Es gibt auf der Welt viele Dinge, viele Menschen, viele Lebewesen, viele Erscheinungen, viele Erfahrungen, viele Ereignisse. Von allem ist genug Vielfalt vorhanden. Es grenzt fast an Banalität, diese Tatsache ins Gedächtnis zu rufen.
Diese Vielfalt ist nicht nur eine Vielfalt in quantitativem Sinne. Sie ist auch eine Vielfalt in qualitativer Hinsicht. Die vielen Dinge, Menschen, Lebewesen, … sind nämlich auch voneinander verschieden. Der eine Stein unterscheidet sich von einem anderen Stein; ein Mulch ist etwas anderes wie eine Giraffe; der eine Mensch hat Schuhgröße 37, bei dem anderen sind es 41. Es gibt Laub- und Nadelbäume. Es gibt als Vieles und dieses Viele ist auch noch Verschieden. Noch so eine Banalität.
Ebenso banal ist die Feststellung, dass diese vielen Verschiedenen untereinander in vielerlei Beziehungsverhältnissen stehen. All die Dinge, Menschen, Lebewesen, … stehen nicht einfach nebeneinander herum in der Welt, sondern sind Teil eines komplexen Gewebes von Relationen. Das eine Tier jagt das andere Tier; der Mensch erntet den Weizen; meine Traurigkeit weckt in einer anderen Person das Mitleid; der Sturm an der Nordsee verändert die Küstenlinie; der Baum, der im Wald fällt, reißt eine Lücke und gibt anderen Pflanzen Licht; usw.
Würde jemand widersprechen, wenn ich behaupte, diese Vielfalt ist nicht nur faktisch vorhanden, sondern sie ist auch notwendigerweise vorhanden? Mit notwendig meine ich jetzt nicht sogleich eine Notwendigkeit im Sinne einer höheren Vorsehung. Das könnte ein zweiter Schritt der Reflexion sein. Vielmehr meine ich Notwendigkeit so: Die Vielfalt ist vorhanden, weil ohne die Vielfalt, nichts vorhanden wäre. Vielfalt ist notwendig für das Dasein der Dinge, Menschen, Lebewesen, … . Leben und Existenz, wie wir es kennen, gibt es nur dort, wo Vielfalt ist.
Thomas von Aquin kommt in seiner „Summe gegen die Heiden“ genau auf einen solchen Gedanken. Die „Unterschiedenheit der Dinge“ (distinctio rerum) ist, so Thomas, kein Zufall (Summa contra gentiles, II, 39). Die Vielfalt ist notwendig. In Thomas Logik ist es so: Alle Schöpfung versucht seinem Schöpfer – Gott – nachzuahmen. Da die einzelnen endlichen Schöpfungen dem unendlichen Schöpfer in keiner Weise aus sich heraus ähnlich sein können, benötigt es eine quantitative und qualitative Vielfalt der einzelnen endlichen Schöpfungen. Die fast unendliche Vielfalt der in sich endlichen Schöpfungen ahmt die Fülle des unendlichen Schöpfers nach. Thomas schreibt: „Unterschiedenheit in den geschaffenen Dingen gibt es also deshalb, damit sie auf vollkommenere Weise Ähnlichkeit mit Gott erlangen: durch mehreres und nicht nur durch ein einziges.“ (ebd., II, 45). Vielfalt ist also ein Ausdruck von Gottähnlichkeit.
Nur in der Vielfalt, also, übersteigt das Einzelnen die eigenen Grenzen und bewegt sich gemeinsam mit Vielen auf eine Ähnlichkeit Gottes zu. Überrascht es da, dass Hannah Arendt ihre hohe Sicht der Politik als der Möglichkeit der handelnden Neuschöpfung mit der Pluralität der menschlichen Gesellschaft begründet? Zu Beginn ihres Fragments „Was ist Politik?“ schreibt Arendt: „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“ Und: „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.“ (in: Hannah Arendt 2007: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, 3. Auflage, München: Piper: 9). Nur dort, wo Menschen verschiedene Interessen und Neigungen, Ziele und Wege kennen, ist es notwendig, auf dem Weg der kollektiven Entscheidung, diese verschiedenen Interessen und Neigungen, Ziele und Wege aufeinander abzustimmen. Politik zu treiben setzt Vielfalt des Verschiedenen voraus.
Das eine ist also das faktische Argument: Es gibt die Verschiedenheit der Dinge in der Welt und ohne diese Verschiedenheit gäbe es diese Welt nicht. Verschiedenheit ist also faktisch notwendig. Das andere ist das normative Argument: Diese Verschiedenheit der Dinge ist richtig und wichtig und Grundlage eines so wichtigen menschlichen Handlungsmusters wie des politischen Handelns. Denn aus dem kreativen Umgang mit der Verschiedenheit der Dinge, aus dem Handeln wächst Neues hervor (vgl. Hannah Arendt 2006: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 4. Auflage, München: Piper, 226f.). Und das Neue ist der Anfang noch größerer Vielfalt und damit, aus Thomas Warte betrachtet, noch größerer Gottähnlichkeit.
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