer Ausgestaltung der gesellschaftlichen Zukunft in einer bestimmten Weise. Hanson (1997) stellt für den Marxismus-Leninismus ein bestimmtes Zeitverständnis fest. Einteilungen in traditionale und moderne, liberale und totalitäre Konzeptionen geschichtlicher Zeit finden sich ebenfalls in der ethnologischen und politischen Sozialwissenschaft (Rotenberg 1992; Maier 1987).
Die geschichtliche Zeit erlaubt es auch, geistige Kollisionen verschiedener Zeitkonzeptionen zu untersuchen bzw. die „Zeitschichten“ (Koselleck 2000) des geschichtlichen Verlaufes zu sezieren. Braudels „longue durée“ (1958) eignet sich z.B. dazu, die kurzfristige Ereignisfixierung moderner politikwissenschaftlicher Forschung zu relativieren bzw. auch die Adäquanz der Anwendung einer bestimmten Theorie auf einen bestimmten Gegenstand. Ebenfalls besitzt soziales Geschehen verschiedene Lagen mit je variierenden Wiederholungstempi und muß folglich auf verschiedenen zeitlichen Ebenen untersucht werden. Kriege können so als soziale Konflikte charakterisiert werden, deren Ursachen jeweils kurzfristig, mittelfristig und langfristig generiert werden. „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch 1935) entsteht nicht nur in dem Ineinandergehen von traditionalen und modernen Reproduktionsmodi (Conrad 2001), sondern auch in dem Übereinanderlegen sozialer Prozesse mit unterschiedlichen Zeitkernen.
Die geschichtliche Zeit ist eine vielversprechende, wenn auch schwierig zu gebrauchende Kategorie. Noch vielversprechender, aber auch noch schwieriger wird es dort, wo man die geschichtliche Zeit der Politik anreichert mit ontischen Überlegungen aus der Zeitphilosophie und Zeittheologie. Dies geschah nicht ohne Grund bisher kaum in der Sozialwissenschaft. Kategorien wie der „Augenblick“ (Kierkegaard), „Ewigkeit“ (Augustinus), „Raum und Zeit“ (Kant) und „Sein und Zeit“ (Heidegger) bedürfen zu ihrem bloßen Verständnis schon eine geraume Zeit, ganz zu schweigen von ihrer erfolgreichen „Anwendung“ auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft. Es wird damit deutlich, daß die bisherige Forschung bezüglich des Verhältnisses von Politik und Zeit bisher nur dem Schürfen an der Oberfläche gleichkam.
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