Ludwig Wittgenstein und die „bestimmten Umstände“ des Sinns

Ich lese gerade Ludwig Wittgenstein „Über Gewißheit“ (Frankfurt 1970, hier zitiert nach der 15. Auflage 2020). Wittgenstein geht es in diesem Buch um die Frage, inwiefern man berechtigterweise davon ausgehen kann, dass man etwas mit Gewissheit wisse und behaupte.

Ich bin kein Wittgenstein-Experte und werde daher nur auf ein Detail eingehen, das mir bei der Lektüre aufgefallen ist. Nämlich:

Wittgenstein sagt, dass Sätze bzw. Äußerungen – in seiner Terminologie „Sprachspiele“ – nur „unter bestimmten Umständen“ Sinn machen. Sätze und Äußerungen sind also nicht grundsätzlich wahr und richtig. Sie sind wahr und richtig – d.h. „gewiss“ – nur in bestimmten Kontexten und Situationen. Ich zitiere Wittgenstein:

Die Laut-oder Schriftzeichen ‚2 x 2 = 4‘ könnten im Chinesischen eine andere Bedeutung haben oder aufgelegter Unsinn sein, woraus man sieht: nur im Gebrauch hat der Satz Sinn. Und ‚Ich weiß, daß hier ein Kranker liegt‘, in der unpassenden Situation gebraucht, erscheint nur darum nicht als Unsinn, vielmehr als Selbstverständlichkeit, weil man sich verhältnismäßig leicht eine für ihn passende Situation vorstellen kann und weil man man meint, die Worte ‚Ich weiß, daß …‘ seien überall am Platz, wo es keinen Zweifel gibt (also auch dort, wo der Ausdruck des Zweifels unverständlich wäre). (§10)

Es überrascht vielleicht, dass Wittgenstein sogar die mathematische Gleichung einklammert und das „Gewiss-über-deren-Richtigkeit-Sein“ nur in bestimmten Situationen gelten lassen möchte. Das macht aber gerade die Tiefe seines Zweifels aus; dieser Zweifel ist nicht mit einem beständigen Anzweifeln jeder Gewissheit, die Kommunikation ermöglicht, zu verwechseln. Vielmehr scheint es ein Zweifel zu sein, welcher vor einer vorschnellen Gewissheit und (Selbst-)Sicherheit in der Kommunikation schützen möchte; eben auch der Kommunikation einer mathematischen Gleichung.

Es gilt: Unsere Sätze machen nur „unter bestimmten Umständen“ (§622) oder gar „unter sehr besondern Umständen Sinn“ (§413). Auch scheinbar unauffällige Tatschenbehauptungen können keine universale und ewige Gültigkeit beanspruchen. Ein Satz wie „Das ist ein hölzerner Tisch“ macht in einem Möbelhaus und auf der Tischsuche ungleich mehr Sinn als im Verlauf eines Gesprächs im Rahmen eines  geselligen Abendessen, wo er sehr deplaziert wirken kann. Wir können uns bei unseren Sätzen bzw. Sprachspielen also nicht darauf zurückziehen, dass wir evtl. eine faktische Wahrheit ausgesprochen haben („Das ist ein hölzerner Tisch.“); unsere Sätze und Sprachspiele müssen sich auch unter den Umständen und in den Situationen, in denen sie verwendet werden, bewähren.

Im O-Ton Wittgensteins:

Wie ich aber den Satz außerhalb seines Zusammenhangs sage, so erscheint er in einem falschen Licht. (§554)

Satz und Kontext, Sprachspiel und Situation gehören immer zusammen. Nur wenn dieses Zusammenspiel bedacht ist, können Sätze und Sprachspiele so etwas wie Gewissheit beanspruchen; nur dann sind sie sinnvoll.

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Was sind politische Grundbegriffe? Versuch einer sehr kurzen Definition.

Politische Grundbegriffe sind Begriffe der politisch-sozialen Sprache, die …

quantitativ häufig über einen längeren Zeitraum genutzt werden. Grundbegriffe überleben also Epochenwandel. Sie mögen zwar zeitweise in den Hintergrund treten, können aber unter veränderten politisch-sozialen Umständen wieder einen diskursiven Konjunkturaufschwung erleben.

qualitativ mit Verve vorgebracht werden. Grundbegriffe sind also sog. Kampfbegriffe. Sie haben das Potential mit politischen Interessen verbunden gezielt eingesetzt zu werden: zur Sammlung verbündeter Stimmen und zur Abwehr anderer Meinungen.

qualitativ offen sind für neue Deutungen. Grundbegriffe sind alles andere als eindeutig, sondern sind Grund und Anlass für beständige Diskussionen um mögliche Begriffsgrenzen, Umdeutungen und semantische Verschiebungen. Sie können praktische, theoretische, normative Dimensionen umfassen.

Zur Einführung ins Thema ist (immer noch) lesenswert:

Reinhart Koselleck 1972 , Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, XIII-XXVII.

Erneuerung & Kerngeschäft: Über pastorale Floskeln

Wer aufmerksam das Leben der Kirche begleitet, stellt fest, dass die kirchliche Kommunikation von vielen sprachlichen, pastoralen Floskeln begleitet wird. Hiervon war an dieser Stelle schon einmal die Rede. Bei einer pastoralen Floskel handelt es sich um einen rhetorischen Allgemeinplatz kirchlicher Sprache, der sich beim näheren Hinsehen als semantisch unbestimmt, wenn nicht sogar als leer erweist.

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn in der Kirche davon die Rede ist, man möchte mit Personen außerhalb der Kirche – diese werden oft mit dem Kollektivsingular „Welt“ beschrieben – im Gespräch bleiben. Was heißt das genau? Ist damit gemeint, dass der Pfarrer mit der Bürgermeisterin abends sich in Kneipe zum Plausch trifft? Oder ist damit gemeint, dass viele innovative, kreative und möglichst junge Geister mit der Kirchengemeinde oder einer anderen kirchlichen Einrichtung viele innovative, kreative und möglichst jugendlich anmutende Projekte umsetzen? Wohl scheint die Rede vom „im Gespräch bleiben“ die positiv gewandete Formel für die Einsicht zu sein, dass man irgendwie den Anschluss an viele Milieus und Kommunikationsräume verloren hat. Oder meint ihn verloren zu haben, weil man das eigene Kirchenvolk nicht mehr kennt. Im Gespräch bleiben möchte man, da man den Eindruck hat, dass Kirche – soziologisch nicht unrichtig – mit anderen gesellschaftlichen Kommunikationsräumen oder „Blasen“ kaum noch Gemeinsamkeiten hat. Ein Desiderat wird damit ausgewiesen, von dem man aber auch keine richtige Ahnung hat, wie man es konkret aufarbeiten soll.

Die Formel, man möchte die Menschen mit der Botschaft der Kirche – oft als „Evangelium“ bezeichnet – in Berührung bringen wird immer wieder gern genutzt, wenn einem das „im Gespräch bleiben“ irgendwie als zu wenig ambitioniert erscheint. Es geht hier dann nicht um einen ergebnisoffenen Dialog zwischen zwei oder mehreren Personen , sondern um das Ansinnen des kirchlichen Personals, die vermeintlich andere Seite von der guten Qualität des eigenen Produkts zu überzeugen. Das hier eigentlich übliche Vokabular einer dezidierten „Mission“ wird aber gescheut, weil man – dem Beutelsbacher Konsens folgend – von einem Überwältigungsverbot ausgeht. Das ist ja auch gar nicht verkehrt, wenn denn auch wirklich jedes offensive missionarische Anliegen ausgeschlossen werden könnte. Das ist aber nicht Fall, ja, kann in der Kirche überhaupt nicht der Fall sein, wenn man den Missionsbefehl aus Mk. 16 noch Ernst nimmt. Wer über das Evangelium spricht, wünscht sich, dass dieses Evangelium Menschen überzeugt und zum expliziten Glauben führt. So ausdrücken will man es aber wiederum auch nicht, deshalb formuliert man es eher unbestimmt und metaphorisch mit in Berührung bringen. Der Kontakthypothese folgend, hofft man dann insgeheim, dass die Berührung die Fremdheit der Botschaft gegenüber abbaut.

Hier wähnt man sich dann auch nahe an dem, was oft das Kerngeschäft der Kirche genannt wird. Die Metapher vom Kerngeschäft lege nahe, dass es Tätigkeitsbereiche gibt, die eher dem Auftrag der Kirche entsprechen als andere Bereiche. Die Katholikin sieht vor ihrem inneren Auge dann vielleicht einen Altar, und der Protestant wird einer Kanzel gewahr. Um Altar und/oder Kanzel sammeln sich die Aufgabenfelder der Kirche in konzentrischen Kreisen; es gibt ein Näherdran und ein Weiterweg. Doch wer den ernsthaften Versuch startet die wichtigen von den weniger wichtigen kirchlichen Aufgabenfelder theologisch sauber voneinander zu trennen, der wird feststellen: Das ist gar nicht so einfach. Es gibt Elemente des Kircheseins, die unverzichtbar sind, im katholischen Kommunikationsraum spricht man dann von den Grundvollzügen martyria, leiturgia, diakonia. Doch können diese theologischen Begrifflichkeiten dafür genutzt werden, ganz praktisch bestimmte Tätigkeitsfelder aus dem kirchlichen Spektrum auszuschließen? Die Kirche ist eben kein Konzern, der nach belieben dazukaufen kann oder abstoßen kann. Wer Kirche auf ein Kerngeschäft reduzieren möchte – aus theologischer Überzeugung, aus finanzieller Not – der reduziert dadurch nicht nur die Vielfalt des Kircheseins. Reduziert wird auch – langfristig viel gewichtiger – der vielfältige Zeugnischarakter der Botschaft als solcher.

Wenn die Reduzierung auf ein vermeindliches Kerngeschäft absehbar wird, greift man in der Kirche gerne zum Begriff der Erneuerung. Das Wort drückt die Hoffnung aus, dass so etwas wie ein Ausbruch aus der zunehmenden Isolation möglich ist. Man wünscht sich frömmere Menschen, die mehr beten, mehr über den Glauben reden, mehr gute Taten tun, überhaupt bessere Christinnen und Christen sein. Das Wort der Erneuerung reicht den Veränderungsdruck von der Institution Kirche an die einzelnen Kirchenmitglieder weiter. Die Institution sagt zum Einzelnen, die Struktur zum Individuum: Verändere du dich, ich mag es nicht tun. Dabei ist jedem klar, dass der rhetorische Rückgriff auf die Erneuerung immer auch den Charakter eines Ablenkungsmanövers hat. Nicht, dass man die Erneuerung sich nicht wirklich wünschte; meist ist der Druck zur Veränderung und zum konkreten materiellen Opfer aber schon so groß, dass von frei gewählter Erneuerung im eigentlichen Sinne einer Umkehr von Struktur und Individuum keine Rede mehr sein kann. Erneuerung bewirkt dann das Gegenteil von dem, was erhofft wurde.

Zum Abschluss eine Bitte:

Benutzt weniger Ausdrücke, von denen Ihr nicht wisst, was sie genau bedeuten. Sprecht möglichst konkret, von dem was ist und sein soll. Durchdenkt Eure Metaphern, bevor Ihr sie aussprecht.

 

Das dritte Gedicht. Zur Metaphysik der Übersetzung.

Vor zwanzig Jahren begann ich, zu Weihnachten ein Gedicht zu schreiben und als Gruß zu verschicken. Statt Karten sozusagen. Die Zeit von Mitte November bis Mitte Dezember war ich mit dem Schreiben beschäftigt. Anschließend gin-gen die Briefe an Freunde und Familie. Dieser Rhythmus wiederholte sich Jahr für Jahr, stets mit einem neuen Gedicht.

Das Studium brachte mich um die Jahrtausendwende nach Schottland und in die Vereinigten Staaten. Zurück kam ich mit den Namen einiger neuer, englisch-sprachiger Bekannter in meinem Adressbuch. Der Verteiler für meinen Weihnachtsversand wurde damit internationaler. Das brachte die Notwendigkeit mit sich, den Versand des jährlichen Gedichts in sprachlicher Hinsicht barrierefrei zu gestalten. Ich begann also, meine Verse zu übersetzen. Auf der linken Seite des Blatts stand das deutsche Original, rechts eine englische Übersetzung. Diese Übersetzung war zu Beginn mehr als hemdsärmelig. Irgendwann fand sich eine kompetente Übersetzerin, die sich den englischen Text durchsah und die gröbsten Fehler beseitigte.

(…)

Es handelt sich hier um den Beginn eines Textes, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Geist und Leben. Zeitschrift für christliche Spiritualität“ (2/2020) erschienen ist. Hier geht es zur Ausgabe.

Wer Interesse am ganzen Text hat, melde sich bei mir bitte per Email.

Siehe auch den älteren Beitrag Die Welt zwischen den Sprachen.

Wie Metaphern Wirklichkeiten schaffen.

Metaphern sind sprachliche Werkzeuge. Und als solche schaffen Metaphern Wirklichkeiten. Metaphern sind aber nicht nur leblose Instrumente in der Hand von Sprachnutzerinnen und -nutzern. Sie sind auch nicht bloße Ideen. Metaphern besitzen vielmehr eine kreative Kraft, deren Unkontrollierbarkeit regelmäßig mit Misstrauen begegnet wird. Hans Blumenberg schreibt über Metaphern zugespitzt:

„(…) daß die mit einer Idee (…) verbundenen Metapher, gerade weil sie sich von der Bestimmtheit einer theoretisch anmutenden Behauptung zurückhält, einen hohen Grad von Anmaßung, von vorgegebener Einsicht, von Hochstapelei enthält.“

(in: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt/M.:Suhrkamp, 2007, 63).

Man könnte Metaphern also durchaus als post-faktisch bezeichnen. Sie dehnen das sprachliche Reservoir über das Tatsächliche ins Bildliche oder Gefühlige hinaus und provozieren damit auch eine bestimmte Sicht der Dinge. Metaphern bzw. die sie nutzenden Redner_innen geben sich auf jeden Fall große Mühe eine bestimmte Weltsicht in den Köpfen der Hörer_innen festzuschreiben. Neudeutsch nennt man diesen Prozess „framing“ – Rahmung. Das meint dann auch Donald A. Schön, wenn er schreibt:

„‚Metaphor‘ refers both to a certain kind of product – a perspective or frame, a way of looking at things – and to a certain kind of process – a process by which new perspectives on the world come into existence.“

(in: Generative metaphor: A perspective on problem-setting in social policy; in: Andrew Ortony (Hrsg.): Metaphor and Thought, 2. Auflage, Cambridge: CUP, 1993, 137.

Metaphern haben also sowohl eine befreiende als auch eine einschränkende Kraft. Sie können neue Einsichten ermöglichen und frei machen von überkommenen Vorstellungen. Metaphern können aber auch Einsichten und Weltsichten kanalisieren, durch Rahmung determinieren, einschränken.

In einer der Mai-Ausgaben der London Review of Books findet sich hierzu passendes Anschauungsmaterial (vgl. Jg. 40, Nr. 9 vom 10. Mai 2018). Ein Artikel von William Davies unter dem Titel „Weaponising Paperwork“ behandelt die Auswirkungen einer rhetorischen Aufrüstung der innenpolitischen Debatte zur Migration in Großbritannien. Diese ist durch die Strategie gekennzeichnet, für Migranten eine sog. „hostile environment“ zu schaffen. Migranten, vor allem jene ohne Papiere, sollen durch diese feindliche Atmosphäre von Amtswegen vermittelt bekommen, dass sie nicht erwünscht sind.

Schon der Ausdruck „hostile environment“ hat metaphorische Qualitäten. Die Wirklichkeit, welche Migranten in Großbritannien erleben sollen, soll möglichst unwirtlich sein. Sie sollen erfahren, dass sie in Feindesland sind. Davies greift in seinem Titel nun zu einer weiteren Metapher – „weaponising“ – welche die implizite und mitunter auch explizite Gewaltdimension einer solchen Haltung noch einmal unterstreichen soll. Er treibt die Metaphorik der Feindlichkeit auf die Spitze und drückt damit polemisch aus, was – aus seiner Sicht – als letzte Konsequenz dieser innenpolitischen Rhetorik zu verstehen ist: die Bewaffnung des Bürokratenstaates gegen unbotmäßige Ausländerinnen und Ausländer.

In der gleichen Ausgabe findet sich auch ein Artikel in der Rubrik „Diary“ von Stefan Collini. Collini knöpft sich eine weitere seltsam verlaufende innenpolitische Debatte in Großbritannien vor, jene zum Sinn und Zweck von Universitäten. Collini zeigt, was passieren kann, wenn man auf eine Bildungseinrichtung wie der Universität das metaphorische Arsenal des marktwirtschaftlichen Denkens loslässt. Tut man dies und nutzt Begriffe wie zum Beispiel Wettbewerb („competing for talent in a global market“) und Konsumenten („students are to be treated as consumers“) zur normativ gemeinten Wesensbeschreibung von Universitäten, dann wird sich dieses Wesen auch in Richtung dieser Beschreibung entwickeln. Aus (keineswegs perfekten) Bildungsinstitutionen mit gesellschaftlichem Auftrag werden – so die Kritik Collinis – Schritt für Schritt profitmaximierende Unternehmen, die ideell um sich selbst kreisen. Die Metaphern generieren ihre eigene Wirklichkeit.

Nicht zu unrecht spricht Hans Blumenberg auch davon, dass „die Metapher zugleich unentbehrlich und suspekt“ ist (Theorie der Unbegrifflichkeit 90). Unentbehrlich, da sie das Verstehen erweitert und neue Welten sprachlich erschließen helfen kann. Suspekt, da diese kreative Kraft der Metapher sehr häufig dazu genutzt wird, um das Gegenteil von Schöpfung zu erreichen: Die neuen Welten können dann plötzlich sehr klein und beengt daher kommen.

Die Geltung des Naturrechts aus der Kommunikation. Zu einem Gedanken von Jochen Bung.

Das Naturrecht ist nicht tot. Davon bin ich immer mehr überzeugt. Ein Aufsatz von Jochen Bung, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, unter dem Titel „Naturrecht, Völkerrecht, Weltrecht. Der Code des Hugo Grotius“ (Archiv für Völkerrecht, Bd. 55, 125-147, 2017) bestärkt mich noch einmal in dem Vorhaben, weiter für den Gedanken des Naturrechts als eine die menschlichen Absprachen und Handlungen transzendierende Norm zu werben.

Bung stellt richtig fest, dass viele „Gerüchte über das Naturrecht in die Welt gekommen sind“ (127). Diese Gerüchte haben nicht zuletzt etwas mit einem arg zementierten und zum Teil kasuistischen Naturrechtsverständnis zu tun, wie es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch von katholischen Vertretern propagiert wurde. Doch Bungs Arbeit macht implizit darauf aufmerksam, dass ein krummer Blick auf das Naturrecht noch lange nicht alle möglichen Blicke illegitim macht.

Bung setzt dann auch gar nicht bei einer offenbarten göttlichen Norm oder bei einem unmissverständlichen Wertekanon als der Quelle des Naturrechts an. Gleichzeitig stellt er – fast im Sinne des vinzenzinischen Kanons – klar: „Naturrecht kann nur sein, was zu allen Zeiten an allen Orten dieser Welt als richtig und verbindlich einleuchtet“ (127). Der Gedanke des Naturrechts beruht damit auf der heutzutage durchaus wagemutigen Einsicht in das „universell Richtige“ (ebd.). Ein wohltuend optimistischer Universalismus wird hier offenbar.

Naturrecht ist also das Recht, das überall auf der Welt und – nach unserem heutigen Dafürhalten – auch durch alle Zeiten hindurch von einer großen Mehrheit der Menschen intuitiv für richtig gehalten wird. Das Naturrecht gleicht damit einer Art „Weltrecht“ (128), das sich von dem ausformulierten Völkerrecht sowohl unterscheidet als auch mit ihm in Verbindung steht. Doch wenn nicht eine göttliche Offenbarung oder die höhere Vernunft Quellen des Naturrechts sind, wo ist diese Quelle dann zu suchen? Bung formuliert diese Frage wie folgt: „Gibt es eine proto-kontraktuale Kraft, die die Geltung der Verträge – das Vertragsrecht – sichert, bevor sich außervertragliche, dafür eigens autorisierte Instanzen mit der Sicherung der Verträge befassen?“ (129)

Anders formuliert: Warum halten wir eine klassisch naturrechtliche Formulierung wie „pacta sunt servanda“ unmittelbar für einsichtig? Um den ersten Einwand gleich aus der Welt zu räumen, schreibt Bung: „Wichtig ist nur zu erkennen, dass die Bedeutung  des natürlichen Rechts sich nicht im Nutzen erschöpft“ (131). Wir halten unsere Verträge (in der Regel) also nicht nur, weil wir uns von deren Einhaltung einen persönlichen Vorteil versprechen. Wir halten die Verträge auch ein, weil eine höhere Norm zu tragen kommt. Bung identifiziert die Quelle dieser Norm in einer kommunikativen Metaebene.

Diese „sprachphilosophische Fundierung des Naturrechts“ (130) kommt – so Bung im Anschluss an Grotius – zum Beispiel im Versprechen zu tragen. Das Versprechen  (ebd. 132ff.) lässt – anders als der Vertrag – keine einem Dritten gegenüber einklagbare, sanktionierbare Verbindlichkeit entstehen. Trotz diesem Mangel enthält jedes Versprechen das unhintergehbare Versprechen seiner Einlösung. Indem ich meinem Gesprächspartner gegenüber ein Versprechen äußere, verpflichte ich mich auch ganz ohne staatliches Recht dazu, alles Mögliche zu tun, um dieses Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn ich das nicht tue oder das Versprechen gar bewusst breche oder leichtfertig äußere, mache ich mich sozusagen sprachlich schuldigt. Die Sprache bzw. der Sprechakt generiert also meta-kommunikative „Bindungskräfte“ (131), die freilich durch die Kommunikation selbst in die Welt gebracht werden. Bung formuliert in aller Vorsicht: „Diese Bindungskräfte belegen womöglich die Realität eines natürlichen Rechts, ohne dass dafür unvermittelt auf Gott oder Vernunft zugegriffen werden müsste“ (131).

Bung verbindet mit diesem auf die Kraft der Sprechakte verweisende Vorstellung des Naturrechts die Hoffnung, einen „modernen Begriff des Naturrechts (zu) begründen“ (134).  Mit diesem modernen Begriff lassen sich dann durchaus auch konkrete Aussagen zu aktuellen Fragen formulieren, wie es Bung im weiteren Verlauf seines Textes unter Verweis auf Themen wie Widerstandsrecht, Souveränität und Migration tut.

Bung formuliert letztlich ein mögliches Argument, auf dessen Basis man aus guten säkularen Gründen von der Wirkmächtigkeit eines Naturrechts sprechen kann; gleichzeitig beansprucht Bung aber nicht, sämtliche Facetten eines modernen Naturrechtsbegriffs im Blick zu haben. Gerade aber der Blick auf die unterschiedlichen möglichen Begründungsmuster lassen es für mich immer wahrscheinlicher erscheinen, dass an dem Gedanken des Naturrechts etwas dran ist.

 

Der „Rand der Gesellschaft“: über eine problematische Metapher kirchlicher Sprache.

Die Rede vom Rand der Gesellschaft ist in der Kirche derzeit sehr beliebt. Papst Franziskus hat mit seiner Aufforderung, die Kirche möge an die Ränder gehen bzw. die Randgebiete der Gesellschaft erreichen (u.a. Evangelii Gaudium, § 46) für eine Flut von Referaten, Bekundigungen, Selbstverpflichtungen gesorgt: Wir als Kirche wollen/sollen an die Ränder gehen. Nur: Wer vom Rand der Gesellschaft spricht, der wähnt sich selbst im Zentrum. Wenn ich von mir sage, dass ich (nun endlich mal) an die  Ränder gehen möchte, dann sage ich gleichzeitig aus, dass ich (irgendwie ganz selbstverständlich) im Zentrum angesiedelt bin.

Aus der entwicklungspolitischen Diskussion kennt man die Begriffe Zentrum und Peripherie und reflektiert sie kritisch als das, was sie eben sind: Metaphern für unterschiedliche, räumlich wahrgenommene Machtverteilung. Was in der metaphorischen Sprache Zentrum heißt, meint ganz konkret: Hier ist das Geld, hier ist das Wissen, hier sind die Ressourcen, hier werden kollektiv bindende Entscheidungen getroffen. Und Rand heißt folglich: kaum Geld, kaum geballtes Wissen, wenig Ressourcen und nur schwach vorgebrachte Interessen.

Wer an die Ränder gehen will, der sagt wenig über das aus, was er an den Rändern machen möchte. Er sagt aber viel darüber aus, wie es sich anfühlt im mutmaßlichen Zentrum beheimatet zu sein, wie Behaglichkeit sich dort mit Schuldgefühlen paart. Es sagt viel darüber aus, wie man Gesellschaft denkt und räumlich entwirft. Und da unterscheidet sich die Kirche offenbar wenig vom Rest der Gesellschaft.

Dabei ist die Intention, den Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen, urchristlich. Christlich müsste im Bezug auf die Schwachen aber eher vom Zentrum und Herz gesprochen werden und nicht vom Rand und der Peripherie. Denn ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass Jesus Christus zu seiner Zeit etwas gegen Menschen hatte, die sich im Zentrum von Gesellschaft und Religionsgemeinschaft wähnten: Reiche, Mächtige, Wissende. Ihm lagen andere näher am Herzen. Auch deshalb hat er sich am Karfreitag an den Rand einer Stadt aufgemacht; einem Rand, dem die Gesellschaft den gar nicht metaphorischen Namen „Schädelstätte“ gegeben hatte.