Zur Zeit kann, wer will, in jedem Monat gleich mehrmals wissenschaftliche Tagungen zum Themenkomplex Flucht, Migration und Integration besuchen. Diese Themen sind derzeit derart prominent, dass man sich angesichts der großen Anzahl von interessanten Veranstaltungen sehr wählerisch zeigen muss. Am vergangenen Wochenende war es mir möglich, eine spannende politikwissenschaftliche Konferenz unter dem Titel „Nationale, europäische und internationale Herausforderungen der Flüchtlingsströme“ in Berlin zu besuchen. Das Programm findet sich hier.
Die Tagung war eine Veranstaltung von Politikwissenschaftlern (unterschiedlicher Teildisziplinen) für Politikwissenschaftler. Das heißt, die Fragen und Begriffe, denen man auf der Tagung begegnete, waren auch jene Fragen und Begriffe, die innerhalb der aktuellen Politikwissenschaft diskutiert werden. Dass die bundesdeutsche Politikwissenschaft als Disziplin sich derzeit selbst auch zum Gegenstand geworden ist (vgl. die hier dokumentierte Diskussion) war in den Pausengesprächen zu erfahren und spielte bei einer abendlichen Diskussionsrunde ebenfalls eine Rolle.
Die methodische und theoretische Vielfalt der Politikwissenschaft fand sich in den unterschiedlichen Vorträgen und Kommentaren wieder. Herausheben möchte ich im folgenden eine Auswahl von Fragestellungen, die mir relevant erscheinen. Selbstverständlich interessieren sich Politikwissenschaftler für den Staat und die Staatlichkeit. Der Staat sah und sieht sich im Gefolge der sog. Flüchtlingskrise mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Diese berühren unter anderem seine Fähigkeit, mit einer krisenhaft zugespitzten Situation erfolgreich umzugehen. Im Jargon der Politikwissenschaftler heißt dies: Der Staat lebt von einer Output-Legitimität. Die Herausforderungen schlagen aber auch durch auf die Wahl der Mittel, welche staatliche Stellen bei ihren Problemlösungsversuchen bereit sind zu wählen. Auf der Tagung kamen dabei die verschiedenen Ebenen des staatlichen Handelns zur Sprache: kommunal, national, transnational.
Auf der kommunalen Ebene hat die sog. Flüchtlingskrise dazu geführt, dass Behörden und Verwaltungen auf eine enge Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren angewiesen sind, z.B. wenn sie Flüchtlingsunterkünfte planen und einrichten. Priska Daphi (Uni Frankfurt) machte plausibel, dass die Art und Weise, wie Verwaltungen mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort kommunizieren entscheidend ist für die wohlwollende Aufnahme von Flüchtlingen in den Kommunen. Ina Radtke (Uni Potsdam) & Julia Fleischer (Uni Bergen) erläuterten, dass unterschiedliche Verwaltungen des Bundes und der Länder dazu neigen, ähnliche bürokratische Strategien der Problemlösung zu implementieren, z.B. in der Form einer ressortübergreifenden Koordination der diversen flüchtlingsbezogenen Fragen. Diese Strategien haben auch das Ziel, evtl. verlorengegangenen Legitimität durch möglichst effiziente Problemlösung wieder zurück zu gewinnen.
Auf der nationalen Ebene begegnet einem ständig die Frage nach der Inklusion und Exklusion bzw. nach der Grenze. Julia Schulze-Wessel (TU Dresden) wies darauf hin, dass die Grenze als Ort der Mobilitätskontrolle und damit auch des möglichen Ein- und Ausschlusses sich ausgeweitet hat zu einem geografisch breiten „Grenzraum“. In diesem können beständig Kontrollen der einen oder anderen Art durchgeführt werden. Diese Kontrollen werden selektiv auf bestimmte Gruppen angewandt, was unter normativen Gesichtspunkten fragwürdig erscheint. Christoph Michael (Uni Halle) schlug in eine ähnliche Kerbe, in dem er sich – auch an die politische Theorie gewandt – für eine „Aufweichung des methodischen Nationalismus“ aussprach. Gerade vor dem Hintergrund der grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen sei eine Theoriebildung jenseits des Nationalstaates geboten.
Normative Fragen bezogen auf ethisch vertretbares staatliches Handeln leuchteten auch im Beitrag von Peter Niesen (Uni Hamburg) durch. Dessen Kant-Lektüre führte aber nicht zu einem direkten Durchmarsch normativer Argumente von der kantischen Rechtslehre hinein in den politischen Alltag des 21. Jahrhunderts. Die Möglichkeiten, sich in der Migrationsfrage mit normativen Argumenten plausibel zu Wort zu melden sind offenbar begrenzt. Auf jeden Fall ließe sich nicht mit Eindeutigkeit sagen, so Niesen, welchen Standpunkt Kant (es ließe sich erweitern: de Vitoria, Pufendorf usw.) in der heutigen Situation einnehmen würde. Oliviero Angeli (TU Dresden) schloss sich dieser Meinung an, in dem er einen normativen Ansatz vorschlug, der sich weniger an normativen Prinzipien und deren unmittelbaren Durchsetzung orientierte. Vielmehr sei auf die normativ imprägnierte Praxis zu schauen im Sinne einer „nicht-idealen Theorie“, so Karsten Fischer (Uni München) in seinem Kommentar. Es kommt bei der Suche nach dem adäquaten politischen Handeln damit zu einem produktiven Zusammenspiel von Norm und Praxis, von Ideal und Alltag, von Theorie und Handeln.
Die sog. Flüchtlingskrise ist aber selbstverständlich keine rein nationale Herausforderung. Mehrere Beiträge gingen auf die europäische Dimension der Problematik ein. Dabei wurde immer wieder der Vergleich gezogen zum Krisenmanagement während der Eurokrise. Bei der Eurokrise – so der einhellige Befund von Frank Schimmelfennig (ETH Zürich) bzw. Philipp Genschel (EUI Florenz) & Markus Jachtenfuchs (Hertie School, Berlin) – habe die (zeitweise) Lösung weitere Schritte der institutionellen Integration beinhaltet. In der sog. Flüchtlingskrise sei aber gerade das Gegenteil zu beobachten. Auch aufgrund innenpolitischer Erwägungen und der verhältnismäßig geringen „Kosten“ favorisieren viele EU-Mitgliedsstaaten de facto eine Renationalisierung von Politiken. Diese macht sich dann u.a. in der Rückkehr manifester Grenzen bemerkbar.
Immer wieder stand auch die Frage im Raum, inwiefern man sich eine Politisierung der europäischen Bevölkerung in der Migrationsfrage wünschen solle. Dass diese Politisierung de facto statt findet und auch kaum steuerbar ist, darauf machte Tanja Börzel ( FU Berlin) aufmerksam. Michael Zürn (WZB Berlin) sprach sich für eine pro-aktive Politisierung aus. Die Frage ist aber, ob aus einer solchen Politisierung nur die Populisten – Claudia Landwehr (Uni Mainz) kennzeichnete diese durch ein instrumentelles Demokratieverständnis – ihren Vorteil ziehen oder ob sich die Situation auch – normativ betrachtet – positiv im Sinne eines politischen Liberalismus nutzen lässt. Freilich, und hier herrschte verblüffende Einigkeit – kann die liberal motivierte Politisierung zwar eine wohlwollende Konnotation der „positiven Leitidee Europa“ (Beate Kohler, Uni Mannheim) unterstützen. Sie sollte aber nicht vorrangig zu weiteren Integrationsschritten genutzt werden, denn diese würden den mentalen „Nachhinkeffekt“ (N. Elias) vieler Europäerinnen und Europäer in deren Unterstützung supranationaler Institutionen nur noch verstärken.
Auf einer politikwissenschaftlichen Tagung wird natürlich auch viel über Begriffe gesprochen. Dies zeigte schon das Beispiel des Politisierungsbegriffs. Mit der Nutzung des Begriffs der „Flüchtlingskrise“ war man zögerlich, obwohl auch objektive Gründe für die Nutzung des Krisenbegriffs vorgebracht wurden. Ironischerweise hatte man keine Bedenken im Titel der Tagung metaphorisch aufgeladen von „Flüchtlingsströmen“ zu sprechen. Im Verlauf der Veranstaltung wurden auch andere Metaphern wie „Wellen“ benutzt; hier scheint noch etwas differenzierende begriffliche Arbeit von Nöten zu sein.
Auffallend war auf der Tagung das fast gänzliche Fehlen einer internationalen Dimension jenseits des europäischen Kontextes. Ausnahme war hier eine Präsentation von Andrea Baier et. al. zum Einfluss von Migration auf die Transformation staatlicher Ordnung im Herkunftsland. Die internationale Dimension war im Titel der Tagung angekündigt und wäre aus sachlichen Gründen („Fluchtursachen“) auch zwingend gewesen. Scheinbar wird der methodische Nationalismus, von dem schon die Rede war, durch eine Verengung auf die europäische Dimension von Flucht und Migration ergänzt.
Einigen Beiträgen merkte man an, dass die sog. Flüchtlingskrise für die Politikwissenschaft letztlich überraschend kam. Alfons Söllner (TU Chemnitz) verwies in seinem Beitrag zwar auf die Kontinuität der Problematik. Diese Kontinuität der Problematik hatte in der Vergangenheit aber offenbar keine Kontinuität der politikwissenschaftlichen Bearbeitung der Migrationsfrage bewirkt. So gesehen kann die Tagung auch als der Anfang eines hoffentlich längerfristigen Interesses der politikwissenschaftlichen Disziplin an Fragen von Flucht, Migration und Integration verstanden werden; auch dann, wenn man in Politik und Verwaltung wieder aus dem Krisen- in den Alltagsmodus zurückgekehrt sein wird.
Dieser Tagungsbericht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund parallel ablaufender Veranstaltungen wäre ein solcher auch nicht erfüllbar. Wenn ich also verschiedene Vortragende nicht erwähnt habe, liegt darin kein Ausdruck von geringer Wertschätzung!
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