Dezentrierung als Praxis einer Ideengeschichte zwischen Diversität und Kanon

Ich vertrete folgende These: Diversität und Kanonbildung bilden die beiden Pole, zwischen denen (politische) Ideengeschichte stets unterwegs ist. Die Praxis der Dezentrierung kann dabei helfen, die Spannung zwischen Diversität und Kanonbildung im Alltag von Forschung und Lehre zu verankern.

Der Ruf nach (mehr) Diversität ist kein originäres Proprium aktueller Debatten. Schon immer ist die ideengeschichtlich orientierte Forschung mit der Herausforderung konfrontiert, die Notwendigkeit eines das Gespräch und die Grundorientierung ermöglichenden Kanons und die  Notwendigkeit einer beständigen „Dezentrierung“ dieses Kanons miteinander zu versöhnen. Kanon und Dezentrierung, Grundlagen und Neujustierung, Basis und Diversität sollten dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Was ist gemeint, wenn ich von einer Praxis der Dezentrierung spreche?

Die Praxis der Dezentrierung entnehme ich dem Werk des Theologen Rowan Williams. Bei dem Philosophen Kurt Flasch finden sich ganz ähnliche Ansätze dieser Praxis. Dezentrierung bedeutet in der Ideengeschichte, das scheinbar „Abseitige“ und „Exotische“ mittels eines archäologischen Suchens aufzufinden und zugänglich zu machen. Der Blick geht also beständig über den üblichen Kanon hinaus. Die Neugierde erschließt immer wieder neue Ideen, enthüllt bislang verdeckte Nischen, macht auf vernachlässigte Stimmen aufmerksam. Die ideengeschichtliche Praxis der Dezentrierung geht programmatisch davon aus, dass die Beschäftigung mit der Historie in all ihrer Vielfalt zu einer Vervielfältigung althergebrachter, überkommener Standpunkte führen kann und mit der Zeit auch führen wird. Ebenso weiß eine solche Praxis um die vielschichtige Verwobenheit von räumlich und durch die Zeit kursierender Ideen und Begriffe.

Der Kanon wesentlicher ideengeschichtlicher Beiträge wird mittels der Praxis der Dezentrierung immer wieder neu historisiert, fortwährend modifiziert und globalisiert. Die Praxis der Dezentrierung steht also in einer fruchtbaren Spannung zu der weiterhin unverzichtbaren Einführung in einen ideengeschichtlichen Kanon, vor allem in den orientierenden Anfangsjahren eines jeden universitären Studiums.

Welche Dimensionen kann diese Praxis der Dezentrierung in der Ideengeschichte umfassen? Auf welche Weise kann die ideengeschichtlich interessierte Person die Praxis der Dezentrierung einüben? Folgende Dimensionen kommen mir in den Sinn:

A. Personenorientierung
In der eigenen Disziplin bislang kaum bekannte Autorinnen und Autoren werden bewusst zum Gegenstand der Forschung gemacht. Ich versuche meinen Teil hier beizutragen, indem ich z.B. vermeintliche Randgestalten der englischen Theologiegeschichte wie Robert Isaac Wilberforce und Isaac Williams für mich und hoffentlich auch für andere „ausgegraben“ habe.

B. Regionen- bzw. Sprachenorientierung
Im eigenen Lehren und Forschen bislang vernachlässigte Sprach- und Kulturräume und deren Ideen bzw. Texte werden zum Untersuchungsgegenstand. Was für einzelne Forscherinnen und Forscher aufgrund sprachlicher und räumlicher Einschränkungen oft nicht möglich ist, können dabei Forschungskollektive leisten. Solche Versuche startet z.B. immer wieder die History of Concepts Group, u.a. auch dadurch, dass die jährlichen Konferenzen in unterschiedlichen Weltreligionen stattfinden.


C. Disziplinorientierung
In der eigenen Disziplin kaum berücksichtigte Texte und Ideen anderer Disziplinen werden zu Rate gezogen. Dies geschieht nicht nur exemplarisch und zur Anschauung, sondern aus einem systematischen Interesse heraus. Ein Beispiel: Der Politikwissenschaftler Marc Stears bezieht sich in seinem Buch „Out of the Ordinary“ auf literarische, literaturwissenschaftliche, ästhetische und kulturwissenschaftliche Texte der britischen Ideengeschichte, um seine normative These einer Politik der Alltagsnähe zu vertreten.


D. Praxisorientierung
Die Erfahrungen der Praktikerinnen und Praktiker der eigenen Disziplin werden für das theoretische Nachdenken und die ideengeschichtliche Erzählung aufgewertet. Praxis ist also nicht nur ein Feld, das Empirie bereit hält. Praxis ist selbst ein Ort, an dem theoretisch wertvolle Erkenntnis generiert wird. So praktiziert dies bspw. der finnische Politikwissenschaftler Kari Palonen in seinen zahlreichen Werken zum Politikbegriff. Und in Gillian Rose‚ Autobiografie „Love’s Work“ sind es die Begegnungen und Begebenheiten des eigenen Lebens und einer tödlichen Krankeit, welche die Denkerin anregen, eine Skizze für eine Philosophie der Liebe zu zeichnen. 

E. Ausdrucksorientierung
Anderen, nicht-wissenschaftlichen Ausdrucksformen (künstlerisch, literarisch usw.) wird für das eigene theoretische Projekt ein heuristischer Mehrwert zugestanden. Diesen Ansatz erkenne ich bspw. bei den Werken des Historikers Neil MacGregor, z.B. A History of the World in 100 Objects bzw. Living with the Gods. On Beliefs and Peoples. MacGregor untersucht Gegenstände aus aller Welt daraufhin, welche Geschichten und Sinnzusammenhängen sich mit ihnen verbinden.

Die verschiedenen Dimensionen – die Liste ist sicherlich nicht vollständig – können sich selbstverständlich überschneiden. Gleichzeitig ist selbstverständlich, dass universitäre Lehre und Forschung nicht alle Dimensionen zugleich verwirklichen kann. Es könnte aber durchaus gefordert werden, dass eine bewusste Praxis der Dezentrierung – man könnte es auch einfach ‚Neugier‘ nennen – zum Ethos des Lehrens und Forschens gehören sollte. So bestünde dann auch kein Grund, einen ideologischen Kampf um Konzepte wie Diversität und Kanon auszufechten. Eine (politische) Ideengeschichte, die sich ernstnimmt, schafft sich so immer wieder neue Anlässe zur Selbst-Dezentrierung und Vervielfältigung in Forschung und Lehre.

 

Eine frühere Version dieses Textes diente als Vorschlag für einen Beitrag zu einer Tagung der Theoriesektion der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Die Tagung findet im Frühjahr 2023 unter dem Titel „Kämpfe um Diversität“ statt. Mein Vorschlag wurde nicht angenommen. Ich veröffentliche hier eine überarbeitete Version.

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„Die 100 besten christlichen Bücher“

Die anglikanische Church Times geht mit einem eigenen Kanon der „100 besten christlichen Bücher“ an die Öffentlichkeit. Solche auf Öffentlichkeit abzielende Kanonbildung geht immer mit vielen Fragezeichen einher. Diese Fragezeichen habe ich an anderer Stelle schon thematisiert. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der zu verkündigende Kanon auch noch mit einem Ranking einhergeht, wie bei der Rangliste der Church Times.

Um möglichst viel mediale Resonanz zu erzeugen, staffelte die Church Times die Veröffentlichung ihres Rankings in drei zeitliche Etappen, wobei die Verkündigung der besten Zehn heute morgen stattfand. Die Aktion wurde mit einem eigenen Hashtag (#CT100) versehen und eifrig über die sozialen Netzwerke beworben.

Was fällt an der Liste spontan auf?

  • Das erste Werk im Ranking sind Augustinus‘ „Bekenntnisse“. Die Bibel wurde von den Juroren – wie auch liturgische Gebrauchsbücher – als „kein Buch an sich“ von vorne herein ausgeschlossen.
  • Die Liste besteht ausschließlich aus theologischen Bücher, die in englischer Übersetzung vorliegen. Aus der Sicht der Juroren und der Leserschaft der Zeitung ist dies pragmatisch, sachlich nachvollziehbar ist es aber nicht.
  • Die Liste ist auch kulturell sehr „englisch“. George Herbert landet beispielsweise mit seinen Gedichten auf Rang 10; wenige Deutsche wird der Autor etwas sagen. Auch dieser Umstand lässt sich verständlich machen, wenn man das Herkommen der Church Times kennt. Dennoch stellt man sich unter einem Ranking mit dem Titel „100 beste christliche Bücher“ einen eher universalen Anspruch vor.
  • Unter den Titel finden sich auffallend viele Gedichtbände. Poesie gehört für die Juroren offensichtlich zu einer eigenen Gattung der dezidiert christlichen Literatur.
  • Mir persönlich fällt auf: Ich kenne viele der genannten Bücher. Nicht, dass ich sie alle gelesen hätte, doch sind sie mir auf die eine oder andere Weise, zumindest dem Titel nach, vertraut. Dies macht mich skeptisch. Mein Zugriff auf theologische Literatur ist sehr selektiv und eigen. Weshalb sollten meine Vorlieben mit den Lesevorlieben Anderer übereinstimmen?

Trotz allem: Der Kanon der Church Times ist anregend, unterhaltend und hat eine Diskussion angestoßen. Das ist eigentlich schon genug.

Das vollständige Ranking findet sich unter: https://ct100books.hymnsam.co.uk/

 

Ein (persönlicher) ideengeschichtlicher Kanon

Es ist eigentlich unmöglich, von einem Kanon in der Ideengeschichte zu sprechen, dafür ist das Feld zu weit und in keiner Weise eingrenzbar. Trotzdem tue ich es, und zwar mit einer Einschränkung: Ich spreche von einem „persönlichen“ Kanon. Das heißt, ich nenne Schriften, die ich aus eigenem Empfinden heraus als irgendwie wichtig erachte. „Irgendwie“?! Ja, irgendwie, weil es vermessen wäre, allgemein gültige Kriterien an die Erstellung eines Kanons anzulegen. Über die Grenzen eines Kanons lässt sich nämlich trefflich streiten. Trotzdem gehören manche Autoren und Texte irgendwie dazu, andere irgendwie eben nicht.

Irgendwie wichtig sind mir folgende Texte in Bezug auf den Bereich der Ideengeschichte, der mich besonders interessiert: das Zusammenspiel von politischem und theologischem Denken. Ich wäre den Leserinnen und Lesern von Rotsinn dankbar, wenn sie in etwaigen Kommentaren weitere Autoren und Texte nennen, die für sie selbst unverzichtbar sind.

Mein persönlicher Kanon der politisch-theologischen Ideengeschichte umfasst unter anderem folgende Werke:

1. Die Bibel (ca. 8. Jahrhundert v. Chr. bis ca. 2. Jahrhundert n. Chr.): ein Glaubensdokument, ja, aber auch ein Metaphernschatz, Zitatenfundus, eine Sprüchesammlung und ein Menschheitsbuch, ohne dessen Kenntnis kaum ernsthafte Ideengeschichte betrieben werden kann. Auch heute nicht.

2. Auch eine heilige Schrift: Immanuels Kants kurzer Text mit dem vielsagenden Titel „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahre 1784. Aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gilt es sich auch heute in der postsäkularen Moderne zu befreien. Die Schleier der Voreingenommenheit und des Vorurteils hängen weiter dicht vor unseren Augen. Von daher kann man diesen Grundlagentext auch heute gut zur erbaulichen Lektüre empfehlen.

3. Ich möchte nicht allzu parteiisch wirken, darum enthält mein Kanon auch folgendes Werk: Michail A. Bakunin: Gott und Staat (1871). Dabei handelt es sich um ein kämpferisches anarchistisches und atheistisches Pamphlet, das konsequent jegliche Autorität, sei sie transzendenter oder irdischer Natur, ablehnt. Gegen Bakunin wirkt Richard Dawkins (Autor von „Gotteswahn“) wie ein Rechtgläubiger.

4. Um bei all den hitzigen weltanschaulichen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts den kühlen Kopf zu bewahren, empfehle ich Max Webers „Zwischenbetrachtung“ (1916), welcher Webers Religionssoziologie zugeordnet wird. Aus diesem Text stammt die vielzitierte Formel zur „Entzauberung der Welt“. Deren indignierte Ablehnung gehört heute zum guten Ton der Religionssoziologie, was ihre Unverzichtbarkeit geradezu unterstreicht.

5. Ohne Carl Schmitts „Politische Theologie“ aus dem Jahr 1922 geht leider gar nichts. Man muss diesen Text mit seiner Verquickung von leerem theologischen Pathos und dem Wunsch nach politischem Autokratismus nicht mögen, man sollte ihn aber wenigstens einmal – wenn auch unter Schmerzen – gelesen haben. Gerade, wenn man sich für das Feld der Politischen Theologie interessiert.

6. Gleich danach sollte aber eine Lektüre von Hannah Arendt folgen, wahlweise „Vita activa“ (1958) oder das posthum erschienenen Werk „Was ist Politik?“. Arendt singt in diesen Texten ein Lob auf die politische Pluralität und bewundert das Wunder der Kreativität, welches sie in einer funktionierenden Demokratie am Werk sieht. Carl Schmitt lässt resignieren, Hannah Arendt macht Mut.

7. Wer an die Anfänge der Ideengeschichtsschreibung zurückgehen möchte, der sei auf John Henry Newman und dessen „Essay on the Development of Christian Doctrine“ (1845) verwiesen. Das Werk wird von ideengeschichtlichen Forschern wenig rezipiert, obwohl es lange vor Quentin Skinner die kontingente Natur jeder ideengeschichtlichen Innovation aufwies; freilich unter der Maßgabe, das hinter der Kontingenz nicht die Willkür der Historie, sondern das Geschick des aufkeimenden Himmelreichs verborgen liegt.

8. Reinhart Kosellecks Vorwort zu dem Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ aus dem Jahr 1972 weist der Begriffs- und Ideengeschichte mit den Stichworten „Verzeitlichung“, „Beschleunigung“, „Säkularisierung“ und „Sattelzeit“ den Weg. Auch in Bezug auf diesen Text gilt: Man muss nicht Kosellecks Meinung sein, was dessen Systematisierung der begriffenen Geschichte anbelangt, man muss diesen Aufsatz aber mindestens einmal ordentlich zur Kenntnis genommen haben, um mitreden zu können.

9. Augustinus „De civitate dei“ aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. Augustinus‘ Unterscheidung in einen göttlichen und einen irdischen Herrschaftsbereich hat das politisch-theologische Denken über viele Jahrhunderte hinweg geprägt. Jeder prüfe selbst, ob er dieser Schrift heutzutage mehr als theologiegeschichtliche Relevanz beimisst.

10. Bei diesem Buch genügt es fast, wenn man sich den Titel merkt: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ von Pierre Bayard (2007). Bayard spricht in seinem Band eine Grundfertigkeit an, welche jeder Ideenhistoriker besitzen muss. Hätte ich dieses Buch nicht gelesen, würde ich mich heute nicht mehr auf die Straße wagen…