Beide Worte – Entkirchlichung und Säkularisierung – sind umstritten. Es wird bezweifelt, dass die Begriffe adäquat die Prozesse beschreiben, die westeuropäische Gesellschaften in Sachen Religion und Glaubenspraxis befallen haben. Dennoch möchte ich einige Zahlen nennen, die erkennen lassen, dass Entkirchlichung und Säkularisierung weder kurzfristige Phänomene noch lineare Entwicklungen sind. Beide Begriffe beschreiben Prozesse, die mindestens zwei Jahrhunderte zurückreichen und von einem ständigen Auf und Ab geprägt sind.
Das Zahlenmaterial entnehme ich folgendem Buch: Rudolf Schlögl: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750-1850, Frankfurt am Main, 2013.
Laut Schlögel praktizierten die Kirchen und Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert zunehmend eine „statistische Selbstbeobachtungspraxis“ (278), zuerst die protestantischen Kirchen, später auch die katholische. Dieser Praxis verdanken wir erste belastbare Daten über die reale Glaubenspraxis der Menschen im Alltag (vgl. Schlögel 274ff.). Einige Beispiele:
- Vier von zehn Erwachsenen nahmen 1851 in England (nicht: GB!) am Sonntagsgottesdienst teil. Ab den 1860er Jahren waren es noch einmal deutlich weniger. Im industriestarken Coventry nahmen schon in den 1830er Jahren höchsten 10% am Sonntagsgottesdienst einer Kirche am Sonntagsgottesdienst teil.
- In Hessen-Nassau lag 1862 die Abendmahlsfrequenz in der evangelischen Kirche bei 83%, in Berlin bei weniger als 20%.
- In Frankreich lag um 1900 die Zahl derjenigen Katholiken, die ihrer österlichen Beicht- und Kommunionspflicht nachkamen, bei ca. 65%.
- Die Anzahl der kirchlichen Beerdigungen lagen im protestantischen Deutschland 1862 unter 40%. Vierzig Jahre später waren 90% aller Beerdigungen von Protestanten kirchlicher Natur.
Gerade die letzte Zahl verdeutlicht: Der Trend zur Entkirchlichung ist nicht eindeutig. Abnehmende Zahlen stehen auch nicht unbedingt für abnehmende Religiosität, zunehmende Zahlen auch nicht für gesteigerte Frömmigkeit. Bei Schlögel finden sich zu diesen scheinbar widersprüchlichen sozialen Prozessen einige einleuchtende Deutungen.
Freilich kann man sich nun die Frage stellen, wie es um Kirchlichkeit und Frömmigkeit in einer Zeit stand, aus der kein Zahlenmaterial zu uns gekommen ist. Ob damals – also vor dem 19. Jahrhundert – wirklich eine tief verwurzelte christliche Glaubensüberzeugung und -praxis in allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus vorhanden war, wage ich zu bezweifeln. Diese Zweifel habe ich schon mehrmals an dieser Stelle geäußert.