Der Augenblick: Phänomen und Fetisch

Immer wieder wird das Interesse am Augenblick geweckt. Das Phänomen des Augenblicks regt offenbar die Geister an, die konservativen wie die poststrukturalistischen. Im Augenblick vermutet man die Kraft zur Umwältzung, das revolutionäre Potential oder einfach nur ein rätselhaftes Konundrum. Der Augenblick ist die Zeit der Epiphanie, der Elevation, der Offenbarung, der Konversion oder auch das herausragende ästhetische Moment, der absolute Nullpunkt und Uranfang. Vorbildlich werden die verschiedenen Dimensionen des Augenblicks und des Zeitpunktes in einem Sammelband aus dem Jahr 1984 besprochen:  Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt, hrsg. von Christan W. Thomsen & Hans Holländer).

Dabei ist die Beschäftigung mit dem Augenblick nicht ungefährlich. Das Phänomen des Augenblicks mit seinen mal philosophischen, mal theologischen Tiefenschichten verführt den Betrachter dazu, aus einem Phänomen der Beobachtung einen Fetisch der Vergötzung zu machen. Aus dem Gesprächsstoff wird so ein Gegenstand, dem eine höhere Kraft und Macht zugeschrieben wird. Man starrt solange auf den Augenblick bis er sich in ein durch und durch geheimnisvolles Wesen mit reichlich intellektuellem Eigenleben verwandelt. Der Autor dieser Zeilen ist sich dieser Gefahr bewusst, da er selbst im Rahmen einer längeren Studie dem Augenblick der Entscheidung auf die Spur – man könnte auch sagen: auf den Leim – gegangen ist.

Mit großem Interesse las dieser gleiche Autor in den letzten Tagen das kleine Büchlein von Malte Oppermann mit dem Titel Der Augenblick (Karolinger 2020), welchem die Wochenzeitung „Die Zeit“ eine positive Besprechung widmete. Malte Oppermann vollzieht in seinen kurzen philosophischen Meditiationen Tiefenbohrungen, um den Augenblick in dessen quantitativen und qualitativen Schattierungen zu entschlüsseln, freilich unter der gleich zu Anfang zitierten Qualifizierung, dass der Augenblick an sich kaum zu entschlüsseln ist. Gleich zu Beginn schreibt Oppermann daher von der „Ungreifbarkeit und Widersprüchlichkeit“ (9) des Augenblicks. Gleichzeitig gesteht Oppermann dem Augenblick zu „eine Metapher für die Fülle der unmittelbaren Gegenwart“ (11) zu sein. Beim Augenblick handelt es sich also, das ist festzuhalten, um eine Metapher, um ein Sprachspiel, das ein beobachtetes Phänomen oder auch einen Gemütszustand auf den sprachlichen Punkt bringen möchte. Gibt es überhaupt den Augenblick an sich?

Oppermann ist aber nicht nur metaphorisch unterwegs, sondern mitunter auch durch und durch essentiell. Über den Augenblick sagt er zum Beispiel: „Die Fülle der Gegenwart liegt in ihrer Einmaligkeit“ (ebd.). Da ist er dann auch schon: der Augenblick, der Anstalten macht, vom Phänomen zum Fetisch zu werden. Dabei hat das Sprachspiel der „Fülle“ mit Blick auf das Phänomen Augenblick durchaus Tradition. Die Erfahrung der Fülle oder auch der gefühlten „Vollendung“ (23) ist im menschlichen Empfinden immer nur vorübergehender Natur. Die Erfahrung der Fülle ist ein Versprechen. In ihr drückt sich eine Hoffnung aus, dass die Dinge gut werden. Er ist also vergänglich, dieser Augenblick der Fülle. Er kommt, zieht vorüber und verschwindet wieder in einer „unendlichen Mannigfaltigkeit“ (13).

Aus dieser Vergänglichkeit versucht Oppermann aber den Augenblick zu retten, indem er dessen „Einmaligkeit“ (38) und „Individualität“ (36) betont . In Spannung dazu steht, dass die Erinnerung an den Augenblick der Fülle, die Erfahrung auch, dass sich der vollendete Moment durchaus wiederholen kann. Gibt es nicht eine Wiederholung des Augenblicks, die natürlich nichts gemein hat mit einer fabrizierten Reproduktion von Fülle und Vollendung? Freunde des Augenblicks werden hier – evtl. in Rückgriff auf Kierkegaard – sogleich Einspruch erheben. Doch – zum Glück – stellt sich die Fülle nicht nur einmal im Leben ein.

Ein Augenblick kommt selten allein. Er ist eingebettet als fast zufälliger Beobachtungspunkt in ein Geflecht der kontinuierlichen Abläufe und Prozesse. Viele, ungezählte Augenblicke, Akte, Sprachbilder, Gesten formen die Geschichte aus. Ja, wir nehmen ab und an einzelne Augenblicke besonders wahr. Sonst existieren wir aber fröhlich in einem Kontinuum der Gegenwart. Oppermann weiß das: „Stets ist nur ein winziger Ausschnitt des Geschehens Gegenwart. Trotzdem zerspringt die zeitliche Existenz nicht in einzelne Augenblickssplitter“ (26). Ganzheit kann man diese Erfahrung mit Oppermann nennen; muss diese Erfahrung aber gleich eine „verborgene Ganzheit“ (26) sein? Geht es manchmal nicht vielleicht auch ohne Mysterium und Geheimnistuerei? Da ist er wieder: der Augenblick als Fetisch.

Unbestreitbar regen Oppermanns Meditationen an. Sie schreiten aber auch haarscharf am Grad der Fetischisierung des Augenblicks entlang. Hier und da schlittert der Tonfall ins Geraune ab. Spätestens seit Augustinus bekannter Bestimmung von Zeit („Was ist also Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemanden auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“) weiß man, dass es schwer ist, über die Zeit und das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schreiben, ohne dabei viele Fragen zu stellen. Vielleicht ist das Fragen auch die beste Weise, dem Phänomen des Augenblicks beizukommen ohne es zu fetischisieren.

 

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Zeit und Politik

Hinweis:  Es folgt ein Text aus dem persönlichen Archiv; die Literatur entspricht nicht dem aktuellen Forschungsstand, BC.

Das Begriffspaar von Zeit und Politik, welches bisher nur wenig politik- und sozialwissenschaftlich relevant aufgearbeitet wurde (Stand: 2003), läßt sich vorläufig in drei verschiedene grammatikalische und damit auch semantische Verbindungen einteilen. Zum einen als die beiden Genetivkonstruktionen „Zeit der Politik“ bzw. „Politik der Zeit“. Beide Konstruktionen verweisen auf einen jeweils spezifischen Zusammenhang, welcher folgend anhand von Literatur skizziert werden soll. Es wird sich zeigen, daß im Falle dieser Genetivkonstruktionen Zeit als nur begrenzt abstrakte Größe in einem je und je modifizierten Sinne von chronologischer Zeit gemeint ist. Zum anderen soll noch auf einen dritten, und zwar präpositionalen Zusammenhang hingewiesen, nämlich die „Zeit in der Politik“. Diese Hintergrundzeit (Palonen 2003) setzt sich von der reinen Chronologie ab und kann auch mit der geschichtlichen Zeit Reinhart Kosellecks (1989/2000) verglichen werden. Sie verspricht vor allem auf der theoretischen Ebene ein fruchtbares Vorankommen. Festzuhalten ist aber, daß folgende Einteilung nur einen hinweisenden Charakter besitzt, da die verschiedenen Dimensionen sich auch vielfach ineinander verhaken bzw. das ein und dasselbe Argument in verschiedene Richtungen hin gewendet werden kann.

 

Zeit der Politik

Diese Konstruktion verweist in der ein oder anderen Weise stets auf den prozeduralen Aspekt der Politik. Zeit wird als konstituierend für Politik angesehen, da es das politische Handeln in bestimmter Weise in bestimmten Kontexten ordnet. So macht Riescher (1994) in einer der wenigen Monographien zum Thema von Zeit und Politik deutlich, daß politische Systeme wie der Präsidialismus, Parlamentarismus usw. über je eigenen Zeitstrukturen verfügen, in dem sie den verschiedenen Akteuren jeweils unterschiedliche Zeitkonten zur Verfügung stellen, bzw. den einen Akteur über das Zeitkonto eines anderen Akteurs verfügen lassen, wie z.B. die Macht des britischen Premierministers zur „spontanen“ Auflösung des Parlamentes. Institutionen stehen somit in einem zeitlichen Verhältnis zueinander, was ihre jeweilige Machtstellung im System bedingt. Die Zeit der Politik wird nach Riescher im politischen System auch durch die Zyklizität solcher Ereignisse wie Wahlen geprägt, die der operativen Politik einen Wiederholungscharakter verleihen. Dieser Wiederholungscharakter kontrastiert mit der Linearität in der Bearbeitung von politischen Themen, welche Zukunft jenseits aller Wahlen und Wiederholungen ausfüllen wollen.

Institutionelle Zeitregime gibt es aber nicht nur in den nationalen politischen Systemen, sondern auch in anderen politischen Organisationsformen wie z.B. der Europäischen Union. Hier stellt der französische Anthropologe Abelès (1993) eine institutionelle „Eigenzeit“ (Nowotny 1989) fest, welche sich durch ein Primat der Dringlichkeit auszeichnet. Abelès’ Studien stellen ein befremdliches, aber die moderne Politik immer mehr ergreifendes Zeitregime fest, welches nur noch Planung und Dringlichkeit, prosaisch gesprochen, Unrast kennt. Europäische Integrations- und Koordinationprozesse kennen kein eigentliches Ende, da man sich der politischen Zukunft der Organisation aus politischen Gründen nicht stellen möchte. Die Bürokratie der EU fällt dadurch in einen steten Neuerungsprozeß, der die Vergangenheit nur als Gründungsmythos kennt und gleichzeitig, da die Zukunft jeden Zieles beraubt ist, Gegenwart zur Zukunft macht und umgekehrt. Abelès kommt dabei zum Schluß, daß dies zu niedrigen Bewertung jeder Reflexion und Nachdenklichkeit führt, da das „Projekt“ dadurch gefährdet würde. Hier verliert die EU also ihren Organisationscharakter und wird zu einer immerwährend Baustelle, deren Projektcharakter gerade das Spezifikum der Union ausmacht.

Manche mögen dann auch gleich die Dringlichkeit und Beschleunigung als Spezifika der modernen Politik als solcher festhalten (Eberling 1996). Die erhöhte Geschwindigkeit sozialer Prozesse, gedacht als gehetzte Abfolge regelungsbedürftiger politischer Problemlagen, macht, so Eberling, das Herrschaftsproblem der Moderne aus. Politik in der beschleunigten Moderne schafft es kaum noch die entstehende Komplexität des sozialen Lebens in geregelte Bahnen zu lenken und gibt ihr Steuerungsmonopol für die Gesellschaft an andere Akteure und/oder Systeme ab. Die vergleichende Transformationsforschung kennt mit dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ von politischer und wirtschaftlicher Transformation in Drittweltstaaten einen ähnlich gelagerten Fall, wo die Komplexität der zu treffenden Entscheidungen in sich rapide wandelnden Gesellschaften zusammentrifft mit fehlenden Normen zur Hierarchisierung der Probleme hinsichtlich ihrer Dringlichkeit (Riescher 1995). Politik, so mag man schließen, entwickelt ihr eigenes Zeitsystem, welches die sozialwissenschaftliche Forschung erschließen muß.

 

Politik der Zeit

Wie schon angeklungen können Fragen der Macht auch verstanden werden als Fragen der Zeitsouveränität verschiedener politischer Handlungseinheiten. Was Rutz (1992) für verschiedene Kulturen feststellt, weiß Riescher (1994) von den politischen Systemen der westlichen Moderne zu berichten: Politische Akteure haben es in der Geschichte vermocht, die Zeitsouveränität der anderen Akteure zu appropriieren und ihre eigene Zeitordnung allgemein gültig zu institutionalisieren, wobei man mit Max Weber vielleicht die modern-rationale Bürokratie als einen solchen aggressiven Zeitmonopolisten betrachten kann. Ebenso kann die Entstehung einer demokratischen politischen Ordnung verstanden werden als das Zurückdrängen der allumfassenden monarchischen Zeitdirektive. Zeitfragen werden damit zu Machtfragen. Schlichte (2000) weist darauf hin, daß die Prozesse der Vereinheitlichung und staatlichen Vereinnahmung auf zwei Grundkonstanten modernen Lebens, Geld und Zeit, gleichermaßen zutreffen. Dem Staat erwächst damit eine wichtige Rolle in der Regelung des „zeitlichen“ Lebens einer Gesellschaft, was darauf hinausläuft, daß die soziale Zeitordnung in der Moderne stets ein vermachteter Raum ist, in welchem bestimmte, nämlich staatliche Präferenzlagen zum Ausdruck kommen. Ebenso kann die Vereinheitlichung des Kalenders, welcher in der Moderne den Menschen weitgehend internalisiert zu eigen ist, als ein Prozeß beschrieben werden, in welchem sich die Ansichten eines machtvollen Akteurs gegen jene eines weniger mächtigen Akteurs durchsetzen. Nicht umsonst werden in gesellschaftlichen Umbruchphasen, wie z.B. zur Zeit der französischen Revolution, bei der Machtübernahme Napoleons, dem Zerfall der Sowjetunion mitunter radikale kalendarische Neuerungen eingeführt, um das neue Regime im Alltag der Menschen zu verankern (Riescher 1994).

Zeitliche Aspekt lassen sich aber nicht nur in der Herrschaft von Menschen über Menschen finden, sondern auch in der Hierarchisierung politischer Themen. Die Zeit, die ein Politiker einem bestimmten Problem widmet, ist Ausdruck der Wichtigkeit dieser Sache für die Machterhaltungsstrategie des politisch Tätigen (Böhret 1989). „Klausursitzungen“ zu einem bestimmten Thema kommen dabei einer Adelung jenes Themas gleich, da man sich zu seiner Bearbeitung extra und ausschließlich „Zeit nimmt“. Demokratie, diese Herrschaft auf Zeit, verleitet dabei in besonderem Maße dazu, die politische Themen nach ihrer kurzfristigen und langfristigen Wichtigkeit für die Machterhaltung zu beurteilen. Langfristige Probleme, die einer Lösung harren, zu denken wäre z.B. an die Atommüllentsorgung und demographische Entwicklung, werden als sekundär eingestuft, da sie in den kurzgetackteten Legislaturperioden nicht zu einer sichtbaren Veränderung, wenn nicht sogar zu einer vorübergehenden „Verschlechterung“ und damit zu einer Verringerung der Wahlchancen führen. Zwar können diese zukünftigen Probleme auch zu einem gegenwärtigen Problem werden, Nowotny (1989) spricht hierbei von einer „erstreckten Gegenwart“ der Politik, doch dies bedarf einer zusätzlichen zeitpolitisierenden Anstrengung gesellschaftlicher Akteure. Zeit, so mag man schließen, kann in verschiedenen Facetten zu einem Objekt politischer Machtkämpfe werden.

 

Zeit in der Politik

Die Hintergrundzeit (Palonen 2003) bzw. geschichtliche Zeit (Koselleck 1989/2000) bildet die eigentliche Herausforderung einer theoretisch inspirierten politischen Sozialwissenschaft. Die geschichtliche Zeit verläßt den Boden der reinen Chronologie, und „die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber“ (Koselleck 1989: 321). Man mag dann, so wie es Laïdi (1997) tut, von einer „temps mondial“ sprechen, in welcher sich seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Ausbruch einer zügigen Globalisierung verschiedene gesellschaftliche Großprozesse vereinigt haben, um dadurch den „Handlungshorzizont“ (Luhmann 1975) der Menschen global auszuweiten. Die geschichtliche Zeit läßt sich aber wie von Koselleck (1975) festgestellt wesentlich früher fruchtbar ansetzen, nämlich indem man die Geschichte der Moderne als eine Verzeitlichung der Geschichte liest. Diese „neue“ Art der Geschichtsauffassung setzte sich mit dem Aufbruch der Moderne im 19. Jahrhundert durch, öffnete die Geschichte in Richtung der Zukunft, was es möglich machte von einem „Fortschritt“ der Menschheit und der Gesellschaft zu sprechen. Geschichte und Zeit nehmen einen linearen, auf ein weltliches Ziel hinstrebenden Charakter an. Moderne Politik nimmt hier die Natur einer säkularisierten Heilsgeschichte an. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß jede politische Theorie und Ideologie, sei es der Liberalismus, der Nationalismus, der Konservativismus usw., all jene haben im 18. und 19. Jahrhundert ihre Wurzeln, von der Möglichkeit der Formung von Zeit ausgeht, von einer Ausgestaltung der gesellschaftlichen Zukunft in einer bestimmten Weise. Hanson (1997) stellt für den Marxismus-Leninismus ein bestimmtes Zeitverständnis fest. Einteilungen in traditionale und moderne, liberale und totalitäre Konzeptionen geschichtlicher Zeit finden sich ebenfalls in der ethnologischen und politischen Sozialwissenschaft (Rotenberg 1992; Maier 1987).

Die geschichtliche Zeit erlaubt es auch, geistige Kollisionen verschiedener Zeitkonzeptionen zu untersuchen bzw. die „Zeitschichten“ (Koselleck 2000) des geschichtlichen Verlaufes zu sezieren. Braudels „longue durée“ (1958) eignet sich z.B. dazu, die kurzfristige Ereignisfixierung moderner politikwissenschaftlicher Forschung zu relativieren bzw. auch die Adäquanz der Anwendung einer bestimmten Theorie auf einen bestimmten Gegenstand. Ebenfalls besitzt soziales Geschehen verschiedene Lagen mit je variierenden Wiederholungstempi und muß folglich auf verschiedenen zeitlichen Ebenen untersucht werden. Kriege können so als soziale Konflikte charakterisiert werden, deren Ursachen jeweils kurzfristig, mittelfristig und langfristig generiert werden. „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch 1935) entsteht nicht nur in dem Ineinandergehen von traditionalen und modernen Reproduktionsmodi (Conrad 2001), sondern auch in dem Übereinanderlegen sozialer Prozesse mit unterschiedlichen Zeitkernen.

Die geschichtliche Zeit ist eine vielversprechende, wenn auch schwierig zu gebrauchende Kategorie. Noch vielversprechender, aber auch noch schwieriger wird es dort, wo man die geschichtliche Zeit der Politik anreichert mit ontischen Überlegungen aus der Zeitphilosophie und Zeittheologie. Dies geschah nicht ohne Grund bisher kaum in der Sozialwissenschaft. Kategorien wie der „Augenblick“ (Kierkegaard), „Ewigkeit“ (Augustinus), „Raum und Zeit“ (Kant) und „Sein und Zeit“ (Heidegger) bedürfen zu ihrem bloßen Verständnis schon eine geraume Zeit, ganz zu schweigen von ihrer erfolgreichen „Anwendung“ auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft. Es wird damit deutlich, daß die bisherige Forschung bezüglich des Verhältnisses von Politik und Zeit bisher nur dem Schürfen an der Oberfläche gleichkam.

Brexit und die Politik der Zeit

So ein Schachzug, neudeutsch „move“, war erwartbar:

Boris Johnson lässt die Monarchin das Parlament auflösen, um den Mitgliedern des britischen Unter- und Oberhauses die Zeit für ein etwaiges Gegensteuern gegen seinen Kurs in Sachen Brexit zu nehmen.

Einmal mehr wird deutlich, was in der Tagespolitik und deren wissenschaftlichen und journalistischen Beobachtung oft untergeht: Die Ressource Zeit ist für die Politik und das politische Handeln konstitutiv. Ohne Zeit geht gar nichts. Auch Räume spielen in der Politik eine wichtige Rolle, oft gerade in ihrer repräsentativer Funktion. Doch Räume sind notfalls austauschbar. So fungierten in der Geschichte schon viele Räume als Orte der Diskussion, der Beratung, der Rebellion, der Entscheidung.

Doch Zeit ist nicht beliebig vermehrbar und ersetzbar. Wenn politischen Akteuren die Zeit zum politischen Handeln genommen wird, dann kommt auch das politische Handeln als solches zum erliegen. Boris Johnson hat dies erkannt und nimmt dem britischen Parlament einfach diese wesentliche Ressource: die Zeit.

Selbstverständlich können sich die Members of Parliament auch weiterhin politisch betätigten, aber eben nicht in ihrer gesetzgeberischen oder die Regierung kontrollierenden Funktion. So ist nun ein Kampf um Zeit ausgebrochen, in dem sich am Ende zeigen wird, wer die zeitpolitischen Fäden in der Hand hält: Wer kann darüber bestimmen, wann welches politisches Thema verhandelt und entschieden wird? Hier geht es nicht um Inhalte, sondern um das sonst sehr tröge Geschäft der parlamentarischen Regularien und Geschäftsordnungen.

Dieser Kampf um Zeit ist gleichzeitig auch ein Kampf mit der Zeit ist, ein „struggle with time“, wie es Kari Palonen einmal ausdrückte (The Struggle with Time.  A Conceptual History of ‚Politics‘ as an Activity, 2006). Denn gerade demokratische Politik lebt davon, dass ihr Zeit zugewiesen wird; dass Menschen sich Zeit dafür nehmen; dass diesen Menschen die Zeit im Gefüge der Institutionen auch zur Verfügung gestellt wird, damit sie politisch aktiv werden können. Diese Zeit gilt es dann geschickt zu nutzen. Denn jede und jeder weiß: Zeit ist knapp. Und wir sehen am aktuellen Beispiel: Zeit kann auch sehr einfach verknappt werden.

Politik ist letztlich auch die öffentliche Auseinandersetzung darüber, wer das Sagen über die Zeit hat.

Die Angst der Kirche vor der Eschatologie

Zuletzt ist es vor wenigen Tagen geschehen: Die Gemeinde singt im Gottesdienst ein Lied, in diesem Fall ist es „Morgenglanz der Ewigkeit“. Im katholischen „Gotteslob“ sind vier Verse des Liedes abgedruckt. Wir singen aber nur drei Verse. Der vierte Vers wird weggelassen. Dieser lautet:

„Licht, das keinen Abend kennt, / leucht uns bis der Tag sich neiget. / Christus, wenn der Himmel brennt / und dein Zeichen groß aufsteiget, / führ uns heim aus dem Gericht in dein Licht.“

Vor einigen Wochen traf es „Nun danket all und bringet Ehr“. Hier lauten die letzten beiden im „Gotteslob“ abgedruckten und nicht gesungenen Verse:

„Solange dieses Leben währt, / sei er stets unser Heil, / und wenn wir scheiden von der Erd, / verbleib er unser Teil.

Er drücke, wenn das Herze bricht, / uns unsre Augen zu / und zeig uns drauf sein Angesicht / dort in der ewgen Ruh.“

Es handelt sich hier nicht um das Problem eines einzigen Gottesdienstortes. Dass die letzten Verse vieler Lieder gerade im deutschsprachigen Raum – im englischsprachigen Raum habe ich dies anders erfahren – im Gottesdienst gerne gestrichen werden, habe ich schon an vielen verschiedenen Orten erfahren müssen.

Man könnte nun einfach sagen, dass die deutschen Kirchgänger singfaul sind. Das mag so sein. Als Folge dieser Faulheit tritt dann aber oft ein, dass zumeist jene Verse nicht gesungen werden, die zum Ende eines Liedes die letzten Dinge thematisieren. Die Thematisierung der letzten Dinge schlägt die Theologie der Disziplin der Eschatologie zu. Singfaule Kirchen begegnen ihr kaum.

Man könnte also auch schärfer formulieren: Die deutschen Kirchgänger sind nicht nur singfaul. Sie haben auch Angst vor den letzten Dinge. Tod, Gericht und Ewigkeit werden außerhalb von Beerdigungsfeiern, also im gewöhnlichen Verlauf des Kirchenjahrs, nur zurückhaltend thematisiert. Pflichtschuldig lässt man im November anklingen, dass die Themen weiterhin zum Gut des Glaubens gehören. Das war es dann aber schon.

Oder wann habe ich das letzte Mal eine Predigt oder eine Andacht zur Wiederkunft Christi gehört? Oder zur neuen Schöpfung? Oder zum Weltgericht? Natürlich sind diese Themen etwas sperrig und vermeintlich weit weg vom Alltag der Menschen. Von daher ist die Nicht-Thematisierung irgendwie auch verständlich. Aber bis zum nächsten Todesfall im Kreis der Verwandten bzw. Bekannten ist es manchmal nicht weit. Auch ist die politische Sehnsucht der Menschen nach einer letzten, sich endgültige durchsetzenden Gerechtigkeit oder anders formuliert: nach einer „Zeit mit Frist“ (J. B. Metz 2006 : Memoria Passionis, Freiburg, 135ff.) nicht auszurotten.

Doch nicht nur das: Die genannten Themen stellen auch ein großes Fragezeichen in den Raum: Wie ernst meinen wir es in der Kirche mit den letzten Dingen? Glauben wir, um ein Beispiel zu nennen, wirklich – d.h. alltäglich – an eine objektiv feststellbare Wiederkunft Christi? An ein Weltgericht, das persönliche und strukturelle Sünde aufdeckt? An die Wirklichkeit einer Ewigkeit im Angesicht des Ewigen? Oder haben wir es uns in der sog. Parusieverzögerung gemütlich eingerichtet und überlassen uns dem ziellosen Lauf der irdischen Dinge?

Wer ein Lehrbuch zur Eschatologie aufschlägt – auf meinem Schreibtisch liegen die beiden von Medard Kehl SJ (1986) und Jürgen Moltmann (1995) – der wird feststellen, dass es verschiedenste durchaus wohlmeinende Strategien gibt, den schwierigen Themenkomplex der letzten Dinge im alltäglichen Leben gläubiger Menschen zu verankern. Gleichzeitig ist den akademischen Sprach-  und Denkmöglichkeiten auch Grenzen gesetzt.

Eschatologischer Glaube findet sich dann gerade (auch) in den Tränen von Hinterbliebenen, in denen sich Trauer mit Hoffnung mischen. Oder er findet sich in den Schreien der Unterdrückten, die Zorn und Sehnsucht nach Gerechtigkeit zugleich ausdrücken. Oder er findet sich in den letzten Versen jener Kirchenlieder, die wir dann irgendwann auch singen sollten.  Mit ihnen nähert sich der Glaube den Grenzen an, welche wir so oder so

kurz davor sind

Tag für Tag

zu überschreiten.

Was die deutsche Gesellschaft zusammenhält!

Was uns als Gesellschaft zusammenhält ist nicht das, was uns dem Wesen nach eint; davon gibt es jenseits der Sprache eh viel zu wenig. Was uns zusammenhält ist vielmehr das, was uns miteinander im Gespräch hält.

Der Zusammenhalt der Gesellschaft – um ihn sorgen sich derzeit viele. Dabei sind es oft „Werte“, die beschworen werden. Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten sollen. Werte, die den Kitt ausmachen, der kleistern und kleben soll, was anderweitig offenbar nicht beieinander bleiben möchte. Dabei wissen wir gar nicht, ob diese beschworenen Werte überhaupt eine objektive Wirklichkeit besitzen. Werte werden beschworen. Aber wie bei allen Dingen, die erst nach einer Beschwörung auftauchen, ist man sich auch bei den Werten nicht recht sicher, welche Substanz man dem so Beschworenen zuschreiben möchte. Der Philosoph Andreas Urs Sommer hat in seinem Buch „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt.“ Zweifel daran geäußert, dass Werte eine Wirklichkeit außerhalb der Kommunikation besitzen. Unter anderem nennt er sie „Projektionsflächen“ (Sommer: Werte, Stuttgart 2016, 173.) unserer Bedürfnisse.

Ich möchte daher im Folgenden auch nicht von Werten oder anderen Wesen reden. Vielmehr schlage ich vor, alltagsnähere Gesprächsgegenstände als den Kitt der Gesellschaft zu umschreiben. „Dinge“ bzw. Phänomene sind dies, die durch Wiederholung, Regelsetzung, Ritualisierung größere Teile einer Gesellschaft erfassen und auf die gleiche Bahn lenken – ob diese es wollen oder nicht. Denn, was unsere Gesellschaft zusammenhält, ist nicht unbedingt das, was alle Menschen für gut und befinden. Es ist nicht der explizite Konsens über Wesentliches. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, ist vor allem das, was in das Alltagsleben vieler Menschen hinein ragt an äußeren Ordnungen und Gesprächsgegenständen, die ich nur bedingt beeinflussen kann. Das heißt: Wer an einem Zusammenhalt der Gesellschaft interessiert ist, der darf diese äußeren Einflüsse und Ordnungen nicht mit dem Wunsch nach größerer individueller Freiheit zur Seite schaffen. Diese anti-liberale Pille muss man schlucken.

Einige ausgewählte Phänomene seien genannt. Diese Liste könnte um viele weitere Punkte erweitert werden, aber eben nicht um Wesenhaftes.

Sonntag

Die deutsche Gesellschaft wird vom Sonntag zusammengehalten. Ich nehme damit keinen religiösen Standpunkt ein, sondern vertrete eine zeitpolitische These. Die gesetzlich geschützte Sonntagsruhe ist der zeitliche Marker im Alltag aller Menschen in diesem Land. Mit dem Sonntag haben alle Menschen etwas zu tun: weil sie nicht arbeiten und sich eine sinnvolle Beschäftigung suchen müssen; weil sie arbeiten müssen, während viele andere dies nicht tun; weil sie auf dem Fußballplatz herumstehen und sich beim 2:6 ihrer Kreisligaheimmannschaft die Füße in den Bauch stehen; weil sie zu Hause den Kuchen vom Konditor verspeisen; weil sie mit Kind und Kegel eine Fahrradtour machen; weil sie vor den geschlossenen Türen eines Supermarkts stehen und sich fragen, in was für einem komischen Land sie leben.

Ich bin gegen jede weitere Liberalisierung des Sonntagsschutzes, weil dieser zeitlicher Marker für unsere Gesellschaft wichtig ist. Das Leben aller wird rhythmisiert, geprägt von dieser erzwungenen Ruhe eines Großteils des Geschäftslebens. Der Sonntag sorgt für Gesprächsstoff, sortiert den Terminkalender breiter Gesellschaftsschichten. Er hat Befürworter und Gegner und (fast) nur Profiteure. Wer sich hier mehr Freiheiten wünscht, der wünscht sich gleichzeitig auch den sozialen, zeitlichen Zusammenhalt weg. Dessen muss man sich im Klaren sein.

Fußball

Ich bin kein Freund der lauten Kommerzmaschine Fußball. Sie generiert Unsummen an Geld, Unsummen an Korruption, Unsummen an Kosten. Sie füllt unsere Züge und Bahnhöfe regelmäßig mit einer Horde alkoholisierter Männer (und gelegentlich Frauen) und hält die Polizeibeamten davon ab, wichtigeren Aufgaben nachzugehen bzw. ihr Wochenende zu genießen.

Dennoch möchte ich auch nicht den Fußball abschaffen. Der Fußball taucht in seiner nationalen Form jedes Wochenende neu auf; in seiner internationalen Form alle zwei oder vier Jahre. Samstags 15:30 Uhr hängen viele an den Radios, schauen Fern oder gehen ins Stadion. Leider hat die Streckung der Spieltage von Freitag bis Montag dazu geführt, dass auch hier der zeitliche Zusammenhalt, das wiederkehrende Ritual geschwächt wurde. Fußball generiert Freunde und Fanatiker; er schafft aber auch Feinde. Er ist trotz allem, der am meisten verbreitete Sport. Auch jenseits der Sportplätze und Stadien wird auf den Straßen und auf den Bolzplätzen gekickt. Kaum ist ein Ball vorhanden, flippen Väter und Söhne aus; und immer mehr auch die Töchter. Das Phänomen Fußball zeigt ganz deutlich, dass der Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht von Dingen bestimmt wird, die alle vereinen, sondern von Dingen, die alle – ob sie es wollen oder nicht – berühren. Auch wer den Fußball nicht ausstehen kann, wird zugeben müssen, dass er für unser Selbstverständnis wichtig ist.

Erinnerung an Auschwitz

Einen gesellschaftlichen Zusammenhalt schafft auf ganze andere Weise auch die ständige Erinnerung an das größte deutsche Versagen, für das der Name Auschwitz steht. In Teilen der Gesellschaft sorgt diese immer wieder stattfindende Vergegenwärtigung des Scheiterns zwischen 1933 und 1945 für Unmut. Man möchte das Positive, das Würdige, das Glorreiche der Geschichte betont wissen in der Erinnerung. Da kann man dann aber lange suchen; oder welches Ereignis der deutschen Geistes- und Realgeschichte ist frei von Zwiespältigkeiten, Anrüchigkeiten, Schmerz?!

Dabei schweißt nichts mehr zusammen, als das kollektive Leid: das Leid, das man selbst erlebt, aber auch das Leid, das man anderen zufügt. Aus beiden versucht man Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist eine solche Zeit des geteilten und des zugefügten Leids. Ich möchte sogar die Aussage wagen, dass ohne das Wissen um diese doppelt- und gegenläufige deutsche Leidensgeschichte ein Verstehen und eine Teilhabe an der deutschen Gesellschaft kaum möglich ist. Dabei geht es in Bezug auf das, für was Auschwitz steht, um mehr als um ein beliebiges Sich-Verhalten zu einem geschichtlichen Datum. Es geht um einen erinnerungspolitischen Dauerdiskurs, ohne den man Deutschland nicht verstehen kann. Gerade die Erinnerung an Auschwitz hält die Gesellschaft zusammen. Wer dies nicht wahrhaben möchte, dessen identitätspolitisches Haus ist auf Sand gebaut.

Schule

Wiederum auf einer ganz anderen Ebene steht die Schule als institutioneller Motor des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wenn es gut geht – oft genug ist das nicht Fall – dann treffen in Schulen Kinder und Erwachsene (als Lehrer_innen und Eltern) ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus zusammen. Sie kommen nicht nur zusammen, sondern sie arbeiten auch gemeinsam an dem komplizierten und hoch politisierten Projekt der Bildung von Kindern. Bildungspolitik trifft hier auf Schulhof, hehre Ideen vermengen sich mit der unübersichtlichen Wirklichkeit von Familien- und Unterrichtsalltag.

In Deutschland besteht Schulpflicht. Zurecht. Denn die Schule bringt zusammen, was sonst kaum miteinander zusammengebracht wird. Schule bewirkt Inklusion und Integration schon bevor man sie mit jedweden Programmen und Projekten überzieht. Schule bildet, ja, zum Beispiel über den Nationalsozialismus. Aber Schule schweißt auch zusammen, schafft Beziehungen, sorgt für geteilten Frust und Gesprächsstoff unter Nachbarn, Bekannten und Unbekannten. Schule ist in diesem Sinne eine „Lebensform“ (Christian Polke), da öffentliche Institution, private Lebenswelt, Rituale und Rhythmen sich miteinander zu einem Gespräch verdichten, der Gesellschaft und Individuum prägt. Und solche prägenden Gesprächsstoffe halten unsere Gesellschaft zusammen.

Wir sind alle Zeitgenossen! Zu einer Rede von Jürgen Kaube.

In seiner Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Börne-Preises stellt der Mitherausgeber der FAZ Jürgen Kaube einige Überlegungen zum Zusammenspiel von Journalismus und Philosophie an bzw. zum Rollenunterschied zwischen dem Journalisten und dem Philosophen. Seine Vergleichspersonen sind der Namensgeber des ihm verliehenen Preises Ludwig Börne (1786-1837) und der Philosoph G.W.F. Hegel.

Ich möchte die Rede an dieser Stelle weder wiedergeben noch Schritt für Schritt analysieren. Vielmehr möchte ich einen Punkt unterstreichen, der sich aus meiner Sicht durch Kaubes Rede durchzieht. Es handelt sich dabei um die eigentlich banale Erkenntnis, dass wir alle Zeitgenossen sind. Sowohl Börne als auch Hegel, sowohl Kaube als auch Conrad: Alle sind wir Zeitgenossen.

Das Wort „Zeitgenosse“ sei im 16. Jahrhundert entstanden, aber erst seit dem 18. Jahrhundert geläufig wird auf Wikipedia ohne Hinweis auf Quellen geschrieben. Ich gebrauche das Wort in dem Sinne, dass im Denken, Reden, Handeln eines Zeitgenossen für die Nachwelt die Signatur einer Epoche ablesbar ist. Börne und Hegel ringen mit den politischen und ideologischen Verwerfungen der Französischen Revolution; Kaube und Conrad mit den Ausbrüchen und Folgewirkungen eines ideengeschichtlich zwiespältigen 20. Jahrhunderts.

Jeder Schreiber und Denker hat seine je eigenen, persönlichen Motivationen über dieses nachzudenken oder jenes kundzutun. Bei den Genossen einer jeweiligen Zeit bzw. Epoche lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten finden: ähnliche Zweifel und Hoffnungen, ähnliche Referenzen und Hintergründe, ähnliche Bildungsbiografien und Stile. Wo eine Epoche endet und eine neue beginnt liegt dabei im Auge des Betrachters.

In Anlehnung an Hegel beschreibt Jürgen Kaube den Zeitgenossen wie folgt: „Die Gegenwart kann nur begreifen, wer sie weder flieht noch ihr ausgeliefert ist. Wer seine eigene Zeit verstehen will, darf nicht in ihren Tageskampf verstrickt sein, aber er muss ihn kennen.“ Ich würde hier korrigierend ergänzen: Ein Zeitgenossen muss bei aller lebensweltlichen Verstrickung stets dazu in der Lage sein, seine eigene Zeit aus einer inneren Distanz heraus beobachten und bewerten zu können.

Kaube konstatiert für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine „zeitdiagnostische Unruhe“, die sich in zahllosen, aufeinanderfolgenden Gesellschaftsbeschreibungen niederschlage: Wissen-, Risiko-, Postindustrielle, Arbeits-, digitale, Informationsgesellschaft usw. Zeitgenossen sind also in doppelter Hinsicht Zeitgenossen: Sie durchleben alle die selbe Zeit und machen in ihr ihre persönlichen, aber durchaus auch vergleichbaren Erfahrungen. Und Zeitgenossen beobachten ihre Zeit auch auf ähnliche Weise, ihre Weltsichten und Begriffe – Kaube spricht den Begriff der Begriffe explizit an – sind Ausdruck ein und derselben Epoche. Das heißt: Auch ein Beobachter bleibt gerade in der Art und Weise, wie er beobachtet, ein Zeitgenosse.

Wir sind alle Zeitgenossen. Nimmt man diesen Satz ernst, dann landet man nicht unweigerlich in der dogmatischen Beliebigkeit oder der begrifflichen Kontingenz. Wer sich bewusst als Zeitgenosse versteht, der bekennt von sich selbst: Ich gehöre dazu. Ich kann mich dessen rühmen, was uns allen im Hier und Jetzt gelingt. Ich werde auch schuldig, wenn zu meiner Lebzeit Unrecht und Unheil über die Menschheit kommen. Ich lasse mich vom Licht und von der Dunkelheit meiner Zeit kontaminieren. Und wenn ich damit beginne, aus der inneren Distanz heraus über meine Zeit zu urteilen, dann komme ich von dieser doch nicht los.

Es gibt für uns Menschen keinen Standpunkt außerhalb der Geschichte. Wir sind alle Zeitgenossen.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Was bedeutet es, wenn von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gesprochen wird? Die klassische Antwort lautet folgendermaßen:

„Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. (…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.“

Auf diese Weise charakterisiert Ernst Bloch in „Erbschaft dieser Zeit“ (1973: 104) die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch ist die Rede von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eine Erklärungshilfe für die Entstehung des Faschismus. Für andere stellt es überhaupt eine Erfahrungssignatur der neuzeitlichen Gesellschaft dar. So zum Beispiel für den Historiker Rudolf Schlögl. Dieser schreibt über europäische Gesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

„Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von tiefgreifender gesellschaftlicher Modernisierung und traditionalen sozialen Formen und Argumentationsmustern war Kennzeichnen einer Transformationsgesellschaft, die ihre Gestalt und ihre Modernität erst noch auf den Begriff bringen musste.“ (Alter Glaube und moderne Welt, 2013: 158)

Bei der Rede von Ungleichzeitigkeit geht es nicht um einen quantitativen Abhub der Vergangenheit in der Gegenwart, nicht um bloße ‚Restposten‘, sondern um ein wirkmächtiges Ermöglichungsreservoir traditioneller gesellschaftlicher Kräfte in einer anderweitig modern anmutenden Welt. Idealtypisch formuliert: Tradition und Moderne schieben sich ineinander, gleichsam wie zwei tektonische Platten bzw. „Zeitschichten“ (R. Koselleck). Die Ungleichzeitigkeit ist auf diese Weise ein spannungsreicher sozialer Widerspruch, da mit ihr „gegensätzliche Elemente [einer Gesellschaft, B.C.] in einem wesentlichen Zusammenhang stehen, Momente einer Einheit bilden, deren Identität und Bestand an diese Einheit von Gegensätzen gebunden ist.“ (Beat Ditschy 1988: Gebrochene Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt/Main, 166).

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist sowohl ein Gegenüberstehen von Kräften zeitlich differenten Ursprungs als auch eine Gemeinsamkeit von Strukturen und Interaktionen mit unterschiedlicher innerer Logik, Dynamik und Zeitlichkeit. Die Dinge stehen sich eben nicht nur gegenüber, sie bilden aber auch kein harmonisches Miteinander. Die Ungleichzeitigkeit ist damit eine qualitative Verformung des gesellschaftlichen Jetzt durch soziale Prozess mit unterschiedlicher Zeitlichkeit.

Ebenfalls ist festzuhalten, dass es sich bei der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht um ein normatives bzw. hierarchisches Über- und Unterordnen von Zivilisation und Wildnis, von guter Moderne und schlechter Tradition handelt. Ungleichzeitigkeiten sind wert- jedoch nicht geschichtsentleerte Verkettungen von ‚schon‘, ‚noch nicht‘ und ‚immer noch‘. Dabei können durchaus die den Prozess der Ungleichzeitigkeit anstoßenden Ursachen mit den eintretenden Folgen zeitlich gleichziehen, so dass Ursache und Wirkung im gleichen geschichtlichen Prozess nebeneinander herlaufen, sich gegenseitig immer wieder neu bedingen und befruchten.

Mit Ungleichzeitigkeit ist nicht ein starrer, gesellschaftlicher Zustand zu einem beliebigen Zeitpunkt gemeint. Gemeint ist vielmehr das Entstehen des stets neu hervorbrechenden Ungleichzeitigen selbst, quasi der Prozess der Ungleichzeitigkeit, wie er sich seit dem Beginn der Neuzeit in der Gesellschaft je neu herauskristallisiert. Widersprüche sind nicht festgelegt und statisch, sondern, einmal angestoßen von dynamischer, fortschreitender, mitunter sprengender Kraft. Reinhart Koselleck kommentiert dies folgendermaßen:

„Im Horizont dieses Fortschreitens wird die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Grunderfahrung aller Geschichte – ein Axiom, das im 19. Jahrhundert durch soziale und politische Veränderungen angereichert wurde, die den Satz in die Alltagserfahrung einholten“ (Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 2000, 325).

 

Dieser Text lehnt sich an Ausführungen an, die ich zu einem früheren Zeitpunkt veröffentlicht habe, vgl. „Zur Ungleichzeitigkeit in der Weltgesellschaft„.

Empfehlenswert ist auch die Lektüre des Textes von Falko Schmieder aus dem Jahr 2017: „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zur Kritik und Aktualität einer Denkfigur“ (in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, Jg. 4, Nr. 1-2, S. 325-363).