Politisches Denken und der Alltag der Menschen. Eine Besprechung zu Marc Stears: „Out of the Ordinary“.

„Out of the ordinary“ ist ein ideengeschichtliches Buch eines Intellektuellen über die eigene Distanz zum intellektuellen Leben. Und es ist ein politischer Essay eines ehemaligen Parteifunktionärs über die eigene Distanz zum politischen Betrieb. Marc Stears – ehemals Redenschreiber für das Spitzenpersonal der britischen Labour-Partei und derzeit noch Leiter des sog. Sydney Policy Lab – hat mit „Out of the ordinary“ ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Bemerkenswert, da es mindestens zwei Dinge zugleich sein möchte: zum einen Geschichte politischer Ideen im Sinne einer „intellectual history“, zum anderen eine Gegenwartsdiagnose und ein normatives, politisches Statement.


Bei dem Band handelt es sich erstens um einen Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens in Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darauf verweist der erste Teil des Untertitels: „How everyday life inspired a nation“. Stearsstellt unterschiedliche politisch denkende Menschen vor, die auf unterschiedliche Weise – in Dichtung, in Essays, in Fotografie, in Radioansprachen – den Alltag und die alltäglichen Erfahrungen der normalenMenschen in den Blick genommen haben. Stears charakterisiert diese Denker – darunter so unterschiedliche Charaktere wie Dylan Thomas, Georg Orwell, John Boynton Priestley – als Personen, „[who] placed self-consciously humble, everyday humanity at the very core of their ideal“ (S. 3). Diese Denker hätten, so Stears, die politische Überzeugung vermitteln wollen, „that ordinary people going about their ordinary lives possessed all the insight, virtue, and determination required to build the society of which they dream and need no direction by others“ (S. 3). Mit Blick auf das politische Leben einer Gesellschaft sollten die Alltagserfahrungen gewöhnlicher Menschen einen hermeneutischen Vorrang vor theoretischen bzw. ideologischen Überlegungen besitzen.

(…)

Veröffentlicht in Politische Vierteljahresschrift (2022). Hier können Sie den ganzen Text lesen: https://rdcu.be/cTWaR

Bei Bedarf kann ich den Text auch als PDF zur Verfügung stellen. Senden Sie mir eine Email an rotsinn(at)gmx.de

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Was ist postheroische Demokratiegeschichte?

Die Geschichte unserer Gesellschaft wird gemacht von einzelnen Menschen, ihren Entscheidungen, ihren Handlungen, ihrem Zögern, ihren Sprechakten. Die Geschichte wird aber auch gemacht aus den einzelnen sich ergebenden Situationen und Chancen und Zufällen heraus, die sich auftun und schließen wie von Geisterhand. Und es gibt auch von Menschen geschaffene Institutionen und Strukturen, die wiederum Handeln der einzelnen Akteure beschränken, lenken und vorherbestimmen.

In diesem Sinne ist das Anliegen der Historikerin Ute Daniel in ihrem schmalen Bändchen „Postheroische Demokratiegeschichte“ (Hamburg 2020) zu verstehen: Sie möchte dazu anregen, die Geschichte der Demokratie nicht nur von der Akteursperspektive her zu sehen. Und sie plädiert zudem dafür, die Intentionen und Motivationen dieser Akteure der Demokratiegeschichte nicht nach Maßstäben des 21. Jahrhunderts normativ zu überhöhen.

Die Geschichte der Demokratie ist Produkt von Zufällen wie sie auch Folge von zielstrebigem menschlichem Handeln war und ist. Und dieses Handeln hatte nicht immer das hehre Ziel vor Augen, die Teilhabe möglichst vieler Menschen am politischen Geschehen zu ermöglichen. Manchmal war es auch schlicht schnödes Parteiinteressen, das hinter einer Wahlrechtserweiterung stand. Aus der deutschen und britischen Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts bringt Daniel einige Beispiele an. Daraus folgert Daniel:

„Wahlrechtserweiterungen waren, wo es sie gab, Teil dieser sich verändernden Praktiken und hatten das Ziel, Parlamente zu bilden, mit denen regiert werden konnte.“ (11)

Die Regierbarkeit stand im Vordergrund, so Daniel, und nicht eine demokratietheoretische Vision.

In diesem Sinne ist dann auch das Wort „postheroisch“ zu verstehen: Die Geschichte der Demokratie ist keine Geschichte der gesellschaftlichen Underdogs, die gegen die Mächtigen „dort oben“ sich Schritt für Schritt ihre Rechte erkämpfen. Es gibt und gab immer wieder demokratiegeschichtlich relevante Vorkämpferinnen und -kämpfer für die Teilhaberechte der Vielen; zu Heldinnen und Helden wurden sie erst von der Nachwelt, von uns gemacht. Die Politiker (zumeist Männer) des 19. Jahrhunderts waren zumeist nicht getrieben von normativen Zielvorgaben, sondern von konkreten Problembewältigungsstrategien. Demokratiegeschichte ist also (auch) eine Geschichte der Lösungsstrategien von Menschen, die mit konkreten Herausforderungen zu kämpfen hatten. Ute Daniel dazu:

„Was immer Politiker für Wünsche und Pläne haben mochten, ihr praktisches Tun richtete sich nach den Problemen, die sie aktuell jeweils hatten.“ (13)

Wir suchen im 21. Jahrhundert gerne nach Heldinnen und Helden der Demokratie: synchron in der Gegenwart und diachron in der Vergangenheit. Was uns heute an demokratischer Kultur als gefährdet scheint, das versuchen wir dadurch abzusichern, indem wir die besonders kühnen Frauen und Männer der Demokratie auf das Podest der gesellschaftlichen Anerkennung heben und auf Briefmarken abdrucken. Diese Strategie ist nicht gänzlich verkehrt, denn Helden erfüllen diese essentiellen Funktion der Integration und Fokussierung von Gesellschaft.

Man sollte sich aber – so verstehe ich Ute Daniels Ansatz – die Situationen, in denen sich die politischen Akteure wiederfinden, stets realistisch einschätzen. Politische Interessen, materielle Zwangslagen, spontan sich ergebende Gelegenheiten bestimmen das Handeln von Akteuren in gleicher Weise wie normative, heroische Visionen. Heldinnen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie zum richtigen Zeitpunkt die richtige Zielvorstellung mit dem richtigen Maß an Kompromissfähigkeit mit Leidenschaft und Augenmaß ins Spiel bringen.

Es gehört also ein gewisses Maß an Demut zur Demokratiegeschichte: Das Wirken der einzelnen Person, so überzeugend und emanzipatorisch sie uns heute erscheinen mag, war und ist stets eingebunden in ein Geflecht von Zielen und Interessen, kontingenten Chancen und Situationen. Wirkliche Veränderung braucht für gewöhnlich mehr als die Initiative des heldenhaften Individuums. Es braucht auch dessen Einsicht in die eigenen Grenzen und das Vertrauen in die Möglichkeiten anderer und die Macht des rechten Augenblicks.

Wer macht Demokratie? Eine Buchnotiz.

Wer macht Demokratie? Klingt erst einmal seltsam, die Frage. Doch sie ist ernst gemeint. Mehr dazu weiter unten.

Die Demokratie ist in der Politikwissenschaft ein zentraler Forschungsgegenstand. Das gilt gerade für eine bundesdeutsche Politikwissenschaft, die sich über lange Zeit hinweg auch als Demokratiewissenschaft verstanden hat. Demokratie ist auch ein zentraler Gegenstand und die Erziehung in eine demokratische Haltung hinein Grundanliegen der politischen Bildung, welche in einer so verstandenen Politikwissenschaft ihre Wurzeln hat.

In diesem Sinne ist das Buch von Samuel Salzborn „Demokratie. Theorien – Formen – Entwicklungen“ (Baden-Baden: Nomos, 2. Auflage 2021, 22,- €) eine klassische politikwissenschaftliche Einführung in die Wissenschaft von der Demokratie mit dem Ziel eine neue Generation von Politikstudentinnen und -studenten den Gegenstand ihres Studiums näher zu bringen: rational und emotional, analytisch und normativ.

Salzborn stellt im ersten, ideengeschichtlichen Teil seines Buches (15-73) das politische Denken über die Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart vor: Die griechischen Denker kommen vor; ein kurzer Schlenk über das Mittelalter und die frühe Neuzeit führt in das 19. und frühe 20. Jahrhundert; dort werden nicht nur die Denker der Demokratie aufgeführt, sondern auch ihre konservativen bzw. reaktionären Gegner; weiter geht es mit den demokratietheoretischen Beiträgen nach 1945 bis hin ins 21. Jahrhundert. Bei solch einem ideengeschichtlichen Überblick kann man als Autor wenig falsch machen. Salzborn macht auch wenig falsch und stellt dem einführenden Charakter des Buchs entsprechend solides Schulwissen vor. Freilich wünscht man sich als Leserin oder Leser einer solchen Einführung eine etwas zugänglichere, jargon-freiere Sprache.

Weiter geht es im Buch mit einem längeren Abschnitt (75-102), den man in der Politikwissenschaft klassischerweise der Disziplin der Regierungslehre zuordnen würde. Wir erfahren etwas über Typen der Demokratie und über die wesentlichen politischen Akteure, das „Wer“ in der Demokratie (vgl. unten). Salzborn schreibt hier von der repräsentativen Demokratie und stellt ihr nicht – wie es evtl. nahe liegen würde – die direkte Demokratie gegenüber. Salzborns Gegenüber der repräsentativen ist vielmehr eine sog. „identitäre“, vorgeblich volksunmittelbare Demokratie (88ff.). Hier hätte sich der Rezensent mehr Schulwissen und weniger – tagespolitisch verständliche – Meinungsbildung gewünscht. 

Hier kommt bei dem engagiert schreibenden Salzborn zu tragen, dass die Politikwissenschaft (und nicht nur diese) die Demokratie zunehmend einer populistischen Delegitimierung ausgesetzt sieht. Eine Einführung in das Thema muss diesen Aspekt natürlich zur Sprache bringen; im vorliegenden Band nimmt die Angst um die Demokratie nach Geschmack des Rezensenten fast einen zu breiten Raum ein. Sie wird im letzten Teil des Buchs (103-153) sehr deutlich, in welchem Salzborn mit normativem Anspruch mögliche demokratische Entwicklungsszenarien entwirft. Diese Entwicklungslinien zeugen von der Furcht, die Demokratie könnte vor den sich stellenden Herausforderungen in die Knie gehen: Extremismus bedrängt die hiesige Demokratie vor allem von rechts; das post-faktische Internetzeitalter untergräbt den rationalen Grund der Demokratie; kulturelle „Essentialisierung“ (141) von Politik verwandelt die stets vorhandene Konfliktlinien der Gesellschaft in scharfe Diskursfronten. Als Leser stellt man fest: Salzborn sieht die Demokratie ohne Zweifel unter heftigem Beschuss. 

Zurück zur Ausgangsfrage: Wer macht eigentlich Demokratie? Wir erfahren bei Salzborn – wie auch in vielen anderen Einführungen zum Thema – viel zu den einzelnen Vordenkern dieses nie vollendeten Projekts der Demokratie. Wir erfahren aber so gut wie nichts über die einzelnen demokratischen Praktiker, welche dieses Projekt mit Leben erfüllen. Die Politikerin. Der Bürger. Solche Kategorien tauchen in dem Buch nicht auf. Wenn eine Einzelperson auftaucht, dann ist das irrtierenderweise der Diktator als der Feind der Demokratie. (Ein Nebensatz: Verblüffend oft für eine Einführung in die Demokratie taucht auch Carl Schmitt und dessen demokratietheoretisch kaum verwendbares, da existentiell aufgeladenes Freund-Feind-Schema auf.)

Die Demokratie lebt aber nicht nur von Kollektivakteuren wie Parteien und Verbänden. Demokratie lebt von vielen einzelnen Menschen, die sich im Alltagsgeschäft als Bürgerin und Politiker praktisch für das demokratische Leben des Gemeinwesens ins Getümmel werfen. Von diesen demokratischen Überzeugungstäter hätte man in dem Buch gerne etwas mehr gelesen. Für diese kann man sich auch in der Politikwissenschaft mehr Aufmerksamkeit wünschen. Vielleicht würde dann auch die nicht unberechtigte Furcht um die Demokratie durch ein Fünkchen der Hoffnung in die Gestaltungskraft demokratisch gesinnter Frauen und Männer abgefedert. 

Kommunalwahlkampf als politische Bildung

Ich habe mich im Zugehen auf die anstehende Kommunalwahl in Niedersachsen für eine Partei als Kandidat auf dem hinteren Teil der Liste aufstellen lassen. Ich bin also – ganz bewusst – ein „Zählkandidat“; man könnte es auch mit Verweis auf die Sitzordnung in Westminster so nennen: Ich bin ein „backbencher“, wenn auch ohne eigentlichen Sitz bzw. Aussichten auf einen solchen.

Aber auch als Zählkandidat betreibe ich Wahlkampf. Denn ich bin überzeugt, dass die Themen der Partei, für die ich mich habe aufstellen lassen, für die Kommune, in der ich lebe, wichtig und zukunftweisend sind.

Es ist das erste Mal, dass ich – ein Politikwissenschaftler – auch bewusst das tue, was meine Zunft normalerweise nur beobachtet: Ich treibe Politik. Im Kleinen, Lokalen, aber es ist und bleibt Politik, da ich die Mehrheitsverhältnisse eines politischen Gremiums und damit den kollektiven Entscheidungsfindungsprozess beinflussen möchte. Ich möchte vor Ort bei Entscheidungen mitreden bzw. die Teilhabe an der Mitrede beeinflussen. Ich möchte Themen setzen, was man gemeinhin „politisieren“ nennt.

Und ich mache die Erfahrung: Der Kommunalwahlkampf ist eine großartige Weise politische (Selbst-)Bildung zu betreiben. Aus Politikwissenschaft wird Politikpraxis. Noch viel mehr als sonst bin ich derzeit ein „Gelegenheitspolitiker“ (Max Weber). Einige (parteiunabhänige) Lehren aus diesem Wahlkampf alias Bildungsprozess kann ich schon ziehen und möchte sie hier in Kürze aufführen:

  • Kommunalwahlkampf ist Arbeit an den eigenen politischen Überzeugungen. Was möchte ich in meinem Umfeld verändern? Was möchte ich bewahren? Was ist mir wichtig? Welche parteipolitischen Standpunkte überzeugen mich und welche nicht? Damit hängt zusammen:
  • Kommunalwahlkampf gleicht einem politischem Offenbarungseid. Ich bekenne mich zu einer Position und trete damit gleichzeitig auch gegen andere Positionen an. Daraus folgen die Fragen: Wie reagiere ich auf die Gegenrede, das betretene Schweigen oder auch den Zuspruch von Nachbarn, Freunden, Familie? Wie begegne ich den Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien auf der Straße?
  • Kommunalwahlkampf fördert die eigene Sozialraumkenntnis. Ich wandere täglich durch mein Umfeld, erkunde neue Stadtteile und Siedlungen, suche nach Briefkästen, spreche mit Menschen auf der Straße. Dadurch lerne ich Menschen und Räume viel besser kennen. Ab und an – es ist nicht die Regel – entspinnen sich längere Gespräche, in denen man dann auch richtig gefordert wird: „Was macht denn eigentlich ein Politikwissenschaftler?“ „Was halten Sie eigentlich von …?“
  • Kommunalwahlkampf schlägt sich als politische Bildung auch im familiären Umfeld nieder. Wenn die Kinder – aufgrund der eigenen Positionierung – sich ebenfalls im politischen Spektrum zu verorten anfangen, darüber mit anderen Kindern und mit einem selbst diskutieren, erfährt man: In der (reflektierten) Praxis lernt sich alles, einschließlich der Theorie, noch am besten.
  • Kommunalwahlkampf führt also dazu, dass man mehr über die Kommune, in der man lebt, und über die Menschen, die mit einem selbst vor Ort leben, erfährt. Unweigerlich wird man zu einer Art Vor-Ort-Experten, lernt Menschen kennen, bekommt Geschichten und Anliegen mit auf den Weg.

Indem ich in diesem Jahr die Möglichkeit ergreife, nicht nur mein aktives, sondern auch mein passives Wahlrecht auszuüben, habe ich mich ungeahnt auf einen Weg der politischen Bildung eingelassen. Kommunalpolitischer Wahlkampf ist für mich politische Bildung pur.

Was hat die Erbsündenlehre mit der Demokratie zu tun? Eine Notiz zu Reinhold Niebuhr.

Wenn es eine christliche Lehre gibt, die oft als obskur und hinterwäldlerisch angesehen wird, dann ist es die Lehre von der Erbsünde (engl. original sin).

Basierend auf der biblischen Aussage „das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an“ (Genesis 8,21) sagt diese Lehre aus, dass im Menschen eine Neigung zum Bösen anthropologisch grundgelegt ist. Es gibt also eine Spannung zwischen der Aussage von dem Menschen als dem „Ebenbild Gottes“ – ein Sprachbild, das auf die grundsätzliche Offenheit des Menschen hin zum Guten, ja, zum Göttlichen verweist – und der gegenläufigen Aussage, die im Menschen einen „Drang zur Sünde“, ja gar eine „Herrschaft der Sünde“ erkennt (vgl. Edmund Schlink 1985, Ökumenische Dogmatik, 2. Auflage, Göttingen, 126ff.).

In jedem Falle ist der Mensch ein ambivalentes Wesen, fähig zu Gutem, sehr Gutem, fähig aber auch zum Bösen, sehr Bösem. Die Erbsündenlehre dockt an der zweitgenannten Fähigkeit an. Persönlich ziehe ich übrigens den englischen Begriff „original sin“ vor, da bei der „original sinn“ im Vergleich zu dem Begriff der „Erbsünde“ der Ursprung dieser Sünde eher in den seelischen Tiefen eines jeden Menschen gesucht wird und weniger in einer irgendwie über Generationen weitergegebenen genetischen Disposition. Gemeint ist jeweils aber das Gleiche: Der Mensch kommt aus der Verstrickung des Bösen, der Sünde, nicht aus eigener Kraft heraus. Der Hang zum Bösen und das Bestreben sich über andere zu erheben gehören zur menschlichen Natur dazu.

Diesen Begriff – „original sin“ – nutzt auch der US-amerikanischen Theologe Reinhold Niebuhr (1892-1971), um die demokratische Politik als normative Notwendigkeit zu beschreiben. In unmittelbarer Reflektion der nationalsozialistischen und stalinistischen Gewaltherrschaften anerkennt Niebuhr die oben angesprochene anthropologische Ambivalenz. In einem Essay aus dem Jahr 1940 schreibt er:

„(Christianity) recognizes that the same man who can become his true self only by striving infinitely for self-realiziation beyond himself is also inevitably involved in the sin of infinitely making his partial and narrow self the true end of existence.“ (in: Christianity and Power Politics, New York 1940, 2)

Neigung zum Gute und Neigung zum Schlechten sind also im Menschen beide vorhanden. Und die Neigung zum Schlechten drückt sich für Niebuhr oft genug in Egoismus und übersteigerter Selbstliebe aus. In seinem 1945 veröffentlichten Essay The Children of Light and the Children of Darkness (London: Nisbet & Co) wendet Niebuhr diese Einsicht auf die Demokratie an. Er ist weit davon entfernt, die Demokratie als Staatsform zu idealisieren. In seinen eigenen Worten könnte man die Demokratie à la Niebuhr als „valuable without being final“ (ebd. 82) bezeichnen. Sie ist wertvoll, verkörpert aber auch nicht das Himmelreich. Der Wert der Demokratie besteht darin, dass sie den Egoismus und die Selbstliebe oder das Machtstreben des Einzelnen oder auch der einzelnen Partei in Schranken weist. In Niebuhrs Worten:

„For certainly one perennial justification for democracy is that it arms the individual with political and consitutional power to resist the inordinate ambition of rulers, and to check the tendency of the community to achieve order at the price of liberty.“ (ebd. 38)

Mit Blick auf die Neigung des Menschen zum Bösen darf man also das Feld nicht den Pessimisten überlassen, welche dem Menschen aufgrund dieser Neigung alle Möglichkeiten der Selbstentfaltung nehmen wollen und eine Zentralisierung der Macht fordern. Denn die Neigung zum Bösen findet sich nicht nur im einzelnen Menschen, sondern breitet sich genau so in sozialen Bewegungen, Parteien, Systemen aus. Gegen die Übergriffigkeit dieser gilt es sich mit demokratischen Mitteln („checks“) zu wehren. Nicht Zentralisierung der Macht, sondern Dezentralisierung und gegenseitige Kontrolle hegen das Böse ein.

Die Demokratie mit ihren Amtszeitbegrenzungen, der Möglichkeit der Abwahl von Amtsträger_innen, der Trennung von legislativer, exekutiver und judikativer Macht hält also das egoistische Machtstreben der Einzelnen und einzelnen Gemeinschaften und Nationen in Grenzen. Die Demokratie ist sozusagen eine strukturelle Verkörperung der oben beschriebenen Ambivalenz, da sie der gestaltenden Kraft des Guten Raum gibt, diesen Raum aber auch wieder einschränken muss, damit sich diese Gestaltung nicht auf Kosten anderer – auch der Schöpfung – austobt.

Ebenso öffnet die Demokratie die Möglichkeit, dass sich in den demokratischen Gesellschaften eine Kultur der gesunden Selbstkritik ausbildet. So haben Menschen die Möglichkeit dazu lernen und die eigene Neigung zum Bösen mithilfe von Selbstreflexion einzuhegen. Niebuhr schreibt dazu:

„The so-called democratic and ‚Christian‘ nations have a culture which demands self-criticism in principle, and institutions which make it possible in practice. We must not assume, however, that any modern nation can easily achieve the high virtue of humility, or establish moral checks upon its power lusts.“ (ebd. 124)

Die Demokratie ist für Niebuhr also stets geprägt von Vorläufigkeit, ist selbst ein kontingentes politisches Handeln inmitten der unzähligen Möglichkeiten des Menschen, sich für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. Die Erlösung von dieser Vorläufigkeit und von der beständigen Neigung zum Bösen – der Erbsünde – sucht der Theologe Niebuhr nicht in den irdischen Gefilden der Demokratie, sondern im Glauben an den erlösenden Gott. Von der Demokratie erhofft Reinhold Niebuhr sich aber die Verwirklichung einer Regierungsform, die trotz allseitiger Kontingenzerfahrungen den Menschen die Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und zum gemeinsamen Streben nach dem Guten eröffnet.

Was sind politische Grundbegriffe? Versuch einer sehr kurzen Definition.

Politische Grundbegriffe sind Begriffe der politisch-sozialen Sprache, die …

quantitativ häufig über einen längeren Zeitraum genutzt werden. Grundbegriffe überleben also Epochenwandel. Sie mögen zwar zeitweise in den Hintergrund treten, können aber unter veränderten politisch-sozialen Umständen wieder einen diskursiven Konjunkturaufschwung erleben.

qualitativ mit Verve vorgebracht werden. Grundbegriffe sind also sog. Kampfbegriffe. Sie haben das Potential mit politischen Interessen verbunden gezielt eingesetzt zu werden: zur Sammlung verbündeter Stimmen und zur Abwehr anderer Meinungen.

qualitativ offen sind für neue Deutungen. Grundbegriffe sind alles andere als eindeutig, sondern sind Grund und Anlass für beständige Diskussionen um mögliche Begriffsgrenzen, Umdeutungen und semantische Verschiebungen. Sie können praktische, theoretische, normative Dimensionen umfassen.

Zur Einführung ins Thema ist (immer noch) lesenswert:

Reinhart Koselleck 1972 , Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, XIII-XXVII.

John Keane und die Demut der Demokratie

Was hat die Demokratie mit der Tugend bzw. Haltung der Demut zu tun?

Die Antwort des australischen politischen Denkers John Keane auf diese Frage lautet: viel, sehr viel!

In seinem Buch „Power and Humility. The Future of Monitory Democracy“ (Cambridge: CUP, 2018) geht Keane dem Zusammenhang von Demokratie und Demut in 15 zum Teil längeren Kapiteln nach. Einige dieser Kapitel haben einen regionalen Schwerpunkt – Taiwan, Antarktis – andere Kapitel beschäftigen sich mit eher systematischen Fragestellungen – Umwelt & Demokratie, Kinderrechte – wieder andere haben eher einen ideengeschichtlichen Charakter – die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft. Keane verfolgt also eine vielseitigen Ansatz, und auch sein Schreibstil ist eher essayistisch, was die Lektüre des 490 Seiten langen Bandes sehr angenehm macht.

Bei aller Pluralität der Anlage, vereint die verschiedenen Kapitel das Anliegen, das Nachdenken über die Demokratie mit dem Rückgriff auf die Demutsidee neu zu beleben. Dabei vertritt Keane mit der „monitory democracy“ einen spezifischen Demokratiebegriff. Der australische Denker diagnostiziert – dies ist Eingeweihten nicht Neues – eine gewisse innere Auszehrung der etablierten Demokratien. Diese Auszehrung scheint aber auch einher zu gehen mit einer Erlahmung im Nachdenken über die Demokratie; Keane erkennt hier eine „great normative silence“ gerade in dem Moment, da ein neues normatives politisches Nachdenken über die Zukunft der Demokratie dringend nötig wäre (440).

Dabei gibt es, so Keane, durchaus Grund zur Hoffnung. Denn jenseits unseres eingeübten Denkens und der akademischen Beobachtung lassen sich spannende demokratische Phänomene und Experimente finden: Nichtregierungsorganisationen, die den Regierungen auf die Finger schauen; Bürgerforen, die sich vor Ort in politische Entscheidungsprozesse einbringen; Ombudspersonen, die bei missbräuchlichem Verhalten von Politik und Verwaltung einschreiten können; Beauftragte für unterschiedliche Fragestellungen, die gegenüber den Verantwortlichen immer wieder den Finger in die Wunde legen und z.T. mit Sanktionsmechanism arbeiten usw. Gemeinsam mit den etablierten politischen Institutionen machen diese vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen tätigen „monitors“ das komplex verwobene Netzwerk der „monitory democracy“ aus. All diese Institutionen und Mechanismen dienen letztlich der Kontrolle und Einhegung von Macht. Keane formuliert es so:

“ [Monitory democracy is] the most power-sensitive form of self-government in the history of democracy, as the best weapon so far invented for guarding against the ‚illusions of certainty‘ and breaking up camouflaged monopolies of power, where they operate. (…) The norm of monitory democracy is aware of its own and others‘ limit, knows that is does not know everything, and understands that democracy has no meta-historical guarantees. (…) It warns against hubris, it takes a stand against the humiliation of people. (…) With the help of a plethora of power-humbling mechanisms, it supposes that amore equal world of greater openness and diversity is possible.“ (Power and Humility, 57).

Die Demokratie funktioniert also dann gut, wenn jenseits des konventionellen politischen Parteien- und Repräsentantenwettkampfes noch eine Vielzahl weiterer Akteure ins Spiel kommen, sog. „power-scrutinising mechanisms“ (105). Diese Mechanismen bzw. Institutionen tragen ihren Teil dazu bei, dass eine Machtkonzentration in den Händen Weniger verhindert werden kann. Keane spricht in diesem Zusammenhang von „the institutional humbling of power by means of checks and balances“ (204).

Die Demut in dieser Form von Demokratie ist also zweidimensional:

Zum einen versteht sich dieses Nachdenken über Demokratie an sich als demütig. Zum Ende seines Buches wendet sich Keane ausdrücklich gegen eine Rückbindung des demokratischen Denkens an „erste Prinzipien“ bzw. metaphysische Ordnungsvorstellungen. Solche eine Überhöhung des demokratischen Denkens tut der Demokratie nicht gut, so Keane, nicht zuletzt deshalb, da mittlerweile eine Reihe unterschiedlicher erster Prinzipien im Umlauf sind, die sich gegenseitig in Frage stellen und die Indifferenz gegenüber der Demokratie nur steigern (444ff.). Keane plädiert sozusagen für eine ideologische Demut des demokratischen Denkens.

Zum zweiten ist die „monitory democracy“, wie oben erwähnt, in ihrer realen Gestalt von demütigen Strukturen geprägt. Dazu gehören die klassischen Einsichten, dass Wahlperioden begrenzt sein müssen; dass Amtspersonen auch abgewählt werden können; dass es unterschiedliche Konstellationen von Mehrheit und Minderheit gibt; dass Gewaltenteilung zwischen den exekutiven, legislativen und judikativen Kräften herrscht; dass öffentlich über Missbräuche und Fehlentscheidungen berichtet werden darf; dass Verwaltungshandeln angefragt und kritisiert werden kann; … . All diese Mechanismen – die sich von der kommunalen bis zur globalen Ebene finden – tragen ihren Teil dazu bei „to humble the high and mighty“ (15). Institutionen und Strukturen fördern politische Demut.

Wer Keane aufmerksam liest, der merkt, dass der Autor aber noch weiter geht. Denn letztlich ist ihm daran gelegen, die Demut als grundlegende politische Tugend in einer Demokratie zu etablieren. Eine demokratische Tugend, die nicht zuletzt auch unser Verhältnis zur natürlichen Umwelt prägen sollte, wie er in einem spannenden Kapitel unter dem Titel „The Greening of Democracy“ (249ff.) ausführt. Diese politische Tugend der Demut umschreibt Keane folgendermaßen:

„But, all things considered, the cardinal democratic virtue is humility. Humility is a friend of democracy because it refuses to put itself and other virtues on a pedestal: to be proud of certain virtues, including one’s own or others‘ humility, is to suffer from its lack. (…) Humility is in fact the antithesis of arrogant pride; it is the quality of being aware of one’s own and other’s limits, and the responsibility of ensuring these limits are alway and everywhere observed.“ (463)

Ist hier auch etwas herauszuschlagen für eine politische Theologie der Demokratie, wie ich sie an anderer Stelle skizziert habe? Ich glaube kaum, dass John Keane überschwänglich auf diesen Gedanken reagieren würde. Letztendlich steht ja auch jede politische Theologie dem Gedanken einer ideologischen Demut skeptisch gegenüber. Man gibt ja vor, es stets besser, da theologisch zu wissen. Keane möchte die Demokratie also nicht durch eine Metaphysik der Demokratie retten, sondern durch ein Nachdenken über die praktizierte Demut von Personen und Institutionen weiter entwickeln. So sein ganz demütiger Vorschlag.