Praktische Hinweise zur Gestaltung der Kar- und Ostertage zu Hause

Wie kann man die Kar- und Ostertage verbringen, wenn keine Gottesdienste in den Kirchen gefeiert werden?

Anbei folgen einige praktische Hinweise – von einem Laien für die Laien – mit denen man sehr individuell umgehen kann.  Wählen Sie einfach aus, was zu Ihnen und Ihrer Situation passt.

Im folgenden steht EG für Evangelisches Gesangbuch und GL für katholisches Gotteslob. Sie können die Bibelversion nutzen, die Sie gewohnt sind, gerne auch online. Die abgedruckten Gebete stammen entweder aus dem katholischen Benediktionale oder aus dem katholischen Messbuch.

Palmsonntag

Nutzen Sie einfach einen der vielen Vorschläge im Netz für Hausgottesdienste, z.B. die hilfreichen Tipps des Bistums Hildesheim bzw. des Erzbistums Freiburg. Hinweise zu den Lesungen für die Kar- und Ostertage gibt es auch beim Katholischen Bibelwerk. Wenn Sie mögen, schneiden Sie sich den Zweig eines Buchsbaums oder einer anderen immergrünen Pflanze aus dem Garten und legen sie ihn auf den Tisch.

Gründonnerstag

Auch hier können Sie wieder einen der vielen liturgischen Vorschläge nutzen, z.B. jene des katholischen Deutschen Liturgischen Instituts.

Sie können aber auch ganz sparsam vorgehen und einfach nur das Evangelium vom Gründonnerstagabend gemeinsam lesen; gerne auch in verteilten Rollen: Erzählerin, Jesus, ein Jünger, Pilatus, … .

Zum Tagesevangelium passt in diesem Jahr besonders der Ritus der Fußwaschung. Diese kann man auch zu Hause durchführen. In diesen Zeiten der sozialen und körperlichen Distanzierung ist es sogar ein schönes Zeichen, wenn man anderen Menschen in der Hausgemeinschaft die Füße wäscht. Vorschlag: Sollten Sie alleine zu Hause sein, können Sie auch ein warmes Fußbad nehmen.

Sie können in den Abendstunden ein schönes Essen, sozusagen ein „Abendmahl“, gemeinsam einnehmen. Beten Sie vor und nach der Mahlzeit ein Tischgebet. Im Verlauf des Essens können Sie eines der anderen Evangelien zum Abend lesen, z.B. Markus 13, 12-25. Gönnen Sie sich ein Glas Wein oder Traubensaft und denken dabei an den Abend, den Jesus mit seinen Jüngern bei Tisch verbrachte. Wenn Sie alleine sind, können Sie sich telefonisch oder über Skype mit einer anderen Person verabreden und so gemeinsam den Abend verbringen. 

Für den späteren Abend eignet sich eine „Nachtwache“.  Diese kann beliebig lang sein. Setzen Sie sich einfach, wenn bei Ihnen Ruhe eingekehrt ist, auf einen bequemen Stuhl, zünden eine Kerze an (gerne auch LED) und lesen z.B. Mk. 13, 26-72. Anschließend halten Sie etwas Stille. Auf diese Weise hat man Anteil an der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallt.“ (Mk 14, 38). Wer will kann zu Beginn und zum Abschluss den schönen Taizé-Gesang „Bleibet hier“ singen (EG 787, 2/ GL 286).

Karfreitag

Soweit es Ihnen in der momentanen Situation möglich ist: Nutzen Sie den Tag für einen Spaziergang. Besuchen Sie vielleicht eine Kirche, die offen steht. Essen Sie zu Mittag nur eine Suppe. Schränken Sie Ihre Medien- und Smartphonenutzung ein.

Legen Sie zur Todesstunde Jesu (15:00 Uhr) ein Holzkreuz in Ihre Mitte. Lesen Sie eine der Passionsgeschichten, z.B. Lk. 22, 39 – 23, 55, gerne wieder in verteilten Rollen.

Beten Sie anschließend für andere Menschen:

  • für Menschen, die das Wirken der Kirche(n) mittragen,
  • für Menschen in Ihrer Kommune und Nachbarschaft,
  • für Menschen in Not,
  • für kranke Menschen und jene, die sich um sie kümmern, besonders für alle Menschen, die an COVID-19 erkrankt sind und deren Helferinnen und Helfer,
  • für Ihre Familienangehörigen und befreundete Personen,
  • für die Gläubigen anderer Religionen, 
  • für Menschen, die Verantwortung für andere tragen,
  • für die Toten und die Trauernden.

Schließen Sie mit einem ‚Vater unser‘.

Karsamstag

Kennen Sie schon den Ritus der Speisesegnung? Tragen Sie dafür verschiedene Speisen für das Osterfrühstück in einem geschmückten Korb zusammen:

  • ein Osterbrot – das lässt sich auch mit Kindern zusammen backen – ;
  • etwas Wurst und Käse;
  • Eier, gerne auch gefärbt und aus Schokolade;
  • was Sie sonst noch so gerne essen.

Beten (oder singen) Sie aus Psalm 145:

„Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.“

und/oder

„Herr, du bist nach deiner Auferstehung deinen Jüngern erschienen und hast mit ihnen gegessen. Du hast uns zu deinem Tisch geladen und das Ostermahl mit uns gefeiert. Segne + dieses Brot, die Eier, das Fleisch und all die anderen Speisen und sei auch beim österlichen Mahl in unseren Häusern unter uns gegenwärtig. Lass uns wachsen in der geschwisterlichen Liebe und in der österlichen Freude und versammle uns alle zu deinem ewigen Ostermahl, der du lebst und herrschst in alle Ewigkeit.“

 

Osternacht

Vielleicht hatten Sie in den vergangenen Tagen Zeit, eine Osterkerze zu gestalten. Wenn nicht, dann nehmen Sie einfach eine Kerze zur Hand, sagen zu ihr: „Du bist meine Osterkerze.“ Voilà: Sie haben eine Osterkerze!

Sobald es in der Nacht von Samstag auf Sonntag dunkel ist, können Sie Ihre Kerze entzünden. Stellen Sie die Kerze in ein Glas und gehen Sie damit auf den Balkon, auf die Terrasse oder in den Garten. Sie können beten:

„Allmächtiger, ewiger Gott. Du hast durch Christus allen, die an dich glauben, das Licht deiner Herrlichkeit geschenkt. Segne dieses neue Licht, das die Nacht erhellt, und entflamme in uns die Sehnsucht nach dir, dem unvergänglichen Licht, damit wir mit reinem Herzen zum ewigen Osterfest gelangen. Darum bitten wir durch Jesus Christus, unseren Bruder und Herrn. Amen“

Anschließend gehen Sie an Ihren Küchentisch, stellen die Kerze dort ab. Sie können den kurzen Osterhymnus singen: „Christ ist erstanden“ (GL318/19 bzw. EG 99).

Wählen Sie einen „Halleluja“-Gesang aus, der Ihnen gefällt, z.B. GL 174/175 bzw. EG 181. Anschließend lesen Sie das Osterevangelium: Mt. 28, 1-10. Was sagt Ihnen dieses Evangelium in der Situation, in der Sie sich gerade befinden?

Es kann ein Gebet folgen, z.B. angelehnt an das katholische Messbuch:

„Gott. Du bist deinem Volk nahe, das wachend und betend diese Osternacht feiert. Du hast uns wunderbar geschaffen und noch wunderbarer wieder hergestellt. Wir denken an deine großen Taten und bitten dich: …“

– für alle Christinnen und Christen auf der Welt, besonders für jene die in diesem Jahr keine Osterliturgie feiern können: wg. der Corona-Pandemie, weil es in ihrem Land keine Religionsfreiheit gibt, weil Konflikte das soziale Leben lähmen.

– für die Familie, die Nachbarn, Freunde und besonders für die Älteren und Einsamen unter uns: dass die Osterfreude vor keinem Halt macht;

– für die Menschen in den Krankenhäusern: dass die Kranken genesen und die, die sie pflegen und versorgen, geschützt sind;

– für Menschen, die in Kriegsgebieten leben: dass sie Frieden erfahren;

– für Menschen, die besonderen Trost benötigen: nennen Sie gerne Namen;

– für unsere Toten.

Schließen Sie mit einem Vater unser.

Sprechen Sie gemeinsam das Segensgebet, das Paulus in seinem 2. Korintherbrief formulierte:

„Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen“

Genießen Sie jetzt gerne die hereinbrechende Nacht bei einem Glas Wein, einer Limo und schauen Sie Ihrer Osterkerze zu, wie sie herunterbrennt. Haben Sie Kinder im Haus? Vergessen Sie dann nicht die Ostereier zu verstecken für den Ostermorgen. Freuen Sie sich auf das Osterfrühstück.

Ostersonntag & Ostermontag

Wählen Sie einen von den vielen liturgischen Vorschläge, wie sie im Netz zu finden sind. Oder Sie lesen einfach eines der Osterevangelien, z.B. Joh. 20, 1-18, und singen dazu ein ‚Halleluja‘.

Für den Ostermontag eignet sich besonders die Emmaus-Geschichte in Lk. 24, 13-35.

Frohe Ostern!

 

Für die regelmäßige Leserschaft: Nach den Ostertagen werden hier wieder reguläre rotsinn-Beiträge erscheinen.

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Aus dem Leben eines Ritualdesigners

Ich sei ein Ritualdesigner, sagte man mir die Tage einmal.

Das Wort blieb bei mir hängen. Ich frage mich: Was tue ich genau, was mit Ritualen und ihrem Design zu tun hat? Warum handle ich so, wie ich es tue?

Rituale prägen unterschiedliche „Anlässe und Zwecke“, wie ich in einem Lexikonartikel nachlese (Bernhard Lang: Ritual/Ritus, in: Cancik/Gladigow/Kohl: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band IV, 1998: 450). Rituale können zyklisch also wiederkehrend vorkommen oder einmalig sein (ebd. 451). Solche Anlässe oder Zwecke von Ritualen können mit Erinnerung zu tun haben oder persönliche und kollektive Übergänge biografischer Natur markieren. In dem erwähnten Artikel werden eine Reihe weitere Anlässe aufgeführt.

Ich bin kein Religionswissenschaftler oder Ethnologe. Doch anekdotische Alltagserfahrungen haben mich gelehrt, dass überall dort, wo ich mich eines gewissen Ereignisses erinnere – entweder im individuellen/familiären Kontext oder als Teil einer größerer Gemeinschaft – Rituale ins Spiel kommen. Beispiele sind: Geburtstage, Namenstage, Hochzeitstag, Allerseelen, Weltkriegsgedenken, Nationalfeiertag. Ritualisierung geschieht auch bei absehbaren Übergangserfahrungen, bei den Schwellen zwischen dem einen und dem anderen biografischen Stadium. Meiner Erfahrung nach überlappen sich hier oft individuelle Sphäre und kollektive Sphäre. Man bleibt bei diesen sog. „rite du passage“ also nicht unter sich, sondern feiert den Übergang als Teil einer Gemeinschaft: zum Beispiel Taufe, Erstkommunion, Firmung/Konfirmation, Hochzeit, Bestattung. In anderen Kontexten auch Jugendweihe, Beschneidung, Bat Mizwa usw.

Das Interessante an diesen Ritualen ist: Sie erwecken den Anschein einer großen Selbstverständlichkeit und Formalität. Rituale unterliegen bestimmten Regeln, die ihnen eine Orientierungsfunktion in Phasen größererUngewissenheit verleihen sollen. Rituale wirken ehrwürdig, alt, bewahrenswert. Doch auch diese konventionellen, regelhaften Rituale sind historisch gewachsen, haben sich weiterentwickelt, unterliegen wie alles historisch Gewachsene einem mehr oder minder bewussten Design. Rituale fallen nicht vom Himmel.

Historisch lässt sich dies gut an dem Beispiel der sogenannten Ritualisten sehen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der anglikanischen Kirche bewusste Ritualneuerung betrieben. Dies taten sie aber immer mit dem Selbstverständnis und dem Selbstbild, dass sie auf alte kirchliche Traditionen zurückgreifen würden. Die neuen/alten Rituale sorgten in der anglikanischen Kirche zeitweilig dann auch für gehörigen Wirbel. Denn an den äußeren Ritualen vermutete man den inneren Geist einer Person ablesen zu können. Ritualpraxis und Ritualpolitik liegen gelegentlich eng beieinander.

Ritualdesigner geben sich also gerne als Traditionalisten aus, sind dabei aber sehr innovativ unterwegs. Normatives und Kontingentes gehen bei dieser „Arbeit am Ritual“ (ebd. 458) Hand in Hand. Es gibt die Ritualdesigner innerhalb der Religionsgemeinschaften. Aber auch außerhalb von Religionen werden weiterhin viele Rituale erfunden, designed, in die Welt gesetzt. Das macht ein Sammelband aus dem Jahr 2012 zum Thema deutlich. Wer Rituale bewusst designed, intendiert einen Zuwachs an Sinn und Bedeutung für Erfahrungen der empfundenen Erinnerung, des empfundenen Übergangs, der Wiederholung. In der Religion und außerhalb der Religion.

Ritualdesign ist dabei immer auch Alltagsgestaltung. Das macht sie auch für Laien wie mich interessant. Denn im Alltag bewährt sich das, was das Ritual in Erinnerung rufen möchte. Und das Ritual hilft dem Alltag zu einer gewissen Struktur. Designte Rituale entstammen also dem Bedürfnis, dem Alltag an gewissen Nahtstellen Sinn und Bedeutung zuzuschreiben: in Worten, in Handlungen, in sich wiederholender Performanz. Eine Kerze anzünden, ein Gebet sprechen, auf die Knie gehen, ein Lied singen u.v.a.m. Das Leben eines Ritualdesignern überbrückt ständig den Graben zwischen alt und neu, Tradition und Innovation. Gut ist, wenn man sich dessen bewusst ist.

Parlamentarische Prozeduren und kirchliche Liturgie. Eine Notiz im Nachgang zur „Brexit“-Abstimmung im britischen Parlament.

Wer gestern Abend der Debatte im britischen Parlament zusah, der wird sich viele Fragen gestellt haben. Ich meine nun zur Abwechslung nicht die inhaltlichen Fragen zu den widerstreitenden Argumenten für oder wider der unterschiedlichen Möglichkeiten des (Nicht-)Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. Ich meine vielmehr Fragen zu den verwirrend vielfältigen parlamentarischen Prozeduren im „House of Commons“. Für Uneingeweihte – zu denen ich auch selber gehöre – sah dies alles schon sehr exotisch, exzentrisch, auf jeden Fall aber auch hoch interessant aus.

Die parlamentarischen Prozeduren erwecken – formal betrachtet – den Eindruck einer Ähnlichkeit mit der kirchlichen Liturgie. Folgende Ähnlichkeiten sind mir spontan aufgefallen:

  • Die Kenntnis der Prozeduren wird als bekannt vorausgesetzt.
  • Es gibt einen eigenen Begriffsapparat, der Uneingeweihten auf den ersten Blick sehr fremd erscheint.
  • „Wächter“ fordern die Einhaltung der Regeln ein, wobei der „Speaker of the House“ der Hüter der Prozeduren im britischen Parlament ist und überhaupt der Garant für den ordentlichen Ablauf einer Parlamentsdebatte („Order!“).
  • Es gibt eine eigene, formell wie informell verregelte Praxis, die von allen Anwesenden mit den Jahren eingeübt wird und die Uneingeweihten auf den ersten Blick ebenfalls fremd erscheinen muss.
  • Das Geschehen ist in der Regel öffentlich; jede und jeder hat Zugang, solange es der Platz erlaubt.
  • Über all die Fragen der Prozeduren und Rituale wird geforscht und geschrieben. Sie sind Bestandteil einer wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion.
  • Sowohl die parlamentarische Prozeduren als auch die kirchliche Liturgie entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter.

Wer sich etwas einlesen möchte, dem sei das ausführliche Glossar auf der Seite des britischen Parlaments zur Lektüre empfohlen. Für die kirchliche Liturgie gibt es ebenfalls viele Einführungen; hier der Verweis zu einer quasi amtlichen Einführung in den Ablauf der römisch-katholischen Liturgie im deutschen Sprachraum.

Das theoretische Wissen sollte aber bei nächster Gelegenheit durch eine praktische Anschauung ergänzt werden. Die gestrige Parlamentsdebatte bot dazu reichlich Gelegenheit; der nächste Sonntagsgottesdienst tut es auch.

„Der Augenblick, das wunderliche Ding“. Über den Zusammenhang von Tanz, Politik und Liturgie.

Gliederung:

1. Der Augenblick im Tanz

2. Der Augenblick in der Liturgie

3. Der Augenblick in der Politik

 

1. Der Augenblick im Tanz

Das klassische Ballett arbeitet mit lauter Höhepunkten, in denen sich der Tanz zu ästhetischen Gipfeln aufschwingt. Ich darf aus einem Aufsatz von Gabriele Brandstetter zum Thema zitieren: „Im erfüllten Augenblick offenbart sich die Schönheit der an die zeitliche Sukzession gebundenen tänzerischen Bewegung.“ (Brandstetter, Gabriele 1984: Elevation und Transparenz. Der Augenblick im Ballett und modernen Bühnentanz, in: Thomsen, Christan & Holländer, Hans (Hrsg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt, 476) Es geht also in diesem Kontext weniger um den Augenblick im Verlauf einer Geschichte im klassischen Erzählballett. Vielmehr geht es um den Augenblick als der Offenbarung einer Schönheit von Bewegung. Bewegung verdichtet sich im Augenblick zu einer ästhetischen Klimax.

Diese ästhetische Verdichtung geschieht im klassischen Tanz u.a. in der sogenannten Elevation. Elevation heißt im Tanz soviel wie die Erhebung des Körpers und die scheinbare Aufhebung der Schwerkraft darin. Im pas de deux hebt normalerweise der Mann die Frau in Höhe; im Solo der Frau befindet sich diese unablässig en point, auf den Zehenspitzen; und das Solo des Mannes zeichnet sich gewöhnlich durch phänomenale Luftsprünge aus. All diese Elevationen des klassischen Balletts versuchen einen „Schein totaler Freiheit in der Schwerelosigkeit“ (ebd. 477) aufzubauen. Die bleibende Schwere des Körperlichen hat aber zur Folge, daß dieser Schein der Freiheit nur für den Bruchteil einer Sekunde aufrechterhalten werden kann. Der Körper wird schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Aufgrund der tatsächlichen Schwere des Körpers ist die Elevation also ein zeitlich kurzer Moment.

Die Elevation geschieht aber nicht nur in einem kurzen Moment. Sie ist zur gleichen Zeit ein wunderlicher Augenblick, da in ihr der Höhepunkt des schönen Scheins dem Zuschauer offenbar wird. „Das Prinzip der Elevation strebt nach dem Paradox eines Augenblicks der gleichsam gedehnten Sekunde, in der die Bindung an die Schwerkraft aufgehoben ist und der Schein der Ewigkeit dieser (körperlichen) Freiheit für einen Moment aufleuchtet.“ (ebd. 478) Von dem französischen Tänzer Auguste Vestris wird dann auch die Geschichte erzählt, er sei nach einer Elevation jeweils nur aus Rücksicht und Höflichkeit gegenüber seinen Kollegen auf den Bühnenboden zurückgekehrt. In einem älteren englischsprachigen Nachschlagewerk findet sich dazu folgender kurzer Text:

Elevation, term applied to all aerial movements as opposed to terre à terre movements in which the feet barely leave the ground. Nijinski, who was possessed of phenomenal elevation, was (erroneously) said to have had the power to remain at the highest point of ascent for a fraction of a second before he descended (a physical impossibility). Whilst there are countless testimonies of Nijinski’s prowess, there are none to Gaetano Vestris’s claim that ‘If my son (Auguste Vestris) ever comes to earth it is only out of courtesy to his colleagues.’” (in: G.B.L. Wilson 1957: A Dictionary of Ballett, London, 111).

Die Botschaft des klassischen Ballett heißt also, daß der Augenblick der Elevation der Höhepunkt des Tanzes ist. Und ein guter Tänzer ist jener, der diesem Augenblick auch noch den allerletzten ästhetischen Reiz abringen kann und die Zuschauer zur Verzückung bringt.

2. Der Augenblick in der Liturgie

Der Titel dieses Beitrags – „der Augenblick, das wunderliche Ding“ – ist einem Dialog des Platons entnommen. In seinem „Parmenides“ bedenkt der Grieche die Frage, was denn den Übergang von der Ruhe zur Bewegung ausmache. „Wann also geht es über?“ läßt Platon fragen, und er gibt die Antwort: „Dieses wunderbare Wesen, der Augenblick, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend.“ ( §3.3.) Im Augenblick, in dem was außer aller Zeit ist geschieht eine Verwandlung. Das ist kein Prozeß, der da vonstatten geht und keine allmähliche Veränderung, sondern einfach so wird im Augenblick aus Ruhe Bewegung, aus Nichts wird Sein. Es wird etwas Neues. Der Augenblick ist somit nicht einfach der Höhepunkt einer prozeßhaften Entwicklung wie bisher geschildert, sondern der Augenblick ist Höhepunkt und Wandlungspunkt zugleich.

Schlägt man im Duden unter dem Stichwort „Elevation“ nach, so findet sich keinerlei Verweis auf den Tanz. Vielmehr findet sich folgender Eintrag: „Elevation; lateinisch für ‚Erhebung’; Emporheben der Hostie und des Kelches beim katholischen Meßopfer.“ Der Begriff der Elevation entstammt also dem Repertoire der liturgischen Choreographie in der Feier der Messe.

Lassen Sie mich in aller Kürze den Kontext erklären: Die Messe besteht aus zwei Teilen: Erstens dem „Sakrament des Wortes“ (Alexander Schmemann) mit Lesungen, Gesängen und der Predigt; und zweitens dem Sakrament des Altars mit dem großen Dankgebet, dem Vater Unser und der Kommunion. Das große Dankgebet im zweiten Teil der Liturgie wird vom Priester gesprochen bzw. gesungen, wobei er heutzutage hinter dem Altar steht mit dem Blick zur Gemeinde. Im Rahmen dieses längeren Gebetes spricht der Priester eine Gedächtnisformel, die das letzte Abendmahl Jesu Christi mit seinen Jüngern vor dessen Tod in Erinnerung ruft. Der Priester nimmt dabei nacheinander erst die Hostie, danach den Kelch mit Wein in die Hände und wiederholt die Worte, die Jesus nach biblischer Überlieferung selbst gesagt haben soll. Ich zitiere nach dem römisch-katholischen Meßbuch: „ In der Nacht, da er verraten wurde, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es und reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon. Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Ganz ähnliche Worte spricht der Priester einen Moment später hinsichtlich des Kelches mit Wein. Jeweils nach dieser Sentenz bricht der Priester ab, hebt jeweils Hostie und Wein in die Höhe, d.h. er eleviert sie. Wahlweise erklingen Schellen, ein Gong oder die Kirchenglocken, denn: in diesem Augenblick der Elevation geschieht die Wandlung: Hostie wird zu Leib Christi und Wein wird zu Blut Christi. (So auf jeden Fall eine klassische Lesart dieses Ritus.)

Das muß man nicht verstehen, und solange man nicht römisch-katholisch ist muß man das auch nicht glauben. Es ist aber geradewegs verblüffend wie strukturähnlich die Elevationen im Tanz sowie in der Liturgie sind. Im klassischen Ballett markiert die Elevation einen ästhetischen Höhepunkt. Im liturgischen Ballett markiert die Elevation einen liturgischen Höhepunkt wie auch einen Wendepunkt der religiösen Erfahrung. Dank einer Intervention der Ewigkeit, so das Verständnis, geschieht das Wunder einer Verwandlung in der Zeit. Die Elevation ist sowohl im Tanz als auch in der Liturgie der körperliche Ausdruck eines wahrlich wichtigen Geschehens. Die tänzerische Elevation vermittelt die Botschaft: „Schau her, was ich kann!“ Die liturgische Elevation spricht aus: „Schau her, was Gott kann! Er macht alles neu!“

Höhepunkt und Wandlungspunkt geschehen dabei in einem Augenblick, der mehr ist als ein zeitlicher Moment. Der Augenblick ist mit einer Botschaft aufgeladen und kommt ziemlich schwergewichtig daher. Der Augenblick besitzt Autorität und will, daß man diese Autorität anerkennt. Deshalb wird im Ballett Szenenapplaus gegeben, in der Liturgie erklingen die Glocken. Und der Zuschauer beim Tanz sowie die Gemeinde in der Liturgie, beide werden den Augenblick der Elevation aufmerksam erspähen, wenn sie auch sonst etwas müde dahindämmern. Der Augenblick reckt sich förmlich aus der Zeit hervor, und um ihn herum versinkt alles in bloße Belanglosigkeit: sei es der corps de ballet, der artig am Bühnenrand aufdrappiert ist oder seien es die Meßdiener, die im Altarraum knien. Alle sind förmlich gebannt oder sollten es wenigstens sein. Denn: seht: es ist der Augenblick. Der macht alles neu.

3. Der Augenblick in der Politik

Die Leser und Lesserinnen werden überrascht sein, wenn ich ihnen nun sage, daß wir vom Augenblick in der Politik gar nicht mehr weit entfernt sind. Lassen Sie mich nur kurz festhalten, daß ein flüchtiger Blick auf Tanz und Liturgie gezeigt hat, daß der Augenblick nicht einfach ein zeitlicher Moment ist, sondern – so auf jeden Fall die Theorie – ein mit Inhalt und Autorität gefüllter Höhepunkt und Wandlungspunkt.

Im Herbst 2005 gab es in unserem Land vorgezogene Neuwahlen zum Bundestag. Zu dieser Sturzgeburt einer Wahl kam es, da die Parteien im Parlament einen großen Handlungsbedarf sahen. Die Botschaft der Opposition (CDU & FDP) war, daß es für einen Regierungswechsel höchste Zeit sei, damit es mit dem Land wieder aufwärts gehen könne. Die Botschaft der Regierung (SPD & Grüne) war, daß es eigentlich keinen Handlungsbedarf gebe, man sich aber aufgrund der einsamen Entscheidung eines einzigen Mannes (Gerhard Schröder) auf ein solches Abenteuer einlasse.

Das damalige Staatsoberhaupt (Horst Köhler) gab dem ganzen Katzenjammer sein Plazet mit den Worten: „Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.“

Diese Worte sollten in diesem historischen Augenblick allen Leuten klar machen: Wir stehen in einer Zeit der Entscheidung. Das Schicksal des Landes steht auf dem Spiel, und deswegen benötigt das Land ein starke Führung. Noch einmal die Worte des damaligen Bundespräsidenten: „In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann.“ Und er schloß seine Ansprache vom 21. Juli 2005 mit den Worten: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, jetzt haben Sie es in der Hand. Schauen Sie bitte genau hin. Demokratie heißt, die Wahl zu haben zwischen politischen Alternativen. Machen Sie von Ihrem Wahlrecht sorgsam Gebrauch.“

In dieser Zeit der Entscheidung hatten wir, die Bürger, die Entscheidung. Doch welcher Art der Entscheidung war dies? Es war ein Augenblick der Entscheidung. Die Zeit der Entscheidung ist nämlich der Augenblick. Es ist der sogenannte kairos, der griechische Gott, der auf Messerscheide tanzt. Im kairos herrscht ein scheinbar klares Entweder – Oder; eine simple Einteilung der Welt in den Dualismus von Freund und Feind, Regierung und Opposition. Nach einer jeden Wahl wissen wir, daß es mit dieser Klarheit und Simplizität der Entscheidung oftmals nicht weither ist. Doch vor der Wahl wird einem immer wieder eine klare Struktur vorgetäuscht: Entweder Stillstand oder Wandel! Entweder soziale Kälte oder soziale Gerechtigkeit! Und in der Wahlkabine hat die Wählerin dann zwar die Auswahl zwischen recht vielen Gruppierungen, doch eigentlich geht es nur um die Alternative: Entweder – Oder. Und der Augenblick in der Politik versucht die Bürgerin stets mit einem solchen Entweder – Oder zu konfrontieren. Jeder Kompromiß ist ein fauler Kompromiß. Er darf nicht sein. Darum flüstert der Augenblick der Entscheidung uns ins Ohr: Wähle! Tue es jetzt oder nie!

Die Worte des Präsidenten wie die Kommentare vieler Zeitungskolumnen im August und September 2005 waren der Meinung, daß es bei dieser Entscheidung um sehr viel ging, wenn nicht sogar um alles. Die bevorstehende Entscheidung wurde mitunter schon zur Schicksalsfrage einer ganzen Nation stilisiert. So führte der „Rheinische Merkur“ – inzwischen auch Teil der Geschichte – wenige Tage vor der Wahl einen zusätzlichen Bund mit der Überschrift: „Wahl 2005: Die Entscheidung“ und fragte: „Wohin steuert die Republik?“

Die Entscheidung ist folglich nichts für Nervenschwache, sondern es geht hier um eine alles entscheidende Entscheidung. Dazu bedarf es klarer Verhältnisse und einer starken Hand. Eine Besinnung auf das Notwendige und Unausweichliche tut not, auf daß man mit dem Augenblick der Entscheidung tatkräftig voranschreiten kann in das neue, gelobte Land. Von diesem „es geht um Alles“ gewinnt der Augenblick der Entscheidung eine Autorität, die zusammenzucken läßt. Man fürchtet sich vor ihm und versucht ihm auszuweichen. Doch der Augenblick packt uns am Kragen und will alles, und er will es jetzt.

Wenn wir nun all die genannten Punkte zusammenfassen zu einer Beschreibung des Augenblicks, dann lassen sich vier Seiten des Phänomens aufzeigen: Erstens, der Augenblick ist der Höhepunkt einer Entwicklung. Er steht an der Spitze eines mitunter dramatischen Prozesses. Im Augenblick erklimmt der Tanz, die Liturgie und die Politik den Gipfel der eigenen Berufung. Als Elevation, als Wahl. Zweitens, der Augenblick ist der Ort der Verwandlung. Im Augenblick entsteht etwas Neues; in ihm geschieht die Geburt einer neuen Schöpfung und der Anfang eines neuen Zeitalters. Mit großen Versprechungen einer grandiosen Zukunft wartet der Augenblick auf. In der Liturgie ist diese Zukunft letztlich außerhalb der Reichweite des Menschen. In der Politik wird diese neue Zukunft zu gewissen Zeiten regelrecht heraufbeschwört in dem Augenblick der Entscheidung. Drittens, dieser Augenblick der Entscheidung reduziert die Wirklichkeit auf ein klares Entweder – Oder. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Pakte werden nicht mehr geschlossen, sondern der Feind muß klar ins Auge gefaßt werden. Und viertens, der Augenblick der Entscheidung kommt daher mit dem Gewicht dessen, der sich seiner Wichtigkeit bewußt ist. Nicht mehr länger stehen nur noch technische Detailfragen auf dem Spiel, sondern es geht nun um schlichtweg Alles, die Welt, das Leben, einfach Alles.

Der Augenblick ist also durchaus ein wunderliches Ding. Er ist aber auch ein ganz und gar nicht unschuldiges Wesen. Er ist vielmehr sehr ambivalent. Der Augenblick verspricht viel, fordert aber auch viel. Auch trägt der Augenblick den ein oder anderen Degen verdeckt unter seinem Mantel. Ich darf hier den dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard zitieren, der maßgeblich zum Verständnis des Augenblicks beigetragen hat. Zum Ende seines kurzen Lebens veröffentlicht er in einer Flugschrift namens „Der Augenblick“ folgende Passage:

„Die weltliche Klugheit starrt und starrt auf Begebenheiten und Umstände, rechnet und rechnet, in der Meinung, sie könne den Augenblick aus den Umständen herausdestillieren, könne dann selber eine Macht werden mit Hilfe des Augenblicks, diesem Durchbruch des Ewigen, könne sich verjüngen, wessen sie höchlichst bedarf, mit Hilfe des Neuen.“ (Kierkegaard, Sören 1985: Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits, Gütersloh, 326)

Kierkegaard war sich der machtvollen Ausstrahlung des Augenblicks bewußt. Der theologische Gedanke einer Neuschöpfung, der im Augenblick implizit vorhanden ist, muß für die ‚weltliche Klugheit’, in unserem Zusammenhang: die Politik sehr verführerisch sein. Deshalb versucht man sich die Ausstrahlung des Augenblicks anzueignen. Die Politik ist versucht, den „Durchbruch des Ewigen“ vor den eigenen Wagen zu spannen, um mit dieser alle Widerstände in Grund und Boden fahren zu können. Das, was nach Platon „außer aller Zeit“ ist, der Augenblick, er wird in die Zeit gezwungen, um mit ihm eine zeitliche Herrschaft zu begründen.

Diese Inanspruchnahme der Macht des Augenblicks war in dem Zeitalter politischer Ideologien besonders markant. Nicht umsonst war eine bestimmte Gruppe von deutschen Intellektuellen in den 1920er und 1930er Jahren von diesem Augenblick und seiner alles entscheidenden Macht wie verhext. Man sehnte sich regelrecht nach einem Menschen, der in den Wirren der Zeit für Klarheit sorgen konnte; der entscheiden konnte. Dieser Mensch kam 1933 dann auch an die Macht. Die Macht des Augenblicks wurde vollkommen der „weltlichen Klugheit“ unterworfen. Mit verheerenden Konsequenzen.

Der ästhetische Augenblick im Tanz ist nicht jedermanns Sache, wenn man sich als Normalsterblicher den erhebenden Träumereien des klassischen Balletts auch nicht ganz verweigern möchte. Der Augenblick der Wandlung in der Liturgie ist weit jenseits menschlicher Reichweite. Er läßt sich nicht einfangen. Der Augenblick der Entscheidung in der Politik ist ein zweischneidiges Schwert, das nur mit äußerster Vorsicht, wenn überhaupt geführt werden darf. Am besten legt man es ganz beiseite, da es sonst für Unheil sorgt.

 

Dieser Text basiert auf einem Vortrag im Kunsthaus Hamburg aus dem Jahr 2005. Weitere Gedanken zum „Augenblick“ finden sich in dem Buch „Der Augenblick der Entscheidung. Zur Geschichte eines politischen Begriffs“ aus dem Jahr 2008.

Charles Mathewes und die Liturgie der Bürger

Bürgerinnen und Bürger, deren Handeln im öffentlichen Raum als Liturgie bezeichnet wird?

Dieser Gedanke liegt gar nicht so fern, wenn man sich daran erinnern läßt, daß Liturgie im Griechischen ursprünglich den Dienst meint. In der dritten Auflage des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (1960) liest man zu dem Stichwort: „In seinem ältesten Gebrauch bezeichnet Leiturgia im Griechischen ein verantwortliches öffentliches Amt, eine Pflicht oder einen Dienst (…).“

Heute hat der Begriff der Liturgie eine enger umrissene Semantik und bezeichnet vor allem die Praxis des Gottesdienstes oder mitunter auch diesen Gottesdienst selbst. Mit der umfassenderen griechischen Bedeutung im Hinterkopf wundert es aber nicht, daß der amerikanische Theologe Charles Mathewes in seinem Buch „A Theology of Public Life“ (Cambridge 2007) wiederholt von einer Liturgie der Bürgerinnen und Bürger spricht.

Charles Mathewes schreibt: „Citizenship is usefully understood as a liturgy“ (26). Erklärend fügt der anglikanisch-episkopale Theologe von der Universität von Virginia hinzu: Politisches Handeln von Bürgern ist Liturgie „not only as a communal activity (…), but also because, by engaging in apparently political activity, we are participating in properly theological activities as well“ (ebd.).

Politisches Handeln ist liturgisches, d.h. theologisches Handeln. Für viele Leserinnen und Leser wird dies eine zumindest ungewohnte Sicht sein, neigt man doch gewöhnlich dazu, die zwei Handlungssphären Politik und Kirche/Theologie voneinander fern zu halten. Zu sehr fürchtet man, daß entweder die Theologie die Politik erdrücke oder die Politik die Theologie verbiege.

Mathewes kennt diese Furcht und geht in seinem Buch an verschiedenen Stellen darauf ein. Sein Ansinnen ist es jedoch, wie der Titel seines Buchs impliziert, das bürgerliche Engagement im öffentlichen Raum theologisch aufzuwerten. Politisches Handeln hat eben nicht nur einen Wert an sich, sondern beinhaltet einen Überschuß an Sinn, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Politisches Handeln kann von dem Bürger, dem eine solche Motivation wichtig ist, auch als ein geistliches Tun verstanden werden. Und solch ein geistliches Tun im öffentlichen Raum bezeichnet Mathewes als eine Liturgie der Bürgerinnen und Bürger.

Zum besseren Verständnis sei noch einmal aus Mathewes Buch zitiert: „I think here of such activities as working in soup kitchens, setting up alliances with other churches and religious groups, possibly demonstrating for political causes. All of this becomes intelligible as a „liturgy“ of the church“ (103). Liturgie geschieht also nicht nur im Innern der Kirche, an dem Ort, an dem sie das Gedächtnis ihres geistlichen Wesens feiert. Liturgie geschieht auch dort, wo die Kirche nach außen tritt; wo ihre Mitglieder als Bürgerinnen und Bürger die Gesellschaft im Sinne der christlichen Botschaft zu formen beginnen.  

Mathewes Ansatz will eine Theologie des „öffentlichen Lebens“ sein und nicht strenggenommen eine Theologie des „politischen Lebens“. Dennoch überrascht es, daß er den politischen Akt, der noch am meisten einer Liturgie bzw. eines Ritus gleicht nicht in den Blick nimmt: die Wahl. Vielleicht schreckt Mathewes letztlich doch davor zurück, an diesen urpolitischen aller Akte sein theologisches Begriffsinstrumentarium anzulegen.