Verzichtet! Über ein liberales Fasten.

Wir werden in einigen Tagen Ostern feiern. Doch man muss es leider sagen: Das Ende der Fastenzeit ist noch lange nicht in Sicht. In der Tat: Eine wahrlich „Große Fastenzeit“ steht uns bevor. Vor uns liegen (mindestens) 40 Jahre des Verzichts.

40 Jahre Verzicht. Was für die vielen religiösen Fastenzeiten gilt, das gilt auch für die vor uns liegende Große Fastenzeit: Wir können sie bewusst angehen. Wir können sie gestalten und, das beste daraus machen, uns durch sie vorbereiten auf einen nächsten, evolutiven Schritt, quasi eine Auferstehung von den Toten. Oder wir ignorieren alle Zeichen der Zeit, die Warnungen und die Worte der Prophetie. Wir stellen uns taub, und machen so weiter wie bisher. Dann kommt der Verzicht als radikaler Zwang, wie ein Dieb in der Nacht, schneidet uns Stück für Stück das Fleisch von den Rippen, das Leben aus dem Herz, den Zusammenhalt aus der Gemeinschaft.

Ja, es geht um den Klimawandel und unsere Haltung dazu. Es geht aber um noch mehr. Russlands Krieg gegen die Ukraine und das Verhalten der aggressiv Mächtigen weltweit zeigt uns (einmal mehr), was eine wahre Große Fastenzeit ebenfalls von uns erfordert: den vollkommenen Verzicht auf Machtgier und Geltungssucht. Ja, die Große Fastenzeit erfordert das, was wir in der religiösen Sprache das Opfer nennen oder – so würde sich der Dominikaner und Mystiker Johannes Tauler ausdrücken – die „Vernichtung“, die Zunichtemachung der eigenen Ansprüche. Der Mensch muss sich innerlich ganz neu erfinden. Oder sind wir die Raubtiere, ohne Fähigkeit der Selbstreflexion und Selbstkontrolle, als die sich einige unter uns derzeit benehmen? Um diese Selbstreflexion, Selbstkontrolle und Selbstzurücknahme geht es. Es geht um die Rückgewinnung der Freiheit, uns selbst im Lichte der Wahrheit zu erkennen, uns zu sehen sub specie aeternitatis.

Das ist der eine große Verzicht, der unbedingt 40 Jahre lang nötig ist: der Verzicht des Menschen auf die eigene Überheblichkeit, was die Frage der politischen Macht anbelangt und was die Frage der natürlichen Umwelt anbelangt. Beide Fragen gehören unbedingt miteinander verbunden; sind zwei Seiten der einen anthropologischen Medaille: Können wir Menschen das Bild von uns selbst so verändern, dass dieses Bild nicht mehr unweigerlich in einen gesellschaftlichen und natürlichen Raubbau führt? Können wir Nachhaltigkeit leben, wie es Udo Di Fabio kürzlich angeregt hat (FAZ vom 21. März 2022, S. 7), mit Blick auf unseren Umgang mit Macht und mit Blick auf die (Um-)Welt, deren Teil wir sind? Ich schaue mich um und hege große Zweifel.

Verzicht ist liberal!

Es wird immer wieder behauptet, man möge den Menschen nicht den Verzicht predigen, das sei nicht populär. Technologische Innovation sei nötig, damit der (westliche) Mensch seinen Lebensstil nicht ändern müsse. Daran glaube ich inzwischen nicht mehr. Technische Innovation ist nötig, der Verzicht ist noch viel nötiger. Der Verzicht auf unsinnigen Energieverbrauch, der Verzicht auf Höchstgeschwindigkeit, der Verzicht auf Just-in-time, der Verzicht auf billiges Fleisch, der Verzicht auf übervolle Kleiderschränke, der Verzicht auf Flugreisen, der Verzicht der Reichen darauf, jeden Wunsch befriedigen zu müssen, der Verzicht darauf, den Liberalismus rein mit Blick auf die wirtschaftlichen, individuellen Möglichkeiten in der Jetztzeit auszulegen, der Verzicht auf unser inzwischen tief verankertes Verständnis der Welt als unseren Privatbesitz. Liberalismus, das ist ein Kollektivgeschäft der Freiheit, das aus der Vergangenheit lernt, in der Jetztzeit gelebt wird, für die Zukunft sorgt.

Wer nicht verzichtet, ist nicht liberal. Denn unsere Ablehnung von Verzicht heute, schränkt die Möglichkeiten der Menschen und aller anderen Geschöpfe morgen in einem Maße ein, dass im Morgen nicht mehr von Liberalismus gesprochen werden kann. Der uneingeschränkte Liberalismus heute, untergräbt die Zukunft des Liberalismus morgen. Darum Alle, die Ihr Eure vermeindlichen Freiheiten liebt: Verzichtet darauf, die Freiheit nach Lust und Laune auszuleben. Reduziert Euren Ressourcenverbrauch drastisch. Ändert Euren räuberischen Lebensstil. Kehrt um. Damit auch in Zukunft die Menschen sich noch liberal nennen, Freiheiten genießen und leben können.

Die Große, Liberale Fastenzeit erfordert menschliche Selbstbeschränkung. Russlands Krieg gegen die Ukraine macht einmal mehr deutlich, was uns blüht, wenn Macht nicht beschränkt wird und Menschen und Netzwerke ihre Machtgelüste hemmungslos und blind ausleben können. Das Gebot heißt also: Verzichtet. Und das ist nicht nur ein Gebot an den Einzelnen. Das ist ein Gebot an unsere Gesellschaft, an Politik, Wirtschaft, Religionsgemeinschaften usw., an die Strukturen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. All das muss von der Selbstzurücknahme, vom Verzicht, ja, von Demut geprägt sein.

Wer dazu nicht in der Lage ist, spielt der Machtlust der Mächtigen, der Gier der Gierigen, der Selbstsucht der Egoisten in die Hände. Selbstgewählter, bewusster Verzicht ist der Kitt einer liberalen Gesellschaft. Mehr davon braucht es, nie weniger. Um der Freiheit willen. Um der Menschen willen. Um der Welt und der Zukunft willen.

(Amen.)

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Dezentrierung als Praxis der Selbstreflexion

„Dezentrierung“ – das sage ich immer wieder – ist kein schönes, eingängiges Wort. Ich gebrauche es hier in der Übersetzung des englischen „decentring“; auch dieses ist wahrhaftig kein Wort der englischen Alltagssprache. Es kommt unter anderem in den Werken von Rowan Williams, dem Dominikaner Herbert McCabe und dem Philosophen Terry Eagleton vor.

Ich habe hier schon verschiedene Bedeutungsebenen von „Dezentrierung“ beschrieben, unter anderem auch jene der Selbstreflexion. Damit meine ich, dass Dezentrierung einen Menschen innerlich in Bewegung setzt in Richtung eines Nachdenkens über sich selbst. Der Mensch denkt bewusst über sich und sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt nach und erfährt sich dabei als ein Selbst, das sich seines unverrückbaren Selbstseins nicht mehr ganz sicher sein kann. Diese Verunsicherung wird nachfolgend zu einem wichtigen Baustein des persönlichen Selbstbildes.

Bei dem Philosophen Peter Bieri finde ich hier nun eine interessante Erweiterung. Bieri schreibt in seinem Büchlein „Wie wollen wir leben?“ (München 2013):

„Es ist nichts mysteriös an diesem erkennenden und bewertenden Abstand, den wir zu uns selbst aufbauen können. Er bedeutet keine heimliche Verdoppelung der Person. Er besteht einfach in der Fähigkeit, Gedanken, Emotionen und Wünsche zweiter Ordnung zu entwickeln, die sich auf diejenigen erster Ordnung richten.“ (13)

Ich lege mir diese Passage von Bieri wie folgt aus: Die Gedanken zweiter Ordnung werten die Gedanken der ersten Ordnung und ordnen sie ein. Ein Beispiel: Mein erster Impuls sagt mir in einem Gespräch, dass ich mich jetzt durchsetzen muss; eine fast gleichzeitig einsetzende Selbstkritik lässt mich erkennen, dass dieser Impuls zur Durchsetzung meinem eigenen, unreflektierten Machtstreben entspringt. Ob dieses Streben auf die Dauer gesund sein wird, müssen die Gedanken erster und zweiter Ordnung im Folgenden unter sich verhandeln.

Die Dezentrierung, Selbstreflexion, Gedanken zweiter Ordnung greifen also korrigierend in meine geistigen Vorgänge und tatsächlichen Handlungen ein. Sie gleichen einer – ich sagte es eben – fortlaufenden Selbstkritik.

Nun ist bekannt, dass sich solch eine Selbstkritik auch totlaufen kann. Ich habe dann nicht nur Gedanken erster und zweiter Ordnung; das Nachdenken über mich selbst nimmt kein Ende mehr. Sören Kierkegaard würde diesen mentalen Vorgang, der sich theoretisch ins Unendliche steigern kann, vielleicht „Verzweiflung“ nennen. Wir kennen hierfür auch das Wort „skrupolös“. Das heißt: Ich komme einfach nicht mehr zu einem Urteil oder zu einer Handlung, weil ich mir mit der Kritik meiner Selbst dauernd selbst im Wege stehe.

So notwendig die Dezentrierung auch ist für ein ausgewogenes Selbstbild, sie muss in geordneten Bahnen verlaufen. So kann ich mir vorstellen, dass ich noch von Gedanken dritter Ordnung spreche. Die erste Ordnung bezieht sich auf die unmittelbaren, unreflektierten Regungen. Die zweite Ordnung bezieht die Selbstkritik und die Reflexion mit ein. Die Gedanken dritter Ordnung wiederum kontrollieren, ob die Gedanken der ersten und zweiten Ordnung in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Sie sorgen für ein geordnetes Verfahren der Selbstkritik und damit auch für die persönliche seelische Gesundheit.

Damit sollte es aber an kognitiven Ordnungsmodellen und -ebenen genug sein. Diese sind so oder so nur begriffliche Prototypen für schwer in Sprache zu fassende mentale Gedankenwelten.

Rowan Williams on „Decentring“

This post is jointly published by Rotsinn and Political Theology.

Sometimes it makes sense to concentrate on a single concept in order to understand the contribution of an individual to the history of ideas. This may mean artificially reducing the complexity of a person’s thought and vision. It may, however, be helpful in finding a hermeneutic ‘entry door’ into those thoughts and visions.

I have come to the (preliminary) conclusion that “Decentring” is such a key concept in the writing of Rowan Williams. “Decentring” features in Williams’ work both on questions of individual spirituality and matters of collective well-being. In Williams’ approach the individual and collective dimensions are not to be viewed separately but together. Individual choices bear upon the order of state and society and collective decisions provide the framework for the welfare of individuals and their ‘pursuit of happiness’.

Benjamin Myers’ thought-provoking book on the theology of Rowan Williams “Christ the Stranger” (London 2012) lists in its subject index one term which is very close to “decentring”: dispossession. Myers, however, makes also use of additional terms within the same semantic field which do not feature in his index: dislocation, displacement, off balance, dethroned and occasionally decentring. All in all, these terms appear on every other page in Myers account. The reason for this accumulation seems to be that Myers hermeuntic entry door into the thought of Williams is the theological trope of “kenosis” – meaning the self-dispossession of the ‘pattern-man’ Jesus Christ as exemplified in St. Paul’s letter to the Philippians ch. 2: Christ “emptied himself, taking the form of a slave, being born in human likeness. And being found in human form, he humbled himself and became obedient to the point of death – even death on the cross.”

“Decentring” may be identified as a derivative concept of kenosis. Where does it feature in Rowan Williams’ work? Some examples:

In “Silence and Honey Cakes” (Oxford 2003) Williams identifies one lesson of his reading of the Desert Fathers in the early Church as being the following: “To find my own life is a task I cannot undertake without the neighbour; life itself is what I find in solidarity, and not only in a sense of togetherness (…) but in that willingness to put ‘on hold’ the perspective I want to own and cling to and possess” (32). Two insights are contained within these few lines: Firstly, spirituality is never a lonely matter. It has to do with how I approach my neighbour. Secondly, including my neighbour in my own quest for a spiritual identity means that I must be prepared to be pushed out of the centre of the universe. I don’t find my own spiritual identity merely by looking into myself. I find it through my relationships with other people and, ultimately, with God. My view on that what is real and true shifts away from me as I appreciate that which is important to other people. I am being decentred.

The very same insight is included in one of the early works of Rowan Williams, “The Wound of Knowledge”, a history of ideas within the field of Christian spirituality (first published in London 1979; I refer to the 2002 reprint of the second edition from 1990). Towards the end of the book, in his treatment of the thought of St. John of the Cross, Williams comes to the following conclusion: “To be absorbed in the sheer otherness of any created order or beauty is to open the door to God, because it involves that basic displacement of the dominating ego without which there can be no spiritual growth” (180). The pillars on which my personal and spiritual identity rest have their foundation outside my own territory. Or better: only if I allow myself to be founded outside myself, will I be able to grow in faith and love.

Williams is convinced that I need to be made a stranger to myself, at least for a moment, in order to find my proper place within a community and before God. If I always insist that things are done my way, I will not be able to find a way out of a deadlocked situation or a political crisis. The political dimension of such a “decentring” is dealt with particularly in “The Truce of God” (first published London 1983; 2nd edition from 2005) and finally in the “Faith in the Public Square” (2012).

In “The Truce of God” it is clearly shown that collective well-being and individual spirituality are inseparable. This leads Williams to the following statement about contemplation, usually regarded as a very isolated activity: “Contemplation for men and women is looking and listening and being moulded by what is other” (40), the other being other men and women and, ultimately, God. Contemplation therefore is not a purely personal business. For Williams it has a political dimension (cf. Vita contemplative vs. Vita activa). Contemplation reminds me of my own limitations and liberates me from prejudices about other people and set presumptions about how order and stability have to be organised. For Williams, then, being decentred means “being part of an interdependent order” (95). It marries with the conviction of the “non-centrality of my ego” (103). This allows me to really engage with the needs and desires of other people. Widespread decentring in individuals furthers solidarity within a community as individuals learn to take responsibility for others and the whole of a community.

Finally, in his latest publication “Faith in the Public Square” (London 2012), Williams deepens his conviction in the importance of decentring for the well-being of all. He reminds his readers that theological insights must always be combined with a critical momentum. They are anything but staatstragend, stabilising the established order. Theology unsettles and so does orthodoxy: “Orthodoxy goes in tandem with the injunction to the dispossession of all self-centred perspectives, and the language of theology and worship is supposed to enact that dispossession” (19f.). Benjamin Myers echoes this thought when he concludes that “orthodoxy is messy” (Christ the Stranger, 48). Williams attributes to the Christian faith the capability to think twice, to review otherwise set beliefs within a secular society. In “Faith in the Public Square” he calls it the “double vision” (66) which enables the faithful to look beyond the apparent and learn something about the other, the impossible possibility (Karl Barth) of the kingdom of God. At the heart of faith, thus, lies the potential for an energetic spiritual force culminating in “radical social change” (3).

Whether the ultimate source of Williams’ concept of decentring is the thought of the Desert Fathers, the philosophy of Hegel, French post-structuralism, psychology or some other discipline, I am not quite sure. Taking in account that “Decentring” features in most of his books (including some which I have not referred to in this article), it can certainly be called a key concept in Williams’ thought. It allows him to develop a critical vision of the political and economical status-quo of today’s world, a critical vision which is deeply rooted in the prophetical and kenotical tradition of the Bible and the Early Church.

At least one question remains: how much decentring is possible without completely loosing sight of one’s own foundation? In „Faith in the Public Square“ Williams mentions the necessity for a „debate about foundations“ (20). Are we, however, only to debate about foundations or do we actually seek to be grounded in them? Decentring is not an end in itself but a means of growing in spiritual and civic maturity. It helps us to develop deeper roots in faith and neighbourly love.

Burkhard Conrad is a political scientist and Lay Dominican based near Hamburg  in Germany. His research interests include the history of political and theological ideas.  He is the author of the blog Rotsinn.

Rowan Williams‘ öffentlicher Glaube I – Die Verantwortung des Bürgers

Mitte September wird Rowan Williams neuestes Buch erscheinen, ein Aufsatzband unter dem Titel „Faith in the Public Square“. Somit ergibt sich die Gelegenheit, das politische Denken des Theologen und Erzbischofs näher in den Blick zu nehmen.

Zum Beispiel seine Vorstellungen von dem, was den Bürger eines demokratischen Gemeinwesens ausmacht. Hinweise hierzu finden sich in einem Vortrag aus dem Jahr 2011 unter dem Titel: „Relations between the Church and state today: what is the role of the Christian citizen?„, den Rowan Williams vor Mitgliedern der Universität Manchester hielt.

Dem Bürger, so Williams, kommt gerade in einer Zeit der Austerität und der politischen Mängelverwaltung zentrale Bedeutung zu. Denn der einzelne Bürger entscheidet mit seinem Handeln oder dessen Unterlassen darüber, ob in der Gesellschaft politische Tugenden zum Zug kommen oder nicht. Unter politische Tugenden fallen bei Williams unter anderem Gegenseitigkeit, Selbstreflexion, Verantwortungsgefühl („this kind of adult, mutual, self-aware, responsible, and thoughtful virtue“, ebd.). Dabei ist es durchaus legitim, diese Tugenden als in ihrem Ursprung religiöse Tugenden zu beschreiben. Wie kommt Williams zu dieser Schlußfolgerung?

Der einzelne Bürger ist für Williams mehr als eine „Gelegenheitspolitiker“, wie es Max Weber einmal ausdrückte. Denn nicht nur der Wahlakt oder ein parteipolitisches Engagement machen den Bürger zum politischen Wesen. Er wird schon dort politisch, wo er die genannten politischen Tugenden einübt und ausübt. Denn für Williams sind Privates und Öffentlichkeit – für diesen spezifischen Fall – entgrenzt. Ein Ort, in dem Tugend auf fundamentale Art und Weise eingeübt werden ist sicherlich die Familie. Williams nennt aber noch einen weiteren Ort: die Kirche.

Dabei denkt Williams nicht zuerst an die Kirche als eine weltliche Institution mit ihren Hierarchien und Amtswegen. Diese sind oftmals ähnlich vermachtet wie die entsprechenden Hierarchien und Amtswege in der Politik. Williams denkt vielmehr an das Grundanliegen des christlichen Evangeliums, das mit klassischen geistlichen Tugenden umschrieben werden kann: Nächstenliebe, Selbstzurücknahme, gemeinsame Wahrheitssuche, Zuhören. Dieses Grundanliegen ist – da ist sich Williams sicher – in der Kirche an vielen Stellen unmittelbar gegenwärtig, lokal und global. In diesem Sinne ist die Kirche ein Ort, in dem politische Tugenden erlernt werden können: „The Church is a ‚political seminar‘, because it loves and worships a God who transforms human society not just human individuals“ (ebd.). Und vielmehr noch: Die Kirche ist ein Ort bzw. ein Kommunikationsgeflecht, von wo aus politische Tugenden in den engeren Bereich der Politik (als kollektive Entscheidungsfindung) überlaufen können.

Williams ist nicht naiv und sich über die Gefahren im Klaren, die in diesem Zusammenhang lauern. Denn es ist schnell geschehen, daß Kirche und die in ihr sozialisierten Bürger eine reine Interessenspolitik verfolgen. Williams geht also von einer ideal gedachten Kirchen-Kommunität aus. Und das heißt: Von einer Kirche, die ihrem ursprünglichen, biblischen Anspruch treu bleibt.

Das mag für Menschen fremd klingen, die nicht ohne weiteres mit christlich-theologischen Begriffen und Metaphern umgehen wollen. Deshalb versucht Williams auch eine Übersetzung im Sinne Habermas‘: Dies tut er, indem er aufzeigt, daß die christliche Botschaft „Sinnressourcen“ bereithält, die nicht nur für den Einzelnen und dessen existentielle Sinnsuche, sondern auch für das Gemeinwesen von Belang sind. Eben: Nächstenliebe, Selbstzurücknahme, gemeinsame Wahrheitssuche, Zuhören.

Bürger ist also, wer diese Tugenden eingeübt hat und sie nun in seinem Handeln aktiv Wirklichkeit werden läßt. Bürger ist aber auch der, der in den passiven Genuß dieser Tugenden kommt. Und für Williams steht außer Zweifel, daß kein Gesetz und keine prozedural korrekte Mehrheitsentscheidung dazu führen darf, daß einzelne Menschen oder gar eine ganze Gruppe von Menschen geziehlt vom Empfang dieser Tugenden ausgeschlossen werden. Zu diesem Thema hat Rowan Williams sich in jüngerer Vergangenheit in einem weiteren Vortrag geäußert.

(Fortsetzung folgt.)

Lernen mit Jürgen Habermas und Rowan Williams

Jürgen Habermas und Rowan Williams haben nicht viel gemeinsam. Das zeigt sich unter anderem daran, daß der eine – Habermas – die „radical orthodoxy“ scharf kritisiert (in: J. Habermas 2005: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp, 153). Der andere – Williams – schreibt für prominente Sammelbände zu diesem Thema anerkennende Vorworte (in: D. Creston/ J. Milbank/ S. Zizek (Hrsg.) 2005: Theology and the political: the new debate, Durham: Duke UP, 1ff.).

Dennoch gibt es auch Überschneidungen zwischen dem Philosophen und dem Erzbischof. Eine solche Überschneidung liegt darin, daß beide den Teilnehmern eines öffentlichen Diskurses Opfer abverlangen. So spricht Habermas von „komplementären Lernprozessen“, die religiösen und säkularen Bürgern eines Gemeinwesens im gemeinsamen, nach Verständnis strebenden Gespräch aufgetragen werden (Naturalismus und Religion: 146). Auch spricht er von einer „Zumutung“ und von einer „Bürde“, welche die Repräsentanten der beiden Gruppierungen als Staatsbürger auszuhalten hätten, wenn sie Argumente des jeweils Anderen in Betracht ziehen möchten (144f.). Weder die einen noch die anderen können – so Habermas – einfach auf ihrer Meinung beharren. Wenn in einer pluralistischen Gesellschaft eine Verständigung zwischen den verschiedenen Gruppen möglich sein soll, dann ist es notwendig, daß die Bürger die Dinge mit den Augen des Anderen zu lernen beginnen.

Rowan Williams liegt da so fern nicht. In einer Ansprache von 2010 („Faith and Enlightenment: Friends or Foes?“ Annual Isaiah Berlin Lecture 2010) fordert er die Heranbildung bestimmter politischer Charaktereigenschaften ein. Williams schreibt: „It is (…) to assume a shared willingness to bracket out any fantasies of what would maximally fulfil my wishes as an individual and to allow those to be overridden by the vision of a possible common good equally owned by myself and my neighbour.“ Explizit spricht Williams von einem „sacrifice“, von einem Opfer, das unabdingbar sei, wenn das pluralistische Gemeinwesen überleben möchte.

In verschiedenen Sprachen drücken Habermas und Williams Ähnliches aus: Das öffentliche Leben setzt in seinem Gelingen auf die Lernbereitschaft der Bürger. Diese Lernbereitschaft beinhaltet die fortdauernde Relativierung der eigenen Vorstellungen und Wünsche; indem ich diese in Beziehung setze mit den Vorstellungen und Wünschen Anderer.

Um diese empatische und wechselseitige Lernbereitschaft zu beschreiben, greift Williams zu der biblischen Metapher des „Bundes“. Gehe ich recht in der Annahme, daß hier die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Denkern aufhören oder hätte Habermas dafür eine geeignete „Übersetzung“ parat?