Wir erleben derzeit einen großangelegten Feldversuch: Was heißt es, über einen längeren Zeitraum körperliche Distanz zwischen Menschen zu wahren? Wir sind derzeit aufgefordert, uns von Menschen zu distanzieren, uns von anderen fern zu halten. Dieses Gebot der Distanz bzw. Distanzierung bezieht sich auf die körperliche Nähe von (anderen) Menschen, denn von dieser körperlichen Nähe geht in Zeiten einer Pandemie eine unkalkulierbare Gefahr aus. Diese körperliche Distanz geht vielfach einher mit dem Bestreben, den Mitmenschen auf andere Weise als körperlich nahe zu sein: per Telefon, per Brief, per Videounterhaltung … .
So trifft man sich statt in einem physischen Raum in einem virtuellen Raum zu Besprechungen unter abwesenden Körpern. Man hört und schaut sich aber auch Konzerte auf dem Rechner an, die Musiker vom heimischen Wohnzimmer aus geben. Man sieht sich beim virtuellen Rundgang in einem Museum um. Und man schaut sich den Livestream eines Gottesdienstes an. In all diesen Geschehnissen ist man also irgendwie mit dabei, ist und nimmt teil ohne körperlich selbst präsent zu sein.
Daniel Deckers schreibt in Bezug auf die daraus resultierenden Fragen für die Religionsgemeinschaften in der FAZ vom 11. April (S.1):
„Religion als kollektives, auf symbolische Kommunikation angelegtes und sich in gemeinsamen Körperpraktiken materialisierendes Sinnsystem ist aus der Öffentlichkeit nahezu vollkommen verschwunden. Das Internet ist dafür nur ein schaler Ersatz. Kein Bild kann Religion in ihrer Sinnlichkeit ersetzen, kein Ton das Überwältigende der Erfahrung gemeinsamen Hörens, Sprechens und vor allem des Singens ersetzen.“
Man muss Daniel Deckers in seinem apodiktischen Ton nicht folgen, doch seine grundlegende Diagnose des Problems scheint mir korrekt, und zwar nicht nur für die Religionsgemeinschaften: Die fehlende Körperlichkeit entzieht unseren religiösen, kulturellen, ästhetischen, intellektuellen Erfahrungen einen guten Teil ihrer Sinnhaftigkeit. Die Versuche der ausgebauten Online-Aktivitäten sind nie das Original, sondern der Ersatz.
Warum vollzieht sich beim Nicht-Original dieser Entzug von Sinn? Warum fühlt sich das Original „voller“ und „wirklicher“ an als der Ersatz?
Ein Vorschlag: Es fehlt beim Ersatz die mit der Körperlichkeit einhergehende Erfahrung von Aura. Man könnte auch sagen, die Atmosphäre geht verloren, wenn ich die Dinge rein visuell und/oder akustisch wahrnehme ohne körperlich anwesend zu sein. Damit geht die freilich bestreitbare Beobachtung einher, dass in seiner konkreten Leiblichkeit der Mensch eine konkrete Situation auf spezifische Weise erfährt. Diese Spezifik bezieht sich auf das Besondere der zeitlichen und auf das Besondere der räumlichen Erfahrung. Beim Original wird nicht nur eine Auswahl von Sinnen angesprochen; alle Sinne tragen zur Erfahrung der Situation bei.
Christian Frevel buchstabiert dieses leibliche Erfahrungswissen in Bezug auf dessen biblische Quellen aus: Mund, Angesicht, Ohr usw. sind kommunikative Mittel. Aber sie sind auch mehr als das, da sie in ihrer Körperlichkeit weitergehende Sinnerfahrungen im kommunikativen Austausch mit der Umgebung ermöglichen (Christian Frevel 2016: Körper, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt, 5. Auflage, 297ff.). Die Sinnesorgane sind keine kommunikativen Abstrakta. Sie sind konkrete Leiblichkeit. Sie sind Körper(teile), die mit ihrer Umgebung kommunizieren. Sie sind sozusagen leibhaftig.
Aura und Atmosphäre durch körperliche Präsenz geschieht einfach. Das ist aber einfacher gesagt als belegt. Wir erfahren Aura nämlich, ohne dass wir empirisch irgendeine Übertragung (Wellen, Strahlung, …) zwischen Körpern oder zwischen einem Körper und einem Gegenstand (z.B. einem Kunstwerk) belegen können. Aura haftet an den Dingen. Atmosphäre klebt an der konkreten zeitlichen und räumlichen Situation. Und dies beim Original viel mehr als bei der Kopie.
Weshalb pilgern Jahr für Jahre Tausende zur Mona Lisa in den Louvre, wenn man sie sich auch jederzeit als Poster ins Zimmer und als Hintergrundbild auf den Rechner holen kann? Weil sich Aura und Atmosphäre im körperlichen Mitdabeisein entwickelt und viel weniger in der (virtuellen) Vermittlung bzw. Repräsentation über Distanz hinweg. Diese distanzüberwindende Vermittlung ist keineswegs wertlos. Sie kann als vorübergehender Platzhalter wirken bzw. hilft bei funktional notwendiger Kommunikation sehr gut aus. Doch sie ist eben nicht das Original. Es handelt sich um eine Mangel-Erfahrung, die letztlich von der physischen Abwesenheit des Gegenübers perforiert ist. Medien holen das Ferne in meine Gegenwart. Sie können die faktische Ferne aber nicht aus der Welt schaffen. Auf dem Weg der Vermittlung gehen die Dinge und auch die Menschen damit auch ihrer Aura verlustig.
Körperliche Präsenz und die damit einhergehende Erfahrung von Aura lassen sich also (noch ) nicht virtualisieren. Um die Aura des Anderen zu erfahren, muss ich in dessen räumliche Nähe treten. Ich muss mich sozusagen auch verbindlich dazu bekennen, für diesen Moment an Ort und Stelle zu sein. Ich pflege um des Anderen willen die vorbehaltlose Anwesenheit, auf jeden Fall äußerlich. Wenn ich in der Zeit und vor Ort in einer solchen Situation der Anwesenheit und Präsenz stecke, dann hat dies zur Folge, dass ich mich dieser Situation nur schwer entziehen kann. Ein Klick genügt nicht zum Entzug, sondern ich muss mich körperlich in Raum und Zeit bewegen und entfernen, dem Anderen gegenüber herausreden, der Situation sprichwörtlich den Rücken zu kehren. Die Verbindlichkeit der körperlichen Präsenz ist also in einem doppelten Sinn gegeben: Es braucht mein zeitliches und räumliches Bestreben, den Anderen nahe zu sein, in ihrer Anwesenheit zu sein. Es braucht aber auch einen ausgesprochen Willensakt, wenn ich diese Präsenz abbrechen möchte. Körperliche Präsenz schafft so Verbindlichkeit, ob ich es will oder nicht.
Das ist das Opfer körperlicher Präsenz: Ich setze mich der Macht der Aura des Anderen aus und gebe mein implizites Einverständnis, von dieser Aura womöglich verändert zu werden. Der willentliche Entzug dieser Aura durch körperliches Entfernen birgt ebenso die Gefahr, Opfer von Verletzung zu werden. Das macht die körperliche Anwesenheit so wertvoll. Gleichzeitig wächst die Versuchung, dem Veränderungs- und Verletzungsrisiko, die mit der Aura des Anderen einhergehen, im virtuellen Raum aus dem Weg zu gehen. Wir halten uns die Dinge dann sprichwörtlich vom Leib. Für eine gewisse Zeit kann man dies machen. Auf die Dauer freue ich mich wieder auf die Atmosphäre des Originals: im Museum, im Gottesdienst, im Fußballstadion, im Leben überhaupt.
Österlicher Nachtrag: