Wer macht Demokratie? Eine Buchnotiz.

Wer macht Demokratie? Klingt erst einmal seltsam, die Frage. Doch sie ist ernst gemeint. Mehr dazu weiter unten.

Die Demokratie ist in der Politikwissenschaft ein zentraler Forschungsgegenstand. Das gilt gerade für eine bundesdeutsche Politikwissenschaft, die sich über lange Zeit hinweg auch als Demokratiewissenschaft verstanden hat. Demokratie ist auch ein zentraler Gegenstand und die Erziehung in eine demokratische Haltung hinein Grundanliegen der politischen Bildung, welche in einer so verstandenen Politikwissenschaft ihre Wurzeln hat.

In diesem Sinne ist das Buch von Samuel Salzborn „Demokratie. Theorien – Formen – Entwicklungen“ (Baden-Baden: Nomos, 2. Auflage 2021, 22,- €) eine klassische politikwissenschaftliche Einführung in die Wissenschaft von der Demokratie mit dem Ziel eine neue Generation von Politikstudentinnen und -studenten den Gegenstand ihres Studiums näher zu bringen: rational und emotional, analytisch und normativ.

Salzborn stellt im ersten, ideengeschichtlichen Teil seines Buches (15-73) das politische Denken über die Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart vor: Die griechischen Denker kommen vor; ein kurzer Schlenk über das Mittelalter und die frühe Neuzeit führt in das 19. und frühe 20. Jahrhundert; dort werden nicht nur die Denker der Demokratie aufgeführt, sondern auch ihre konservativen bzw. reaktionären Gegner; weiter geht es mit den demokratietheoretischen Beiträgen nach 1945 bis hin ins 21. Jahrhundert. Bei solch einem ideengeschichtlichen Überblick kann man als Autor wenig falsch machen. Salzborn macht auch wenig falsch und stellt dem einführenden Charakter des Buchs entsprechend solides Schulwissen vor. Freilich wünscht man sich als Leserin oder Leser einer solchen Einführung eine etwas zugänglichere, jargon-freiere Sprache.

Weiter geht es im Buch mit einem längeren Abschnitt (75-102), den man in der Politikwissenschaft klassischerweise der Disziplin der Regierungslehre zuordnen würde. Wir erfahren etwas über Typen der Demokratie und über die wesentlichen politischen Akteure, das „Wer“ in der Demokratie (vgl. unten). Salzborn schreibt hier von der repräsentativen Demokratie und stellt ihr nicht – wie es evtl. nahe liegen würde – die direkte Demokratie gegenüber. Salzborns Gegenüber der repräsentativen ist vielmehr eine sog. „identitäre“, vorgeblich volksunmittelbare Demokratie (88ff.). Hier hätte sich der Rezensent mehr Schulwissen und weniger – tagespolitisch verständliche – Meinungsbildung gewünscht. 

Hier kommt bei dem engagiert schreibenden Salzborn zu tragen, dass die Politikwissenschaft (und nicht nur diese) die Demokratie zunehmend einer populistischen Delegitimierung ausgesetzt sieht. Eine Einführung in das Thema muss diesen Aspekt natürlich zur Sprache bringen; im vorliegenden Band nimmt die Angst um die Demokratie nach Geschmack des Rezensenten fast einen zu breiten Raum ein. Sie wird im letzten Teil des Buchs (103-153) sehr deutlich, in welchem Salzborn mit normativem Anspruch mögliche demokratische Entwicklungsszenarien entwirft. Diese Entwicklungslinien zeugen von der Furcht, die Demokratie könnte vor den sich stellenden Herausforderungen in die Knie gehen: Extremismus bedrängt die hiesige Demokratie vor allem von rechts; das post-faktische Internetzeitalter untergräbt den rationalen Grund der Demokratie; kulturelle „Essentialisierung“ (141) von Politik verwandelt die stets vorhandene Konfliktlinien der Gesellschaft in scharfe Diskursfronten. Als Leser stellt man fest: Salzborn sieht die Demokratie ohne Zweifel unter heftigem Beschuss. 

Zurück zur Ausgangsfrage: Wer macht eigentlich Demokratie? Wir erfahren bei Salzborn – wie auch in vielen anderen Einführungen zum Thema – viel zu den einzelnen Vordenkern dieses nie vollendeten Projekts der Demokratie. Wir erfahren aber so gut wie nichts über die einzelnen demokratischen Praktiker, welche dieses Projekt mit Leben erfüllen. Die Politikerin. Der Bürger. Solche Kategorien tauchen in dem Buch nicht auf. Wenn eine Einzelperson auftaucht, dann ist das irrtierenderweise der Diktator als der Feind der Demokratie. (Ein Nebensatz: Verblüffend oft für eine Einführung in die Demokratie taucht auch Carl Schmitt und dessen demokratietheoretisch kaum verwendbares, da existentiell aufgeladenes Freund-Feind-Schema auf.)

Die Demokratie lebt aber nicht nur von Kollektivakteuren wie Parteien und Verbänden. Demokratie lebt von vielen einzelnen Menschen, die sich im Alltagsgeschäft als Bürgerin und Politiker praktisch für das demokratische Leben des Gemeinwesens ins Getümmel werfen. Von diesen demokratischen Überzeugungstäter hätte man in dem Buch gerne etwas mehr gelesen. Für diese kann man sich auch in der Politikwissenschaft mehr Aufmerksamkeit wünschen. Vielleicht würde dann auch die nicht unberechtigte Furcht um die Demokratie durch ein Fünkchen der Hoffnung in die Gestaltungskraft demokratisch gesinnter Frauen und Männer abgefedert. 

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John Keane und die Demut der Demokratie

Was hat die Demokratie mit der Tugend bzw. Haltung der Demut zu tun?

Die Antwort des australischen politischen Denkers John Keane auf diese Frage lautet: viel, sehr viel!

In seinem Buch „Power and Humility. The Future of Monitory Democracy“ (Cambridge: CUP, 2018) geht Keane dem Zusammenhang von Demokratie und Demut in 15 zum Teil längeren Kapiteln nach. Einige dieser Kapitel haben einen regionalen Schwerpunkt – Taiwan, Antarktis – andere Kapitel beschäftigen sich mit eher systematischen Fragestellungen – Umwelt & Demokratie, Kinderrechte – wieder andere haben eher einen ideengeschichtlichen Charakter – die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft. Keane verfolgt also eine vielseitigen Ansatz, und auch sein Schreibstil ist eher essayistisch, was die Lektüre des 490 Seiten langen Bandes sehr angenehm macht.

Bei aller Pluralität der Anlage, vereint die verschiedenen Kapitel das Anliegen, das Nachdenken über die Demokratie mit dem Rückgriff auf die Demutsidee neu zu beleben. Dabei vertritt Keane mit der „monitory democracy“ einen spezifischen Demokratiebegriff. Der australische Denker diagnostiziert – dies ist Eingeweihten nicht Neues – eine gewisse innere Auszehrung der etablierten Demokratien. Diese Auszehrung scheint aber auch einher zu gehen mit einer Erlahmung im Nachdenken über die Demokratie; Keane erkennt hier eine „great normative silence“ gerade in dem Moment, da ein neues normatives politisches Nachdenken über die Zukunft der Demokratie dringend nötig wäre (440).

Dabei gibt es, so Keane, durchaus Grund zur Hoffnung. Denn jenseits unseres eingeübten Denkens und der akademischen Beobachtung lassen sich spannende demokratische Phänomene und Experimente finden: Nichtregierungsorganisationen, die den Regierungen auf die Finger schauen; Bürgerforen, die sich vor Ort in politische Entscheidungsprozesse einbringen; Ombudspersonen, die bei missbräuchlichem Verhalten von Politik und Verwaltung einschreiten können; Beauftragte für unterschiedliche Fragestellungen, die gegenüber den Verantwortlichen immer wieder den Finger in die Wunde legen und z.T. mit Sanktionsmechanism arbeiten usw. Gemeinsam mit den etablierten politischen Institutionen machen diese vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen tätigen „monitors“ das komplex verwobene Netzwerk der „monitory democracy“ aus. All diese Institutionen und Mechanismen dienen letztlich der Kontrolle und Einhegung von Macht. Keane formuliert es so:

“ [Monitory democracy is] the most power-sensitive form of self-government in the history of democracy, as the best weapon so far invented for guarding against the ‚illusions of certainty‘ and breaking up camouflaged monopolies of power, where they operate. (…) The norm of monitory democracy is aware of its own and others‘ limit, knows that is does not know everything, and understands that democracy has no meta-historical guarantees. (…) It warns against hubris, it takes a stand against the humiliation of people. (…) With the help of a plethora of power-humbling mechanisms, it supposes that amore equal world of greater openness and diversity is possible.“ (Power and Humility, 57).

Die Demokratie funktioniert also dann gut, wenn jenseits des konventionellen politischen Parteien- und Repräsentantenwettkampfes noch eine Vielzahl weiterer Akteure ins Spiel kommen, sog. „power-scrutinising mechanisms“ (105). Diese Mechanismen bzw. Institutionen tragen ihren Teil dazu bei, dass eine Machtkonzentration in den Händen Weniger verhindert werden kann. Keane spricht in diesem Zusammenhang von „the institutional humbling of power by means of checks and balances“ (204).

Die Demut in dieser Form von Demokratie ist also zweidimensional:

Zum einen versteht sich dieses Nachdenken über Demokratie an sich als demütig. Zum Ende seines Buches wendet sich Keane ausdrücklich gegen eine Rückbindung des demokratischen Denkens an „erste Prinzipien“ bzw. metaphysische Ordnungsvorstellungen. Solche eine Überhöhung des demokratischen Denkens tut der Demokratie nicht gut, so Keane, nicht zuletzt deshalb, da mittlerweile eine Reihe unterschiedlicher erster Prinzipien im Umlauf sind, die sich gegenseitig in Frage stellen und die Indifferenz gegenüber der Demokratie nur steigern (444ff.). Keane plädiert sozusagen für eine ideologische Demut des demokratischen Denkens.

Zum zweiten ist die „monitory democracy“, wie oben erwähnt, in ihrer realen Gestalt von demütigen Strukturen geprägt. Dazu gehören die klassischen Einsichten, dass Wahlperioden begrenzt sein müssen; dass Amtspersonen auch abgewählt werden können; dass es unterschiedliche Konstellationen von Mehrheit und Minderheit gibt; dass Gewaltenteilung zwischen den exekutiven, legislativen und judikativen Kräften herrscht; dass öffentlich über Missbräuche und Fehlentscheidungen berichtet werden darf; dass Verwaltungshandeln angefragt und kritisiert werden kann; … . All diese Mechanismen – die sich von der kommunalen bis zur globalen Ebene finden – tragen ihren Teil dazu bei „to humble the high and mighty“ (15). Institutionen und Strukturen fördern politische Demut.

Wer Keane aufmerksam liest, der merkt, dass der Autor aber noch weiter geht. Denn letztlich ist ihm daran gelegen, die Demut als grundlegende politische Tugend in einer Demokratie zu etablieren. Eine demokratische Tugend, die nicht zuletzt auch unser Verhältnis zur natürlichen Umwelt prägen sollte, wie er in einem spannenden Kapitel unter dem Titel „The Greening of Democracy“ (249ff.) ausführt. Diese politische Tugend der Demut umschreibt Keane folgendermaßen:

„But, all things considered, the cardinal democratic virtue is humility. Humility is a friend of democracy because it refuses to put itself and other virtues on a pedestal: to be proud of certain virtues, including one’s own or others‘ humility, is to suffer from its lack. (…) Humility is in fact the antithesis of arrogant pride; it is the quality of being aware of one’s own and other’s limits, and the responsibility of ensuring these limits are alway and everywhere observed.“ (463)

Ist hier auch etwas herauszuschlagen für eine politische Theologie der Demokratie, wie ich sie an anderer Stelle skizziert habe? Ich glaube kaum, dass John Keane überschwänglich auf diesen Gedanken reagieren würde. Letztendlich steht ja auch jede politische Theologie dem Gedanken einer ideologischen Demut skeptisch gegenüber. Man gibt ja vor, es stets besser, da theologisch zu wissen. Keane möchte die Demokratie also nicht durch eine Metaphysik der Demokratie retten, sondern durch ein Nachdenken über die praktizierte Demut von Personen und Institutionen weiter entwickeln. So sein ganz demütiger Vorschlag.

Die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ in der Hamburger Politikwissenschaft

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist eine in der Soziologie und Geschichtswissenschaften viel zitierte – und kritisierte – Denkfigur. Den einen dient die Figur als heuristische Brille für die Beobachtung der modernen Gesellschaft; die anderen kritisieren ihren Gebrauch als Ausdruck eines temporal verzerrten Weltbildes, das den kolonialistischen Blick nie richtig abgelegt hat. In der Hamburger Politikwissenschaft trifft man die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Laufe der Jahre immer wieder an, dann aber zumeist im erstgenannten Sinne: Die Denkfigur möchte den historisch informierten Blick auf die Geschichte und Gegenwart schulen, um die durchaus flüssigen, neuen und wiederkehrenden gesellschaftlichen Wirkkräfte besser beschreiben zu können. In diesem Sinne wird das Theorem, als welches man die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch bezeichnen kann, von einigen Vertretern des sog. Hamburger Ansatzes der Kriegsursachenforschung ab der Mitte der 1990er Jahren ins Spiel gebracht.

Lesen Sie hier weiter:

https://politik100x100.blogs.uni-hamburg.de/conrad-retrospektive-gleichzeitigkeit-des-ungleichzeitigen/

 

„Migration in Political Theory“ (hrsg. von Sarah Fine & Lea Ypi) – eine Besprechung

Sarah Fine (King’s College, London) und Lea Ypi (LSE, London) legen einen Band vor, der kaum aktueller sein könnte. Das Interesse an wissenschaftlicher Migrationsforschung hat im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise hierzulande sehr zugenommen. Es herrscht offenbar großer Bedarf an empirischem Wissen und normativer Orientierung über die Phänomene Flucht und Migration. Ein Blick in das kurze Vorwort des Buches macht aber klar, dass es den Herausgeberinnen nicht um einen tagesaktuellen Schnellschuss geht: Der Band versammelt nämlich eine Zahl von Beiträgen, die aus Anlass einer Tagung in Cambridge im Oktober 2011 erstellt wurden. Die doch schon erhebliche Verzögerung in der Publikation hat nun den angenehmen Nebeneffekt, dass dem Buch großes Interesse entgegen gebracht wird.

Der Untertitel des Bandes – „The Ethics of Movement and Membership“ – macht deutlich, dass es dem Band um die Darstellung verschiedener normativer Zugänge zum Thema der Migration geht. Dabei kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass unter den zwölf Autorinnen und Autoren aus Nordamerika und Großbritannien Konsens herrscht über die normative Ausrichtung. Das macht gerade den Reiz des Bandes aus: Er stellt dem Leser normative Beiträge unterschiedlicher Provenienz vor, die ausnahmslos argumentativ vertretbare, aber zum Teil gegenläufige Positionen zu Ein- und Auswanderung, Mitgliedschaft und Staatsbürgerschaft, Inklusion und Exklusion in die Debatte einbringen. Es zeigt sich mit zunehmender Lektüre, dass es mit Blick auf Migration und Flucht eben nicht nur eine mögliche normative Haltung gibt, sondern dass Alternativen wählbar sind.

(…)

Weiterlesen können Sie in der Politischen Vierteljahresschrift, Jg. 58 Nr. 3/2017, S. 473-475. Sollten es Ihnen nicht möglich sein, den Text über Ihre Bibliothek zu beziehen, melden Sie sich bitte per Mail bei mir.

Herausforderungen der sog. Flüchtlingskrise im Lichte der Politikwissenschaft – ein Tagungsbericht

Zur Zeit kann, wer will, in jedem Monat gleich mehrmals wissenschaftliche Tagungen zum Themenkomplex Flucht, Migration und Integration besuchen. Diese Themen sind derzeit derart prominent, dass man sich angesichts der großen Anzahl von interessanten Veranstaltungen sehr wählerisch zeigen muss. Am vergangenen Wochenende war es mir möglich, eine spannende politikwissenschaftliche Konferenz unter dem Titel „Nationale, europäische und internationale Herausforderungen der Flüchtlingsströme“ in Berlin zu besuchen. Das Programm findet sich hier.

Die Tagung war eine Veranstaltung von Politikwissenschaftlern (unterschiedlicher Teildisziplinen) für Politikwissenschaftler. Das heißt, die Fragen und Begriffe, denen man auf der Tagung begegnete, waren auch jene Fragen und Begriffe, die innerhalb der aktuellen Politikwissenschaft diskutiert werden. Dass die bundesdeutsche Politikwissenschaft als Disziplin sich derzeit selbst auch zum Gegenstand geworden ist (vgl. die hier dokumentierte Diskussion)  war in den Pausengesprächen zu erfahren und spielte bei einer abendlichen Diskussionsrunde ebenfalls eine Rolle.

Die methodische und theoretische Vielfalt der Politikwissenschaft fand sich in den unterschiedlichen Vorträgen und Kommentaren wieder. Herausheben möchte ich im folgenden eine Auswahl von Fragestellungen, die mir relevant erscheinen. Selbstverständlich interessieren sich Politikwissenschaftler für den Staat und die Staatlichkeit. Der Staat sah und sieht sich im Gefolge der sog. Flüchtlingskrise mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Diese berühren unter anderem seine Fähigkeit, mit einer krisenhaft zugespitzten Situation erfolgreich umzugehen. Im Jargon der Politikwissenschaftler heißt dies: Der Staat lebt von einer Output-Legitimität. Die Herausforderungen schlagen aber auch durch auf die Wahl der Mittel, welche staatliche Stellen bei ihren Problemlösungsversuchen bereit sind zu wählen. Auf der Tagung kamen dabei die verschiedenen Ebenen des staatlichen Handelns zur Sprache: kommunal, national, transnational.

Auf der kommunalen Ebene hat die sog. Flüchtlingskrise dazu geführt, dass Behörden und Verwaltungen auf eine enge Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren angewiesen sind, z.B. wenn sie Flüchtlingsunterkünfte planen und einrichten. Priska Daphi (Uni Frankfurt) machte plausibel, dass die Art und Weise, wie Verwaltungen mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort kommunizieren entscheidend ist für die wohlwollende Aufnahme von Flüchtlingen in den Kommunen. Ina Radtke (Uni Potsdam) & Julia Fleischer (Uni Bergen) erläuterten, dass unterschiedliche Verwaltungen des Bundes und der Länder dazu neigen, ähnliche bürokratische Strategien der Problemlösung zu implementieren, z.B. in der Form einer ressortübergreifenden Koordination der diversen flüchtlingsbezogenen Fragen. Diese Strategien haben auch das Ziel, evtl. verlorengegangenen Legitimität durch möglichst effiziente Problemlösung wieder zurück zu gewinnen.

Auf der nationalen Ebene begegnet einem ständig die Frage nach der Inklusion und Exklusion bzw. nach der Grenze. Julia Schulze-Wessel (TU Dresden) wies darauf hin, dass die Grenze als Ort der Mobilitätskontrolle und damit auch des möglichen Ein- und Ausschlusses sich ausgeweitet hat zu einem geografisch breiten „Grenzraum“. In diesem können beständig Kontrollen der einen oder anderen Art durchgeführt werden. Diese Kontrollen werden selektiv auf bestimmte Gruppen angewandt, was unter normativen Gesichtspunkten fragwürdig erscheint. Christoph Michael (Uni Halle) schlug in eine ähnliche Kerbe, in dem er sich – auch an die politische Theorie gewandt – für eine „Aufweichung des methodischen Nationalismus“ aussprach. Gerade vor dem Hintergrund der grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen sei eine Theoriebildung jenseits des Nationalstaates geboten.

Normative Fragen bezogen auf ethisch vertretbares staatliches Handeln leuchteten auch im Beitrag von Peter Niesen (Uni Hamburg) durch. Dessen Kant-Lektüre führte aber nicht zu einem direkten Durchmarsch normativer Argumente von der kantischen Rechtslehre hinein in den politischen Alltag des 21. Jahrhunderts. Die Möglichkeiten, sich in der Migrationsfrage mit normativen Argumenten plausibel zu Wort zu melden sind offenbar begrenzt. Auf jeden Fall ließe sich nicht mit Eindeutigkeit sagen, so Niesen, welchen Standpunkt Kant (es ließe sich erweitern: de Vitoria, Pufendorf usw.) in der heutigen Situation einnehmen würde. Oliviero Angeli (TU Dresden) schloss sich dieser Meinung an, in dem er einen normativen Ansatz vorschlug, der sich weniger an normativen Prinzipien und deren unmittelbaren Durchsetzung orientierte. Vielmehr sei auf die normativ imprägnierte Praxis zu schauen im Sinne einer „nicht-idealen Theorie“, so Karsten Fischer (Uni München) in seinem Kommentar. Es kommt bei der Suche nach dem adäquaten politischen Handeln damit zu einem produktiven Zusammenspiel von Norm und Praxis, von Ideal und Alltag, von Theorie und Handeln.

Die sog. Flüchtlingskrise ist aber selbstverständlich keine rein nationale Herausforderung. Mehrere Beiträge gingen auf die europäische Dimension der Problematik ein. Dabei wurde immer wieder der Vergleich gezogen zum Krisenmanagement während der Eurokrise. Bei der Eurokrise – so der einhellige Befund von Frank Schimmelfennig (ETH Zürich) bzw. Philipp Genschel (EUI Florenz) & Markus Jachtenfuchs (Hertie School, Berlin) – habe die (zeitweise) Lösung weitere Schritte der institutionellen Integration beinhaltet. In der sog. Flüchtlingskrise sei aber gerade das Gegenteil zu beobachten. Auch aufgrund innenpolitischer Erwägungen und der verhältnismäßig geringen „Kosten“ favorisieren viele EU-Mitgliedsstaaten de facto eine Renationalisierung von Politiken. Diese macht sich dann u.a. in der Rückkehr manifester Grenzen bemerkbar.

Immer wieder stand auch die Frage im Raum, inwiefern man sich eine Politisierung der europäischen Bevölkerung in der Migrationsfrage wünschen solle. Dass diese Politisierung de facto statt findet und auch kaum steuerbar ist, darauf machte Tanja Börzel ( FU Berlin) aufmerksam. Michael Zürn (WZB Berlin) sprach sich für eine pro-aktive Politisierung aus. Die Frage ist aber, ob aus einer solchen Politisierung nur die Populisten – Claudia Landwehr (Uni Mainz) kennzeichnete diese durch ein instrumentelles Demokratieverständnis – ihren Vorteil ziehen oder ob sich die Situation auch – normativ betrachtet – positiv im Sinne eines politischen Liberalismus nutzen lässt. Freilich, und hier herrschte verblüffende Einigkeit – kann die liberal motivierte Politisierung zwar eine wohlwollende Konnotation der „positiven Leitidee Europa“ (Beate Kohler, Uni Mannheim) unterstützen. Sie sollte aber nicht vorrangig zu weiteren Integrationsschritten genutzt werden, denn diese würden den mentalen „Nachhinkeffekt“ (N. Elias) vieler Europäerinnen und Europäer in deren Unterstützung supranationaler Institutionen nur noch verstärken.

Auf einer politikwissenschaftlichen Tagung wird natürlich auch viel über Begriffe gesprochen. Dies zeigte schon das Beispiel des Politisierungsbegriffs. Mit der Nutzung des Begriffs der „Flüchtlingskrise“ war man zögerlich, obwohl auch objektive Gründe für die Nutzung des Krisenbegriffs vorgebracht wurden. Ironischerweise hatte man keine Bedenken im Titel der Tagung metaphorisch aufgeladen von „Flüchtlingsströmen“ zu sprechen. Im Verlauf der Veranstaltung wurden auch andere Metaphern wie „Wellen“ benutzt; hier scheint noch etwas differenzierende begriffliche Arbeit von Nöten zu sein.

Auffallend war auf der Tagung das fast gänzliche Fehlen einer internationalen Dimension jenseits des europäischen Kontextes. Ausnahme war hier eine Präsentation von Andrea Baier et. al. zum Einfluss von Migration auf die Transformation staatlicher Ordnung im Herkunftsland. Die internationale Dimension war im Titel der Tagung angekündigt und wäre aus sachlichen Gründen („Fluchtursachen“) auch zwingend gewesen. Scheinbar wird der methodische Nationalismus, von dem schon die Rede war, durch eine Verengung auf die europäische Dimension von Flucht und Migration ergänzt.

Einigen Beiträgen merkte man an, dass die sog. Flüchtlingskrise für die Politikwissenschaft letztlich überraschend kam. Alfons Söllner (TU Chemnitz) verwies in seinem Beitrag zwar auf die Kontinuität der Problematik. Diese Kontinuität der Problematik hatte in der Vergangenheit aber offenbar keine Kontinuität der politikwissenschaftlichen Bearbeitung der Migrationsfrage bewirkt. So gesehen kann die Tagung auch als der Anfang eines hoffentlich längerfristigen Interesses der politikwissenschaftlichen Disziplin  an Fragen von Flucht, Migration und Integration verstanden werden; auch dann, wenn man in Politik und Verwaltung wieder aus dem Krisen- in den Alltagsmodus zurückgekehrt sein wird.

Dieser Tagungsbericht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund parallel ablaufender Veranstaltungen wäre ein solcher auch nicht erfüllbar. Wenn ich also verschiedene Vortragende nicht erwähnt habe, liegt darin kein Ausdruck von geringer Wertschätzung!

 

 

 

 

Die Schule von Jyväskylä: Eine Besprechung von „In Debate with Kari Palonen“

Der finnische Politikwissenschaftler Kari Palonen ist seit Anfang des Jahres im Ruhestand. Er hat seine langjährige Professur an der Universität von Jyväskylä niedergelegt. Das heißt aber ganz und gar nicht, dass Kari Palonen nun die aktive Wissenschaft zu den Akten legen wird. Wer ihn kennt und ihm öfters begegnet ist, der weiß, dass Kari Palonen sich von formal gesetzten Grenzen, wie dem Erreichen eines Pensionsalters, wenig beeindrucken lässt. Wir dürfen von ihm also noch diverse Beiträge erwarten.

Dennoch war die Pensionierung von Kari Palonen für Claudia Wiesner (Marburg/Jyväskylä), Evgeny Roshchin (Jyväskylä) und Marie-Christine Boilard (ebenfall Jyväskylä) Anlass genug, eine Art Festschrift zu veröffentlichen. Sie ist 2015 im Nomos-Verlag unter dem Titel „In Debate with Kari Palonen. Concepts, Politics, Histories“ erschienen.

Das Buch folgt nicht dem üblichen Muster von Festschriften. Die insgesamt 49 Beiträge sind meist nur wenige Seiten lang. Die wenigsten zeichnen sich durch eine eigene wissenschaftliche Fragestellung und deren Beantwortung aus. Vielmehr war es die Bedeutung von Kari Palonens Werk für die je eigene Forschung, die den Autorinnen und Autoren die Feder diktierte. Die Herausgeber formulieren es in ihrem Vorwort so: The „authors were given the opportunity to express what Kari Palonen and his work has meant for them (…)“ (11).

Diese Leitfrage führt bei den jeweiligen Texten zu einem sehr individuellen Zugriff. Manche Beiträge ähneln gar forschungsbiographischen Skizzen, so zum Beispiel, wenn die Nichte Palonens – Emilia Palonen (Helsinki) – ihre eigene akademische Laufbahn mit der Gedankenwelt ihres Onkels auf- und entschlüsselt (Between the I and the Us: My Uncle Kari). Überhaupt sind viele der Beiträge sehr persönlicher Natur. Nicht wenige beginnen mit Formulierungen wie „I first met Kari Palonen when I was …“. Das ist anrührend, auf die Dauer aber auch etwas ermüdend.

Es wundert nicht, dass bei einer Festschrift für einen finnischen Politikwissenschaftler viele finnische Stimmen zu Wort kommen. Diese eröffnen einem unkundigen Leser ein Panorama auf die Resonanz, die Palonens Werk in seinem Heimatland hatte und noch heute hat. Es wird des Öfteren betont, dass Kari Palonen am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere in den 1970er Jahren eine frische Kraft war, und dass sich diese Kraft bis heute nicht verbraucht hat. Das liegt auch daran, dass Palonen sich nicht davor scheut, immer wieder neue Forschungsgebiete zu erarbeiten. So stellt Sia Spiliopoulou Åkermark (Uppsala) bei Kari Palonen eine „vast amount of curiosity“ (265) fest und Suvi Soininen (Jyväskylä) ergänzt, sie habe von Palonen gelernt, dass „in the long run a researcher is not only allowed, but perhaps also required, to change her/his ways of studying politics“ (195).

Neben den Texten finnischer Wissenschaftler finden sich aber auch Beiträge internationaler Forscher: Martin Burke (New York) blickt auf Palonens Skinner Lektüre; Frank Ankersmit (Groningen) untersucht den Aspekt von privater und öffentlicher Sphäre im Parlamentarismus; José María Rosales (Málaga) weist auf den 2012 verstorbenen Michael Th. Greven hin, der in der internationalen Forschungsbiographie Palonens eine wichtige Rolle gespielt habe. Und Quentin Skinner (London) schildert aus seiner Sicht den Einfluss von Kari Palonen auf sein späteres Werk.

Die Autorinnen und Autoren wählen aus dem Pool der wissenschaftlichen Interessen Palonens ein ganzes Bündel heraus: Palonens rhetorische Parlamentarismusforschung als sein jüngstes Projekt wird oft genannt; seine begriffsgeschichtlichen Arbeiten zum Politikbegriff werden erwähnt; seine frühen „anarchistischen“ Studien; sein Beitrag zu einem handlungstheoretischen Verständnis von Politik überhaupt. Wenn auch der Name von Max Weber oft fällt, werden die Bücher Palonens, die in engerem Sinne weberianisch sind, wenig zu Rate gezogen. Das gilt unter anderem für „Das Webersche Moment“ (1999), „Eine Lobrede für Politiker“ (2002) und für dessen späteres Sequel „Rhetorik des Unbeliebten“ (2012).

Auffallend ist, dass trotz des Titels des Buches „In Debate with Kari Palonen“ keine richtige Debatte mit Palonens Standpunkte aufkommen mag. Nun ist eine Festschrift nicht der richtige Ort, um die „Fetzen fliegen zu lassen“, doch muss Kari Palonen das Maß an hier präsentierter Zustimmung fast schon unangenehm sein. Dass Palonen in seinen Arbeiten für mehr Mut zum (politischen) Dissens plädiert, hebt unter anderem Tuija Parvikko (Jväskylä) hervor, wenn er betont, dass für Palonen „dissensus becomes the raison d’être, the conceptual condition for the intelligibility of parliamentary politics “ (149). Trotzdem erhält Palonen hier ein Buch zum Geschenk, dass – fast schon ironisch – überwiegend vom Konsens lebt.

Gerade weil das Buch dem Zuschnitt einer üblichen Festschrift nicht folgt, ist es trotz allem ein spannendes Dokument. Es schildert aus der Sicht vieler Akteure, wie die „Schule von Jyväskylä“ zustande kam und weiterhin am Wirken ist. Es ging und geht bei dieser „Schule“ nicht um einen gemeinsamen Standpunkt, der von Palonen vorgegeben und von seinen Schülerinnen und Schülern rezipiert wurde/wird. Vielmehr geht es um einen geteilten heuristischen bzw. hermeutischen Standpunkt, von dem aus ein großes Feld von Forschungsfragen in und jenseits der Politikwissenschaft bearbeitet werden. Dieser – in seinem Weltbild – anti-essentialistische und – in seiner Methode – begriffsgeschichtliche Standpunkt wird nicht von allen Autorinnen und Autoren in gleicher Konsequenz durchgehalten. Doch bei vielen sorgt/e dieser Standpunkt Palonens für wichtige Weichenstellungen im je eigenen Werk.

So ist die „Schule von Jyväskylä“ ein gutes Beispiel, wie wissenschaftliche Netzwerkbildung auch in der heutigen Wissenschaftswelt von einzelnen, charismatischen Netzwerkern abhängt. Letztlich sind es solche Einzelmenschen, die wiederum andere Einzelmenschen inspirieren und anregen. Und nur, wenn diesen vielen individuellen Geistern die Freiheit gelassen wird, ihren je eigenen Kurs einzuschlagen, bilden sich nachhaltig „Schulen“, die diesen Namen verdienen.

 

P.S.: Auch an meiner Doktorarbeit war Kari Palonen nicht ganz unbeteiligt. Sie erschien 2008 unter dem Titel „Der Augenblick der Entscheidung. Die Geschichte eines politischen Begriffs.“ und verdankt sich auch einem mehrwöchigen Aufenthalt in Jyväskylä.

 

 

 

Wie sich die Politikwissenschaft überflüssig machen kann: Sieben einfach umzusetzende Empfehlungen

1. Politikwissenschaft muss jeden theoretischen Anspruch vermeiden!

Die Signale sind eindeutig: Gefragt ist von der Politikwissenschaft keine ausufernde Arbeit am theoretischen Wolkenkuckucksheim, sondern gefragt sind konkrete Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen. Terrorismus, Klimawandel, Migration, failed states, Finanzturbulenzen, … : Die Liste der aktuellen Probleme ist lang. Politikwissenschaft macht sich dann dienstbar und unverzichtbar, wenn sie auf diese Probleme möglichst konkrete Lösungsvorschläge ausformuliert; wenn sie Politikberatung ist. Empfehlenswert ist dabei das Format von policy papers, die den Umfang von zwei oder drei Dutzend Seiten nicht überschreiten sollten. Theorie lenkt von den eigentlichen Problemen und ihren Lösungen ab und hat daher – auch mit Blick auf die Förderfähigkeit – wenig Zukunft. Die Zeit, die man mit der Lektüre von Theorietexten zubringt kann effektiver investiert werden.

2. Wenn Theorie, dann nur als Theoriemix; mache deutlich, dass du keinen theoretischen Standpunkt hast!

Es ist nachvollziehbar, wenn ambitionierte Politikwissenschaftler auf eine gewisse theoretische Einordnung ihrer konkreten Empfehlungen und Vorschläge nicht verzichten wollen. Diese Einordnung sollte aber in der Form eines unverbindlichen Theoriemix vorgenommen werden. Dabei werden verschiedene theoretische Versatzstücke miteinander kombiniert, die als möglichst dienlich für eine bestimmte Fragestellung angesehen werden. Unbedingt zu vermeiden ist ein festgefahrener theoretischer Standpunkt, der vielleicht sogar noch einen biographischen Hintergrund im Leben des Politikwissenschaftlers aufweist. Solch eine theoretische Festlegung, die sich gar über mehrere Publikationen hinweg zieht, macht es dem Wissenschaftler unmöglich, sich unvoreingenommen von den empirischen Phänomenen einnehmen zu lassen.

3. Politikwissenschaft sollte möglichst nicht historisch orientiert sein!

Auch eine historische Grundlegung politikwissenschaftlicher Arbeit ist zu vermeiden. Die Politikwissenschaft ist vorrangig eine synchrone Wissenschaft, d.h. sie interessiert sich für aktuelle Probleme. Die Vergangenheit und das diachrone Forschen gehört den Historikern. Die Geschichte ist abgeschlossen. Politikwissenschaft bewegt sich aber in der Gegenwart. Überhaupt ist es ein postmodernes Fakt, dass geschichtliche Kontinuität eine Fiktion ist und man aus der Vergangenheit kaum Schlüsse auf die Gegenwart ziehen kann. Sie ist keine Lehrmeisterin für die Herausforderungen, mit denen eine globalisierte, post-moderne Welt uns konfrontiert. In der eigenen Freizeit mag der Politikwissenschaftler das eine oder andere zeitgeschichtliche Buch lesen, sozusagen zur wohlwollenden Kenntnisnahme. Solche Lektüre sollte aber keinen größeren Einfluss auf seine eigene alltägliche Forschungsarbeit haben.

4. Politikwissenschaft blüht auf, wenn sie nur in Fachzeitschriften veröffentlicht!

Für das Vorankommen eines politikwissenschaftlichen Nachwuchsforschers sind letztlich nur Veröffentlichungen in englischsprachigen, peer-reviewed Fachzeitschriften von Belang. Daher ist es legitim sich auf solche Veröffentlichungen zu beschränken. Wenn es zum eigenen Forschungsgebiet keine spezielle Fachzeitschrift gibt, dann gründe man sie eben, organisiere sich ein Redaktionskomitee, einen  Beirat und veröffentlicht die Artikel darin. Es ist unerheblich, ob die eigenen Aufsätze gelesen werden; wichtig ist das Fakt der Veröffentlichung. Beiträge in sogenannten Publikumszeitschriften sind Kür, keine Pflicht. Die Kommunikation mit einer weiteren Öffentlichkeit kann anderen überlassen werden (der universitätseigenen Image-Broschüre, dem reichen Stab der akademischen Verwaltung, dem Feuilleton der Tageszeitungen, usw.).

5. Politikwissenschaft strebt eine möglichst umfassende Mathematisierung ihrer Methoden an!

Wir müssen von der angelsächsischen Politikwissenschaft lernen: Relevanz kann die Politikwissenschaft nur dann erreichen, wenn sie möglichst exakte Forschungsergebnisse vorlegt. Exaktheit erreicht man mittels mathematischer Methoden. Die Ökonomisierung der Gesellschaft gelang auch dadurch so reibungslos, da die Wirtschaftswissenschaften ihre geisteswissenschaftliche und historische Wurzeln zurückgelassen haben und sich fast vollständig mathematisiert haben. Dadurch konnten der Gesellschaft exakte Daten und Vorhersagen über wirtschaftliche Vorgänge geliefert werden. Die Politikwissenschaft muss es der Wirtschaftswissenschaft nachmachen, um aussagekräftige Einschätzungen und Prognosen über das politische Geschehen auf der Welt liefern zu können. Die dichten Beschreibungen, ausufernden Fallstudien und theorieschweren Essays zählen zur schöngeistigen Literatur, sind nicht wirklich wissenschaftlich und können den Autoren vom Merkur und von Sinn und Form überlassen werden.

6. Kümmere dich nicht um die Wahrheit!

Wahrheitsfragen – jenseits der mathematisch lösbaren – sind wissenschaftlich unseriös und sind tunlichst zu vermeiden. Nach der Wahrheit fragen die Theologen, deren Platz an einer modernen Universität so oder so fragwürdig ist. Politikwissenschaftler geben sich nicht mit Wahrheit, unbedingten Forderungen, Postulaten oder Absolutem ab. Sie bearbeiten jene Fragen, die im empirisch gesicherten Bereich liegen und deren Beantwortung nur eine Frage der Zeit ist. Politikwissenschaftler gehören nicht zu den Produzenten von Normen in unserer Gesellschaft. Wenn überhaupt, dann orientiert sich eine solche Normenproduktion an den gesellschaftlich akzeptierten Mustern und Vorbildern. Auf keinen Fall ist eine wie auch immer geartete „Wahrheit“ in Stellung zu bringen gegen den gesellschaftlichen Konsens. Was die Politikwissenschaft interessiert ist nicht die nebulöse Wahrheit, sondern die faktische Richtigkeit und mathematische Exaktheit.

7. Kritik ist alles. Aufbauarbeit überlassen wir anderen!

Vielleicht gibt es doch den einen oder anderen Politikwissenschaftler, dessen Anspruch darüber hinaus geht, universitär verankerte Begleitmusik zur Tagespolitik zu sein. Diese Art Spezies lässt sich auch bei rigider Auslese in der Nachwuchsgewinnung nie ganz verhindern. Diesen theoretischen Anspruch gilt es einzuhegen und auf mehr oder minder unschädliches Terrain einzugrenzen. Solche ambitionierte Politikwissenschaftler ermutige man deshalb dazu, die eigene Wissenschaft als eine reine Kritik zu verstehen. Ja: Politikwissenschaft übt Kritik an den herrschenden Zuständen. Ja: Politikwissenschaft soll eingespielte Praktiken hinterfragen. Doch das ist auch alles. Man hüte sich davor, Politikwissenschaft als eine theoriestarke, historisch bewanderte und an unzeitgemäßen Wahrheitsfragen interessierte Verstehenswissenschaft zu beschreiben. Die Aufgabe der Politikwissenschaft ist folgende: Mittels exakter Faktenerhebung erzählen wir den Leuten, wie schlecht die Welt ist. Hier und da üben wir Kritik. Wir sind aber nicht dafür da, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Dieses Werk überlassen wir den Pfarrern, Entwicklungshelfern, den NGOs und anderen guten Menschen.