Wer affirmativ vom Naturrecht spricht, der oder die geht davon aus, dass es jenseits das positiven, schriftlich fixierten oder auch richterlich formulierten Rechts eine absolute Norm gibt. Es gibt unterschiedliche Ansätze, diese absolute Norm zu definieren: kommunikativ im Sinne eines sich fortentwickelten Konsens unter Menschen; weisheitlich als die über die Zeiten angesammelten kollektiven Wissensbestände, metaphysisch unter Zuhilfenahme eines mehr oder minder expliziten Transzendenzbezuges. Mehr dazu findet sich in den früheren Artikeln zum Thema.
Von einem Naturrecht zu sprechen macht aber nur Sinn, wenn man grundsätzlich annimmt, dass dieses Recht …
- … in möglichst vielen Kulturen potentiell Akzeptanz finden könnte. So hat die Goldene Regel sicher einen größeren naturrechtlichen Resonanzraum als die durchaus bedenkenswerte, aber nicht überall geteilte Überlegung, dass auch Kindern ein Wahlrecht zuzustehen ist. Naturrecht rekurriert auf die Natur des Menschen und auf das „von Natur aus So Seiende“ und kann daher nicht kulturrelativistisch ausgehebelt werden. In diesem Sinne könnte man sagen: Naturrecht ist von Natur aus nicht strittig, auch nicht über Grenzen hinweg. Freilich besteht die Gefahr, dass damit eine kulturrelativistische Keule gegen jede naturrechtliche Formulierung Anwendung finden kann, vornehmlich dort, wo naturrechtliche Überlegungen den Mächtigen einer bestimmten Kultur in die Quere kommen.
- … über eine lange Zeit hinweg Gültigkeit beanspruchen kann. So kommen manche normative Sätze – wie bspw. die Goldene Regel – schon sehr lange in den Genuss, als Teil des naturrechtlich Normenapparats angesehen zu werden. Jüngere Einsichten, die Anspruch einer impliziten oder expliziten naturrechtlichen Grundlegung erheben, müssen sich erst noch über mehrere Generationen hinweg bewähren. Naturrecht ist also von Natur aus langlebig.
- … bei aller longue durée das Naturrecht einen geschichtlich wachsenden (zu- und abnehmenden) Bestand an normativen Sätzen besitzt. Es gibt also keinen fixen Apparate von naturrechtlichen Sätzen und Erkenntnissen. Die Erkenntnis, dass Sklaverei ein grundsätzlich zu verurteilendes Übel ist, kam uns so richtig erst in den letzten 10 Generationen. Gleichzeitig hat der Gedanke vom Gottesgnadentum des Monarchen – einstmals eine naturrechtliche Säule europäischer Herrschaftsordnungen – neuerdings doch arg gelitten. Naturrecht steht also nicht grundsätzlich immer fest, sondern unterliegt auch zeitbedingten Moden, man könnte es auch Entbergungszusammenhänge nennen. Wenn Naturrecht also strittig wird, dann ist es nicht mehr länger Naturrecht.
Damit ist auch schon eine wesentliche Grenze des Naturrechts angesprochen. Wie eben erwähnt, unterliegen einige Sätze, denen der Status des Naturrechts zuerkannt wird bzw. wurde, durchaus zeitlichen Konjunkturen. Was frühere Generationen als Naturrecht ansahen, wird von uns nicht mehr so gesehen – und umgekehrt. Wer vom Naturrecht spricht – sonderlich viele sind dies derzeit nicht – , erhofft sich zwar eine gewisse Erlösung von der Kontingenz der Zeitläufe. Aber auch diese Erlösung gilt immer nur vorläufig.
Das hat auch der protestantische Theologie Reinhold Niebuhr erkannt. Zu einem Zeitpunkt, da das Naturrecht nach dem Schrecken des Faschismus wieder größeren Zuspruch erlebte schreibt Niebuhr in „The Children of Light and the Children of Darkness“ (London, 1945) über das Naturrecht, das seiner Ansicht nach sowohl von Katholiken als auch von Liberalen – für Niebuhr ein Gegensatz! – zur Hilfe gerufen wird:
„Both fail to appreciate the perennial corruptions of interest and passion which are introduced into any historical definition of even the most ideal and abstract moral principles.“ (52)
Und:
„But every historical statement of them is subject to amendment.“ (53).
Man liest diesen Sätzen eine, ich nenne es mal, protestantische Skepsis ab: In der irdischen Welt – für Niebuhr gleichbedeutend mit einer von Sünde & Scheitern belasteten Welt – können wir keine Dinge sagen oder tun, die den Anspruch auf ewige Gültigkeit haben. All unser menschliches Tun und Lassen ist historisch, geschieht in Raum und Zeit und ist damit der Wandlung, Veränderung unterworfen. Es herrscht Kontingenz. Es herrscht eben nicht göttliche Ewigkeit, sondern irdische Endlichkeit,. Das gilt auch für gutgemeinte und sich auf religiöse Wurzeln berufenden Aussagen mit naturrechtlichem Anspruch.
Niebuhr scheint in seinem Text das Naturrecht aber nicht gänzlich verwerfen zu wollen, er will es nur in die Schranken verweisen. Denn jede naturrechtliche Argumentation greift auf Begründungsmuster und Ableitungsstrategien zurück, die in sich selbst wieder zeitbedingt und historisch sind. Das gilt auch für jene Muster und Strategien, die auf die Vernunft rekurrieren. Niebuhr schreibt:
„‚Natural law‘ theories which derive absolutely valid principles of morals and politics from reason, invariably introduce contingent practical applications into the definition of the principle.“ (54)
Niebuhr deutet an, dass es so etwas wie eine Hierarchie der naturrechtlichen Wahrheiten geben könnte (vgl. 55). Manche naturrechtlichen Aussagen unterliegen damit einer größeren Wandelbarkeit als andere naturrechtliche Aussagen. Ich habe ein Beispiel angeführt – die Goldene Regel – , die mit großer Beharrlichkeit an vielen Orten der Welt und zu allen Zeiten auftaucht. Aussagen, die von der Goldenen Regel ausgehend – einen konkreten historischen Zusammenhang bewerten wollen, verfügen aber schon wieder über eine wesentlich begrenztere Reichweite.
All das heißt nun nicht, dass wir die naturrechtliche Argumentation fahren lassen müssen. Im Gegenteil: Es gibt bspw. gute Gründe, das Naturrecht immer mal wieder gegen das positive Recht der Staaten in Stellung zu bringen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass auch solche Argumentationen – sub specie aeternitatis – begrenzt sind, ja, begrenzt sein müssen.