In seinem Buch „Von den Anfängen des Predigerordens“ aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts legt Jordan von Sachsen Zeugnis ab von der Art und Weise, wie der hl. Dominikus gegenüber seinen Zeitgenossen von der Wahrheit sprach.
Jordan berichtet unter anderem von einer Begebenheit, bei der Dominikus den Legaten des Papstes begegnete. Diese waren auf dem Weg zu den „irrgläubigen Albigensern“ im Süden Frankreichs. Diesen wollten sie den „Glauben predigen“, wie sich Jordan ausdrückt (vgl. Meister Jordan: Das Buch von den Anfängen des Predigerordens, übertragen von Mechthild Dominika Kunst, Kevelaer, 1949, 22). Dazu waren sie mit einem ganzen Troß und viel höfischem Gepränge ausgezogen. Dominikus war von dieser Art der Mitteilung des Evangeliums (d.h. in diesem Fall: der Wahrheit) nicht überzeugt. Zu den Legaten sagte er: „Nicht so, Brüder, nicht so dürft ihr meiner Meinung nach vorgehen. Es scheint mir unmöglich, durch bloße Worte diese Menschen zum Glauben zurückzuführen, die sich lieber auf gute Beispiele stützen.“ (ebd.) Gleich den häretischen Predigern müssten die Prediger des wahren Glaubens vielmehr in aller Einfachheit und Bescheidenheit den Menschen begegnen. Wer großspurig auftritt, der erbaut nicht, sondern zerstört nur, so legt es Jordan von Sachsen dem Dominikus sinngemäß in den Mund. Folglich machen sich die Legaten, wie Dominikus und seine Ordensbrüder, zu Fuß, ohne Geld, in freiwilliger Armut auf den Weg zu den Albigensern (22f.). Von Dominikus lernten sie: Es kommt nicht nur auf den Inhalt der Wahrheit an, sondern auch auf die Art und Weise, wie diese Wahrheit vermittelt wird.
Etwas mehr als 600 Jahre später stellt sich Sören Kierkegaard eine ähnliche Frage wie Dominikus. Seine „Philosophischen Brosamen“ aus dem Jahre 1844 läßt Kierkegaard mit dem Satz beginnen: „Inwiefern kann die Wahrheit gelehrt und gelernt werden?“ (Sören Kierkegaard 1976: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest, München, 17). Nun schlägt Kierkegaard seinen Lesern nicht vor, sie mögen auf Hofstaat und Pferde verzichten, wenn sie zu predigen anfingen. Auf seine Weise kommt der Däne aber zu einer ähnlichen Schlußfolgerung wie Dominikus: Die Verkündigung der Wahrheit benötigt eine indirekte Mitteilung.
Was ist eine indirekte Mitteilung?
Ein erstes Kennzeichen der indirekten Mitteilung ist, daß sie nicht primär die Mitteilung eines Inhaltes ist, sondern die Offenbarung einer Person. Der Gegenstand des Glaubens, so Kierkegaard an einer Stelle, sei nicht eine Lehre, sondern ein Lehrer (ebd. 75). Es kommt also nicht so sehr auf den Inhalt der Mitteilung von Glaubenswahrheiten an, sondern auf die Art und Weise dieser Mitteilung. (Ein Inhalt muß selbstverständlich vorhanden sein, sonst entfällt auch die Art und Weise.) Wer von der Wahrheit spricht, der tut dies nicht in abstrakter Weise. Er bringt nicht nur Inhalte ins Spiel, sondern auch sich selbst als Übermittlungsperson des Inhaltes. Der Inhalt der Wahrheit wird also stets über die persönliche – indirekte – Bande gespielt. Wenn Wahrheitsanspruch und Art und Weise der Wahrheitsvermittlung in den Augen des Betrachters auseinanderfallen, wird die Wahrheit nicht geglaubt werden. Wenn hingegen ein dubioser Wahrheitsanspruch sich paart mit Authenzität der Vermittlung (wie es aus der Sicht des Dominikus bei den Albigenser der Fall war), dann gelangt das Dubiose in den Rang einer Wahrheit.
Von daher besteht ein zweites Kennzeichnen der indirekten Mitteilung darin, dass der Mitteilende nicht von sich selbst als dem Träger der Wahrheit spricht, sondern in der Mitteilung ganz von sich absieht. Kierkegaard nennt dies das „Paradox“ oder das „Ärgernis“ (61). Die indirekte Mitteilung eignet sich also nicht für Wahl- und Machtkampf, denn sie besteht gerade in der Umkehr jeder Machtlogik. Wahrheit teilt sich mit, so ist Kierkegaard zu verstehen, nicht durch laut bellende Befehle und überwältigende, alle Zweifel wegwischenden Visionen. Vielmehr: „Der Gott hat sich von der Stunde an, da er durch den allmächtigen Beschluß seiner allmächtigen Liebe Knecht wurde, sozusagen selbst in seinem Beschluß gefangen und muß nun dabei bleiben, (um töricht zu sagen) ob er will oder nicht“ (68). Nicht nur persönlich muß die indirekte Mitteilung also sein, sie ist auch inverser Natur. Wahrheit kleidet sich schlicht. Theologen werden in solch einem Satz sogleich christologische Anleihen feststellen.
In Abwandlung eines weiteren Zitats von S. Kierkegaard aus den „Philosophischen Brosamen“ könnte man sagen: Die Wahrheit, die triumphiert, ist das Lächerlichste von allem (im Orginal: „Der Glaube, der triumphiert ist das Lächerlichste von allem“ 127). Wer die Form der indirekten Mitteilung wählt, hat diese kommunikative Eigenschaft verstanden. Die direkte – platte – Rede überredet, aber überzeugt nicht. Die indirekte Rede vermag zu überzeugen, hat aber nicht das Zeug zur Überredungskunst.
Beim Philosophen aus dem 19. Jahrhundert finden sich theoretische Reflexionen zu der konkreten Vorgehensweise des Ordensgründers aus dem 13. Jahrhundert in Sachen Wahrheitsverkündigung. Aus den aus machtpolitischen Gesichtspunkten abstrus erscheinenden Figuren Knecht, Ärgernis und Paradox speist sich die Überzeugungskraft der indirekten Mitteilung. Sie stellt das derzeitige Wahlkampgetöse auf den inversen Kopf und sagt: Versuche nicht mit Inhalten zu überzeugen, sei erst einmal ein überzeugender Mensch!
Gefällt mir:
Like Wird geladen …