Lieber Bernard,
vielen Dank, dass ich hier Deinen Aufsatz „Kohl, Jenseits des Anthropozentrismus. Für eine posthumanistische Ethik des Sowohl-als-auch„ (in: Wort und Antwort, Jg. 58, Nr. 4, S. 165-169) näher diskutieren darf. Vielen Dank auch, dass Du damit einverstanden bist, auf meine Kommentare wiederum kommentierend zu antworten. Diese Art des öffentlichen Austausches ist ja nicht selbstverständlich.
Spannend und anregend fand ich Deinen Aufsatz. Er ist auch hochaktuell. Denn mit Blick auf Veröffentlichungen wie „Zoopolis“ von Sue Donaldson und Will Kymlicka und auf Projekte wie die „Theologische Zoologie“ von Rainer Hagencord kann man mit Recht sagen, dass sich unser Blick auf den Menschen verschiebt und dies sich auch in der akademischen Forschung zeigt. Auch die Diskurse zum sog. Transhumanismus und die technischen Entwicklungen im Bereich der Robotik und Künstlichen Intelligenz machen klar, dass wir bei unserem Nachdenken über das gute menschliche Leben neue Begriffe, Ideen und Metaphern des Verstehens benötigen. Ich lese Deinen Aufsatz, der ja Teil eines längeren Projektes ist, als einen Baustein in diesem von vielen Personen und Stimmen getragenen Projekt des Verstehenwollens und Weiterdenkens.
Ich bin aber gänzlich unbegabt darin, Dinge über den Klee zu loben. Ich sehe an dieser Stelle auch wenig Sinn in einer reinen Gefälligkeitsrückmeldung. Davon hast Du nicht viel, außer vielleicht einem kurzen Moment der inneren Bestätigung; und die Leserinnen und Lesern finden so etwas auch eher langweilig. Von daher möchte ich einige Punkte Deines Aufsatzes kritisch unter die Lupe nehmen, in der Hoffnung, dass ich bei Dir – und bei den Leserinnen und Lesern – dabei ein Nach- und Weiterdenken anregen kann.
Ich finde es amüsant, dass Du dein Plädoyer für eine Ethik des Sowohl-als-auch hintergründig vorbringst im Sinne eines Entweder-oder. Du wirfst ja ganz explizit den bisherigen ethischen Debatten „Anthropozentrismus“ vor, der auch noch mit „nichtigen Gründen“ (168) hantiert, und Du plädierst für ein Gegenmodell, das nicht alternativ neben dem alten Modell stehen soll, sondern dieses – so habe ich es verstanden – ersetzen soll. Sozusagen in zweiter Ordnung begibst Du Dich also in eine Konfrontation des Entweder-oder, die Du auf der materialen Ebene der ethischen Fragen (Mensch vs. Rest) ja gerade überwinden möchtest. Dabei verstehe ich nicht die Dringlichkeit: Weshalb können wir unseren humanistischen Blick nicht ergänzen mit ethischen Reflexionen zu den Tieren, den Pflanzen, der unbelebten Schöpfung, der technisch erstellten Personalitäten? Warum müssen wir unbedingt ersetzen?
Daran anschließend stellt sich mir die Frage, und diese stellst Du im zweiten Teil des Textes implizit ja auch, ob der Begriff des „Posthumanismus“ geeignet ist, das terminologisch aufzufangen, was Du inhaltlich aussagen möchtest. Denn der Begriff „Posthumanismus“ stößt sich ja schon an der Oberfläche vom Humanismus ab; in dieser rhetorischen Abstoßbewegung bleibt er aber irgendwie mit dem Humanismus systematisch eng verbunden, bleibt sozusagen pfadabhängig von den ethischen Fragen, die der Humanismus selbst stellt, von dem Rahmen, den dieser absteckt. Von daher wäre meine Frage, ob Du der Ethik, die Du da betreibst nicht besser einen eigenen und nicht einen abgeleiteten Namen geben möchtest.
Anhand Deines Textes kann ich (noch) nicht erkennen, was eine posthumanistische Ethik eigentlich Substantielles zu sagen hat. Ich erkenne, dass Du sozusagen heuristische bzw. übergeordnete Gründe hast, für eine solche Ethik zu plädieren. Ich weiß aber noch nicht, ob Du wirklich zu substantiell anderen Aussagen wie eine herkömmliche Ethik kommen würdest. Du orientierst Dich nicht am „Menschenbild der Aufklärung“ (168); die Frage ist, an welchen Maßstäben sich die posthumanistische Ethik orientieren wird. Ist es wirklich erstrebenswert, dass sie stets „prozesshaft“, „kontingent und provisorisch“ (169) ist? Braucht es für ethische Aussagen, die oft genug ja auch dem politischen common sense widersprechen, nicht etwas mehr als Argumentationsreservoir? Ich komme hier vielleicht etwas arg naturrechtlich daher, doch ich möchte eben nicht, dass wir das Kinde mit dem Bade ausschütten: Wir verabschieden uns von der herkömmlichen Ethik und bleiben zurück mit nicht vielmehr als einem abstrakten Begriffsapparat des Sowohl-als-auch.
Ich halte es für legitim, dass der Mensch sich Gedanken macht über den Menschen, auch ethisch. Ich halte auch das Ich und das Subjekt für notwendige Kategorien der Reflexion. Ich hielte es für illegitim, wenn dieses primäre Interesse an sich selbst einher ginge mit einer generellen Degradierung anderer Geschöpfe. Ich hielte es auch für unangemessen, von einem statischen Ich-Vorstellung auszugehen, als ob ich nicht ein soziales Wesen wäre bis hin zur Körperlichkeit. Hier sehe ich das Problem, an welchem Du Dich abarbeitest – bitte korrigiere mich, wenn dies so nicht zutrifft. Gleichzeitig bin ich mir unsicher, ob man das Problem damit behebt, indem man gleich eine ganz neue Ethik mit neuen (bislang noch unbekannten) Begriffen ausruft und die alte Ethik und Begriffe für kompromittiert erklärt.
Ich könnte noch einiges mehr sagen, belasse es aber vorerst bei diesen Punkten. Die haben es ja schon in sich! Ich freue mich sehr auf Deine Antwort.
Dein, Burkhard
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Lieber Burkhard,
vielen Dank für Deine Gedanken zu meinem Text und für Deinen Vorschlag eine Art Briefwechsel dazu zu führen. Ich bin froh darüber, weil es ja genau um diesen Austausch geht, wenn man einen Text verfasst: Es geht darum nicht unbeantwortet, nicht unwidersprochen zu bleiben und im besten Fall neue Ideen und Richtungen für das eigene Nachdenken zu erhalten. Nun aber, nach zwei einleitenden Bemerkungen, zur Antwort.
Gut, dass Dir die Ironie des doppelten „Entweder-oder“ nicht entgangen ist. Andererseits ist sie ja bereits in der Überschrift meines Textes deutlich angezeigt und schwer zu übersehen. Damit kommt auch zum Ausdruck, was ich mit meinem Text eigentlich bezwecke: es geht mir nicht darum, das Kind mit dem Bade auszuschütten oder eine ganz neue Ethik mit neuen Begriffen – die im Übrigen vermutlich nur für die theologische Debatte einigermaßen Neuigkeitswert hätten, nicht aber darüber hinaus – auszurufen und die alte Ethik und Begriffe für kompromittiert zu erklären. Das kann schon deshalb nicht funktionieren, weil natürlich auch der Posthumanismus ein Humanismus ist. Diesen Punkt sprichst Du an. Auch die Begrifflichkeiten des Posthumanismus stehen in Relation zu vorher Gedachtem und können nicht in luftleerem Raum entstehen.
Ein Problem, dass sich für mich aus der Lektüre Deiner Kritik ergibt ist, dass ich mir nicht wirklich sicher bin, von welchem „herkömmlichen“ ethischen und anthropologischen System Du in Deiner Argumentation ausgehst und welche Voraussetzungen Du damit verbindest. Da ich Dich aber kenne und Du es in Deinem Text auch andeutest, darf ich vermuten, dass es sich um ein im weitesten Sinne naturrechtlich geprägtes handelt – obwohl das Naturrecht und die Debatte darum ein weites und diverses Feld darstellt.
Mir geht es also weniger um eine Alternative zum, als um eine wirkliche Überschreitung des humanistischen oder anthropozentrischen ethischen Prinzips, da ein Anthropozentrismus angesichts ökologischer und technologischer Herausforderungen nicht mehr leistungsfähig und darüber hinaus sogar problematisch ist:
- Aus der Evolutionsbiologie und den Neurowissenschaften lernen wir, dass der Mensch sich in seiner biologischen Ausstattung und seinen Kapazitäten nicht in so starkem Maße von anderen Lebewesen oder Primaten unterscheidet, dass ein anthropozentrisch ethischer Ansatz gerechtfertigt wäre.
- Unsere gegenwärtige ökologische Situation zeigt uns, dass anthropozentrisch konstruierte Ethiken, die dem Menschen eine herausragende, gegenüber anderem Leben dualistisch geprägte Stellung einräumen, zur Vernichtung unseres und ihres Lebensraumes führen und somit ein Problem darstellen.
- Die Transplantationsmedizin wird zur sicheren Eingangspforte des „Künstlichen“ in das Natürliche und damit unseren Begriff dessen verschieben, was wir als Mensch verstehen. Ähnliches gilt für die Entwicklung künstlicher Intelligenz – obwohl ich zugebe, dass es sich hierbei immer noch um ein gutes Stück SciFi handelt. Dennoch: Wenn wir uns an einer Internetdiskussion in sozialen Medien beteiligen, wissen wir in manchen Fällen nicht mehr, ob wir mit einem Menschen oder mit einer Maschine kommunizieren. „Entsprechend ungünstiger fällt für die Ideologen der anthropologischen Differenz von Jahr zu Jahr der Turing-Test aus“ (R. Zons).
Du fragst, warum wir unseren humanistischen Blick nicht mit ethischen Reflexionen zu den Tieren, den Pflanzen, der unbelebten Schöpfung, der technisch erstellten Personalitäten ergänzen können. Dass dies nicht möglich ist liegt daran, dass ein anthropozentrisch ethischer Ansatz im Umgang mit den beispielhaft beschriebenen entstehenden und eigentlich schon bestehenden Phänomenen des Cyborgs und der Künstlichen Intelligenz nicht mehr hilfreich ist.
Dies beginnt damit, dass herkömmliche Ethiken mit sich entwickelnden Phänomen nur reaktiv umgehen können, da sie grundsätzlich von determinierten Kategorien ausgehen. Was aber, wenn Entwicklungen sich diesen Kategorien nicht fügen, wenn ich nicht mehr alles Wirkliche zuerst und zuletzt auf den Menschen beziehen kann, wie Heidegger schrieb? Ein posthumanistischer ethischer Ansatz ist hier durchaus zu einem heuristischen und eher aktiven Vorgehen fähig, da er nicht an starke Kategorien gebunden ist. So kann ich den Dualismus herkömmlicher Ethiken überschreiten. Ich muss mein ethisches Nachdenken somit beispielsweise nicht mit trennenden Faktoren beginnen, damit, ob ein Cyborg oder eine künstliche Intelligenz noch, schon oder nicht-mehr „lebendig“ sind, sondern ich kann damit beginnen den Begriff des Lebendigen inkludierender zu fassen. Oder in Bezug auf unsere ökologischen Probleme: es zeigt sich, dass ich die Welt nicht mehr vom Menschen her begreifen kann, sondern dass es gilt den Menschen von der Welt her zu verstehen. Dadurch aber wird das ganze Spiel verändert: von der Weltfremdheit des Menschen zur Welthaftigkeit, von der Anthropozentrik zur Weltstruktur, von der anthropozentrischen Enge zu einem vernetzten Verständnis der vielfältigen Beziehungen zwischen Leben und Lebensformen.
Damit ist ein Weg in Richtung eines Non-Speziesismus beschritten. Das Posthumane ist in diesem Verständnis allerdings weder das, was auf das Humanum, den Menschen folgt, noch ist es eine kritische Befragung einer Idee des Humanen, sondern es ist der Aufweis dessen, dass nie so etwas wie der Mensch als der Mensch existiert hat.
Hier möchte ich mit weiteren Deiner Fragen fortfahren: Was hat eine posthumanistische Ethik eigentlich Substantielles zu sagen; an welchen Maßstäben orientiert sie sich; und ist es wirklich erstrebenswert, dass sie stets „prozesshaft“, „kontingent und provisorisch“ ist?
Kontingenz und Prozesshaftigkeit sind erstrebenswert, als dadurch eben anthropozentrische Schließungs- und Ausschließungsprozesse verhindert werden können, die die humanistische Ethik in ihrem dualistischen Ansatz ja immer schon voraussetzt. Wenn ich mir der Prozesshaftigkeit und Kontingenz meines ethischen und anthropologischen Denkens bewusst bin, dann kann und muss ich keine starken Dualismen und ausschließenden Prinzipien mehr formulieren und aufrecht erhalten; dann dreht sich Anthropologie nicht mehr darum nur bestimmte Menschen, die in das Raster meiner Begrifflichkeiten passen, als menschlich anzuerkennen; dann kann ich auch heteronormatives Verhalten in mein ethisches System inkludieren; dann geht es nicht primär um die Definition von „drinnen“ und „draußen“.
Das Problem bestehender ethischer und auch anthropologischer Systeme besteht ja genau darin, dass sie Deutungen des Menschen liefern, die immer schon wissen, was der Mensch ist, wie er sein muss, wie er handeln soll und daher nicht fragen können, wie der Mensch sei, wie er handeln solle. Mit dieser Frage sind Ethik und Anthropologie – einmal frei mit Heidegger gesprochen – nur in der Lage die nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjekts zu leisten.
Dies gilt insbesondere auch für herkömmliche theologisch-ethische Systeme, deren Hauptinteresse als ‚boundary maintenance‘ beschrieben werden kann. Regina Ammicht Quinn schreibt, dass Religion die Aufgabe hat, „symbolische Grenzen zu pflegen und zu erhalten. Solche Grenzen sind vor allem die Grenzen zwischen den Gläubigen und den Nichtgläubigen. Werden diese Grenzen auf essentielle Annahmen über Rasse, Klasse, Geschlecht oder Sexualität bezogen, werden diejenigen, die „Lücken“ in diese symbolischen Grenzen schlagen (oder selbst die ‚Lücken‘ in diesen Grenzen sind), gefährlich. Doktrinale Lehren […] werden dann zur ‘Waffe’, ‘to punish […] variants in ways that reinforce the existing power structure of the Church […]’.”[1]
Das Substanzielle einer posthumanistischen Ethik besteht dann darin, dass sie ernst macht mit dem Gedanken, dass Menschen keine Weltfremdlinge (W. Welsch), sondern vom Genom bis zum Geist von Grund auf weltgeprägte Wesen sind. Insofern stellt ein ethischer Ansatz des „Sowohl-als-auch“ dann doch mehr als ein bloßes Abstoßen vom Humanismus dar: eine Dezentrierung des Menschen und dadurch einen nicht-dualistischen ethischen Ansatz, der nicht von vornherein Trennung voraussetzt, sondern möglichst integrierend vorgehen kann.
Eine posthumanistische Ethik operiert nicht mit übergreifenden, allgemeingültigen Strukturen und Prinzipien, die normalerweise eine humanistische Ontologie mit ihren Dualismen stützen, sondern versteht sich als Praxis, die direkt mit Leben selbst zu tun hat und ihren Platz auf der Seite unterdrückten Lebens findet, das in humanistischen Wissens- und Machtstrukturen nicht anerkannt oder als lebbar befunden werden kann, mit dem Ziel, das Anerkennungsspektrum zu erweitern.
Zum Schluss möchte ich eine Gegenfrage stellen: wo siehst Du die konkreten Kapazitäten oder die Substanz einer herkömmlichen Ethik in Anbetracht der oben genannten Herausforderungen? Du sprichst ja am Ende Deiner Antwort von gewissen Illegitimitäten, wie bspw. einer statischen Ich-Vorstellung oder einer generellen Degradierung anderer Geschöpfe, die es in einer Ethik zu vermeiden gilt. Sind aber nicht gerade diese Illegitimitäten – und ich möchte ergänzen: Dualismen – konstituierend für „herkömmliche Ansätze“ einer Ethik?
Jetzt bliebe noch darüber nachzudenken, was das alles mit Theologie zu tun hat. Aber das wäre Material für einen weiteren Text.
Dein, Bernhard
[1] Regina Ammicht Quinn, (Un)Ordnungen und Konversionen: Trans, Gender, Religion und Moral, in: G. Schreiber (Hg.), Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften, Berlin/Boston 2016, 441-459, hier 452.
Teil 2 des Briefwechsels findet sich hier.
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