Die „Übersetzung“ – von Hans Maier zu Jürgen Habermas

Die religionspolitischen Debatten der Bundesrepublik wurden in den vergangenen Jahren stark durch die Veröffentlichungen von Jürgen Habermas geprägt. Habermas interessierte sich dabei vor allem für die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit. Der entsprechende vielzitierte Aufsatz in der Sammlung „Zwischen Naturalismus und Religion“ (Frankfurt/Main 2005) ist untertitelt mit: „Kognitive Voraussetzungen für den ‚öffentlichen Vernunftsgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger“ (ebd.  119).

In dem Aufsatz geht es letztlich um den Streit bzgl. der Legitimation religiöser bzw. unbedingter Überzeugungen in politischen Debatten säkularer Demokratien. Habermas geht davon aus, dass es religiösen Menschen nicht zugemutet werden kann, ihre Überzeugungen im öffentlichen Diskurs außen fort zu lassen. Er wendet sich gegen Stimmen (vor allem jene J. Rawls), die meinen, dieser Art Überzeugungen hätten im politischen Leben nichts zu suchen. Da dem Gläubigen eine „artifizielle Aufspaltung des eigenen Bewusstseins“ (132) nicht möglich ist, müsse er sich – konfrontiert mit einer solch maximalen Forderung – aus dem politischen Leben  zurückziehen, so Habermas.

Während eine institutionelle Trennung zwischen Staat und Kirche auch für Habermas selbstverständlich ist (vgl. auch Ist eine Trennung von Religion und Politik möglich?), so wendet er sich gegen eine „unzumutbare mentale und psychologische Bürde“ (135), die man religiösen Bürgern damit auflasten würden, wenn ihnen der argumentative Bezug auf die Quellen ihres Glaubens in der Öffentlichkeit verwehrt bliebe.

Um einen kommunikativen modus vivendi zwischen den religiös musikalischen und den religiös unmusikalischen Bürgern zu finden, macht sich Jürgen Habermas für das „Übersetzungstheorem“ stark . Dieses besagt, dass religiös musikalische Menschen, die sich in den politischen Diskurs hineinbegeben, ihre religiösen Überzeugungen und die sich aus diesen Überzeugungen speisenden Argumente nicht ausklammern müssen. Sie können aber auch nicht davon ausgehen, dass ein Verweis auf das „Reich Gottes“ oder das „Evangelium“ – um zwei beliebige Beispiele zu nennen – innerhalb des politischen Diskurses zählt.

Vielmehr müssen sie ihre Überzeugungen im Zuge der öffentlichen Debatte „übersetzen“. Möchte ein religiöser Bürger in den säkularen Arenen der Politik gehört werden, so wird er einem „institutionellen Übersetzungsvorbehalt“ (136) begegnen. Dieser macht es für ihn notwendig, dass seine religiösen Überzeugungen in rational-säkulare Argumente übersetzt werden, die eine Sprache also durch eine andere Sprache ersetzt wird, freilich ohne substantiellen Verlust an innerer Argumentationskraft. Denn, so Habermas, religiöse Stimmen verweisen auf „wichtige Ressourcen der Sinnstiftung“ (137), die in der öffentlichen Debatte nicht verloren gehen sollen. So kann, um die oben genannten Beispiele wieder aufzugreifen, der Glaube an das „Reich Gottes“ übersetzt werden in eine Kritik an politischen Allmachtsphantasien und der Verweis auf das „Evangelium“ wird transformiert in eine säkular anschlussfähige  „Option für die Armen“.

Bislang verband ich das Übersetzungstheorem stets mit diesen Überlegungen jüngeren Datums von Jürgen Habermas. Nun, nach der Lektüre von Hans Maiers „Revolution und Kirche“ aus dem Jahre 1959, bin ich eines besseren belehrt. In seinen „Studien zur Frühgeschichte der Christlichen Demokratie (1789-1850)“ benutzt Maier die Metapher der Übersetzung nämlich im exakt gleichen Sinne wie Habermas; bzw. Habermas nutzt sie im exakt gleichen Sinne, wie ca. 50 Jahre vor ihm auch Hans Maier.

In einem Exkurs zu seiner Abhandlung unter dem Titel „Zum Problem ‚katholischer‘ und ‚evangelischer‘ Politik“ schreibt Maier in ‚Revolution und Kirche‘: „Weiterhin ist die Konfession bei ihrem politischen Wirken innerhalb des demokratischen Staates darauf angewiesen, ihre Absichten den anderen, nichtkonfessionellen Partnern verständlich zu machen“ (Revolution und Kirche, Freiburg 1959, 186). Und: „Die Notwendigkeit, sich dem politischen Partner, der außerhalb der eigenen Voraussetzungen steht, verständlich zu machen, erfordert das Vorhandensein geeigneter Transformationsmittel, mit deren Hilfe religiöse Entscheidungen rational faßbar gemacht und in politische Strukturen übersetzt werden können“ (ebd.: 187).

Zugegeben: Der Übersetzungsbegriff bezieht sich bei diesem Zitat auf die Übersetzung ‚in Strukturen‘. Die Übersetzung ‚in eine andere, nicht-religiöse Sprache‘ ist aber von Maier ebenfalls gemeint, wenn er davon spricht, der religiöse Akteur müsse sich seinem Gegenüber verständlich machen. Ein halbes Jahrhundert, bevor Jürgen Habermas die post-säkulare Gesellschaft ausgerufen hat, hatte Hans Maier also schon die kommunikativen Voraussetzungen dafür ausformuliert, wie religiöse Argumente in die politischen Debatten unserer Zeit eingefüttert werden können. Der Zwang zur Übersetzung scheint schon viel älter zu sein als bisher angenommen.

 

Ein Nachtrag aus Anlass des Gedenktages des hl. Dominikus am heutigen Tag:

Dominikaner verstehen sich schon immer als ‚Übersetzer‘ im Sinne Hans Maiers bzw. Jürgen Habermas‘: Sie übertragen das Wissen und die Weisheit, das in der christlichen Theologie und Spiritualität geborgen liegt, in jeweils neue Zeiten und neue Umstände. Sie tun dies manchmal sehr erfolgreich, manchmal aber auch weniger überzeugend. Darin sind sie ganz menschlich.

Wer sich der Aufgabe der Übersetzung annimmt, der verlässt sein angestammtes Terrain, die Sprache, in der er sich sicher fühlt und geht dorthin, wo er nicht mehr Herr der Lage ist. Der Übersetzer läuft Gefahr, sich der Kritik und des Missverständnisses auszusetzen. Doch dies nimmt er in Kauf. Denn im Gepäck hat er einen Schatz, der es lohnt, in das ernste Spiel des Dialogs hinein geworfen zu werden.

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Rowan Williams‘ öffentlicher Glaube III – Wahrheit und Politik

Auf das politische Denken von Rowan Williams machte ich schon im Vorwege des Erscheinens seines neuen Aufsatzbandes „Faith in the Public Square“ aufmerksam. Nachdem das Buch nun auf meinem Schreibtisch liegt, möchte ich auf eine kleine Passage eingehen, die sich im Vorwort des Bandes findet. Das Vorwort selbst stammt vom Juni 2012, und es ist der einzige Text des Buches, der noch nicht an anderer Stelle veröffentlicht wurde. Die meisten in „Faith in the Public Square“ enthaltenen Aufsätze finden sich auch auf der Netzseite des (Noch-)Erzbischofs von Canterbury.

In dem Vorwort faßt Williams einige seiner Gedanken zum Thema Religion/ Glaube und Politik zusammen. Es geht um die Ermöglichung einer fürsorglichen Gemeinschaft, um die Abwehr eines falsch verstandenen Säkularismus, um Pluralismus und Demokratie und um die Rolle der Kirche und des Glaubens in einer modernen Gesellschaft.

In diesem Zusammenhang findet sich auch folgender Satz: „Without respect for the possibility of criticizing the state on the grounds of a truth that does not change at elections, without the possibility of arguing with some things the state thinks are reasonable or self-evident, the chances of radical social change are threatened.“ Und er fügt an: „In times of political crisis and corruption, we need to know what resources there are to resist what a government decides is ‚rational'“ (Faith in the Public Square, 3).

Ähnlich wie Habermas versteht Williams Religion und Glaube an dieser Stelle funktional: Sie können etwas für Staat und Gesellschaft leisten. Dabei fällt auf, daß Williams das kritische Element des religiösen Glauben betont. Dieser Glaube mag vielerorts Sicherheit verschaffen, wohl am ehesten in existentiellen Fragen. In Dingen des kollektiven Zusammenlebens ist der Glaube aber nicht einfach ein Wertelieferant für vom Pluralismus überforderte Menschen. Vielmehr funktioniert der Glaube hier als der Stachel im Fleisch einer selbstgenügsamen Gesellschaft.

Der Glaube sichert also nicht nur. Er entsichert und verunsichert auch. Und er tut dies, indem er mit einer Wahrheit ausgestattet ist, die sich eben nicht nach parteipolitischen oder ideologischen Winden dreht. Wer in einer Wahrheit und damit auf einem „Fundament“ steht, der urteilt anhand von mehr oder minder transparenten und konstanten Kriterien. Und er kritisiert das, was dieser Wahrheit auffällig entgegensteht.

Wahrheit hat aber nicht nur ein kritisches Potential. Sie hat auch ein ermöglichenendes Potential. Durch ihre Kritik tritt sie in festgefahrenen Situationen für Kontingenz ein („the chances of radical social change“). Das ist eine Überraschung. Warum? Weil gemeinhin der religiöse, wahrheitsliebende Mensch als Kontingenzblocker gilt, manchmal gar als Fundamentalist. Daß es diesen Menschen gibt ist ohne Zweifel richtig.

Williams kennt aber auch die andere Möglichkeit: Gerade das Bestehen auf einem festen Fundament bringt die Dinge ins Fließen. Kontingenz kann erst dort aufbrechen, wo den politischen, religiösen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Kontingenzblockern der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und wer tut so etwas am besten? Williams Antwort: der Glaube an die Wahrheit.

Doch welche Wahrheit ist damit gemeint?

(Fortsetzung folgt.)

Lernen mit Jürgen Habermas und Rowan Williams

Jürgen Habermas und Rowan Williams haben nicht viel gemeinsam. Das zeigt sich unter anderem daran, daß der eine – Habermas – die „radical orthodoxy“ scharf kritisiert (in: J. Habermas 2005: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp, 153). Der andere – Williams – schreibt für prominente Sammelbände zu diesem Thema anerkennende Vorworte (in: D. Creston/ J. Milbank/ S. Zizek (Hrsg.) 2005: Theology and the political: the new debate, Durham: Duke UP, 1ff.).

Dennoch gibt es auch Überschneidungen zwischen dem Philosophen und dem Erzbischof. Eine solche Überschneidung liegt darin, daß beide den Teilnehmern eines öffentlichen Diskurses Opfer abverlangen. So spricht Habermas von „komplementären Lernprozessen“, die religiösen und säkularen Bürgern eines Gemeinwesens im gemeinsamen, nach Verständnis strebenden Gespräch aufgetragen werden (Naturalismus und Religion: 146). Auch spricht er von einer „Zumutung“ und von einer „Bürde“, welche die Repräsentanten der beiden Gruppierungen als Staatsbürger auszuhalten hätten, wenn sie Argumente des jeweils Anderen in Betracht ziehen möchten (144f.). Weder die einen noch die anderen können – so Habermas – einfach auf ihrer Meinung beharren. Wenn in einer pluralistischen Gesellschaft eine Verständigung zwischen den verschiedenen Gruppen möglich sein soll, dann ist es notwendig, daß die Bürger die Dinge mit den Augen des Anderen zu lernen beginnen.

Rowan Williams liegt da so fern nicht. In einer Ansprache von 2010 („Faith and Enlightenment: Friends or Foes?“ Annual Isaiah Berlin Lecture 2010) fordert er die Heranbildung bestimmter politischer Charaktereigenschaften ein. Williams schreibt: „It is (…) to assume a shared willingness to bracket out any fantasies of what would maximally fulfil my wishes as an individual and to allow those to be overridden by the vision of a possible common good equally owned by myself and my neighbour.“ Explizit spricht Williams von einem „sacrifice“, von einem Opfer, das unabdingbar sei, wenn das pluralistische Gemeinwesen überleben möchte.

In verschiedenen Sprachen drücken Habermas und Williams Ähnliches aus: Das öffentliche Leben setzt in seinem Gelingen auf die Lernbereitschaft der Bürger. Diese Lernbereitschaft beinhaltet die fortdauernde Relativierung der eigenen Vorstellungen und Wünsche; indem ich diese in Beziehung setze mit den Vorstellungen und Wünschen Anderer.

Um diese empatische und wechselseitige Lernbereitschaft zu beschreiben, greift Williams zu der biblischen Metapher des „Bundes“. Gehe ich recht in der Annahme, daß hier die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Denkern aufhören oder hätte Habermas dafür eine geeignete „Übersetzung“ parat?