Was ist postheroische Demokratiegeschichte?

Die Geschichte unserer Gesellschaft wird gemacht von einzelnen Menschen, ihren Entscheidungen, ihren Handlungen, ihrem Zögern, ihren Sprechakten. Die Geschichte wird aber auch gemacht aus den einzelnen sich ergebenden Situationen und Chancen und Zufällen heraus, die sich auftun und schließen wie von Geisterhand. Und es gibt auch von Menschen geschaffene Institutionen und Strukturen, die wiederum Handeln der einzelnen Akteure beschränken, lenken und vorherbestimmen.

In diesem Sinne ist das Anliegen der Historikerin Ute Daniel in ihrem schmalen Bändchen „Postheroische Demokratiegeschichte“ (Hamburg 2020) zu verstehen: Sie möchte dazu anregen, die Geschichte der Demokratie nicht nur von der Akteursperspektive her zu sehen. Und sie plädiert zudem dafür, die Intentionen und Motivationen dieser Akteure der Demokratiegeschichte nicht nach Maßstäben des 21. Jahrhunderts normativ zu überhöhen.

Die Geschichte der Demokratie ist Produkt von Zufällen wie sie auch Folge von zielstrebigem menschlichem Handeln war und ist. Und dieses Handeln hatte nicht immer das hehre Ziel vor Augen, die Teilhabe möglichst vieler Menschen am politischen Geschehen zu ermöglichen. Manchmal war es auch schlicht schnödes Parteiinteressen, das hinter einer Wahlrechtserweiterung stand. Aus der deutschen und britischen Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts bringt Daniel einige Beispiele an. Daraus folgert Daniel:

„Wahlrechtserweiterungen waren, wo es sie gab, Teil dieser sich verändernden Praktiken und hatten das Ziel, Parlamente zu bilden, mit denen regiert werden konnte.“ (11)

Die Regierbarkeit stand im Vordergrund, so Daniel, und nicht eine demokratietheoretische Vision.

In diesem Sinne ist dann auch das Wort „postheroisch“ zu verstehen: Die Geschichte der Demokratie ist keine Geschichte der gesellschaftlichen Underdogs, die gegen die Mächtigen „dort oben“ sich Schritt für Schritt ihre Rechte erkämpfen. Es gibt und gab immer wieder demokratiegeschichtlich relevante Vorkämpferinnen und -kämpfer für die Teilhaberechte der Vielen; zu Heldinnen und Helden wurden sie erst von der Nachwelt, von uns gemacht. Die Politiker (zumeist Männer) des 19. Jahrhunderts waren zumeist nicht getrieben von normativen Zielvorgaben, sondern von konkreten Problembewältigungsstrategien. Demokratiegeschichte ist also (auch) eine Geschichte der Lösungsstrategien von Menschen, die mit konkreten Herausforderungen zu kämpfen hatten. Ute Daniel dazu:

„Was immer Politiker für Wünsche und Pläne haben mochten, ihr praktisches Tun richtete sich nach den Problemen, die sie aktuell jeweils hatten.“ (13)

Wir suchen im 21. Jahrhundert gerne nach Heldinnen und Helden der Demokratie: synchron in der Gegenwart und diachron in der Vergangenheit. Was uns heute an demokratischer Kultur als gefährdet scheint, das versuchen wir dadurch abzusichern, indem wir die besonders kühnen Frauen und Männer der Demokratie auf das Podest der gesellschaftlichen Anerkennung heben und auf Briefmarken abdrucken. Diese Strategie ist nicht gänzlich verkehrt, denn Helden erfüllen diese essentiellen Funktion der Integration und Fokussierung von Gesellschaft.

Man sollte sich aber – so verstehe ich Ute Daniels Ansatz – die Situationen, in denen sich die politischen Akteure wiederfinden, stets realistisch einschätzen. Politische Interessen, materielle Zwangslagen, spontan sich ergebende Gelegenheiten bestimmen das Handeln von Akteuren in gleicher Weise wie normative, heroische Visionen. Heldinnen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie zum richtigen Zeitpunkt die richtige Zielvorstellung mit dem richtigen Maß an Kompromissfähigkeit mit Leidenschaft und Augenmaß ins Spiel bringen.

Es gehört also ein gewisses Maß an Demut zur Demokratiegeschichte: Das Wirken der einzelnen Person, so überzeugend und emanzipatorisch sie uns heute erscheinen mag, war und ist stets eingebunden in ein Geflecht von Zielen und Interessen, kontingenten Chancen und Situationen. Wirkliche Veränderung braucht für gewöhnlich mehr als die Initiative des heldenhaften Individuums. Es braucht auch dessen Einsicht in die eigenen Grenzen und das Vertrauen in die Möglichkeiten anderer und die Macht des rechten Augenblicks.

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Metaphern der Informalität

Die meisten Organisationen und Institutionen in den Ländern des Westens (und nicht ausschließlich dort) haben den Anspruch von Formalität.

Das heißt: Die Kommunikations- und vor allem Entscheidungswege in diesen Organisationen und Institutionen sind festgelegt, aufgeschrieben („gesatzt“), von außen nachvollziehbar und gehorchen einer rationalen, dem Zweck der Einrichtung folgenden Logik. Es gibt Sitzungen; zu diesen muss geladen werden; fristgerecht natürlich; man arbeitet sich durch eine Tagesordnung durch; schreibt Protokoll; lässt dieses Protokoll genehmigen, … .

Das ist die Theorie. In der Praxis weichen Organisationen und Institutionen oft von dieser Anspruch der Formalität ab. Man könnte sogar sagen: In der Regel weichen sie von dem Anspruch der Formalität ab . Das heißt: ein Großteil der Kommunikation läuft nicht formal ab. Diese Organisationen können aber – z.B. im Konfliktfall – jederzeit zu einer strengen Auslegung von Formalität zurückkehren. Das impliziert der Anspruch von Formalität. Ansonsten gibt es in Organisationen und Institutionen aber immer auch viel informales Handeln.

Diese Informalität wird im Alltag oft mit Metaphern bezeichnet. Diese Metaphern beschreiben ein Spektrum zwischen den beiden Polen einer Informalität als dem Regelfall des organisationalen Handelns im Alltag und der Informalität als als einem Handeln mit krimineller Energie. Hier sollen einige dieser Metaphern in aller Kürze und Vorläufigkeit entschlüsselt werden. Selbstverständlich gibt es auch Metaphern für das formale Handeln; Max Webers Beschreibung des modernen wirtschaftlichen Handelns als ein „stahlhartes Gehäuse“ ist sicherlich eine der bekanntesten.

Beispielhafte Metaphern von Informalität sind:

Flurfunk bezeichnet die spontane, informelle, anti-hierarchische Kommunikation zwischen Organisationseinheiten und Personen unterschiedlicher Einheiten in den atmosphärischen „Zwischenräumen“ der Organisation. Der beispielhafte Ort für den Flurfunk ist natürlich die Kaffeeküche.

Der Buschfunk ist eine ähnliche Metapher, freilich mit kolonialen Stereotypen behaftet.

Kurzer Dienstweg bezeichnet die geplante, antihierarchische Kommunikation von Fachdienststellen miteinander unter Umgehung der jeweils höheren Stellen. Der formale Dienstweg impliziert eine längere Aufwärts- und Abwärtsbewegung von Kommunikation. Der kurze Dienstweg sorgt für eine zügigere Kommunikation zu den Seiten hin.

Die graue Literatur kennt jeder, der mit Publikationen umgeht, von der man nicht recht weiß, ob es sich wirklich um Publikationen handelt, da sie weder über eine ISBN noch über einen Erscheinungsort verfügt: Selbstdrucke, Arbeitspapiere usw.

Bei der Vetternwirtschaft geht es nicht im strengen Sinne um die Zusammenarbeit von Vettern bzw. Cousinen. Es geht aber um verdächtige Vorteilsnahme von Personen in Amt und Würden auf der Basis von Bekanntschaft- und Verwandtschaftsverhältnissen. Formale, meritokratisch ausgerichtete Beziehungen, zu denen prinzipiell alle Zutritt haben, werden durch informale, klientelistische Beziehungen in geschlossenen Systemen ersetzt. Nicht das Können steht im Vordergrund, sondern die gegenseitige Loyalität der Systemmitglieder.

Die Hinterzimmer sind nie sprichwörtlich Hinterzimmer, sondern (virtuelle) Räume, in denen unter Umständen in Umgehung formaler Entscheidungsbefugnisse und unter Ausschluss von Öffentlichkeit Entscheidungen vorbereitet bzw. getroffen werden. Früher waren diese Hinterzimmer vorzugsweise von rauchenden Männern okkupiert.

Schattenwirtschaft bezeichnet man jene Bereich des wirtschaftlichen Lebens, in denen ein formales Berichtswesen, Steuererhebung, Rechnungswesen usw., aber auch soziale Absicherungs- und Rentensysteme nicht bzw. nur teilweise vorhanden sind. Das kann der Fall sein, wenn im Kontext einer sonst formal geordneten Wirtschaft verbotenerweise Schwarzarbeit vonstatten geht. Das kann aber auch der Fall sein, wenn eine formale Ordnung des Wirtschaftens in einem bestimmten Kontext nur in Ansätzen existiert. In diesem Fall stellt die Schattenwirtschaft den Regelfall des Wirtschaftens dar.

Mehr zum Thema unter https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/jakobeit/forschung/akuf/archiv/arbeitspapiere/formalepolitik-conrad-2003.pdf

Am Anfang ist der Anfang – frei nach Hannah Arendt

Alles hat einen Anfang.

Das Leben hat einen Anfang. Die Schule hat einen Anfang. Das Studium hat einen Anfang. Die Liebe hat einen Anfang.

Manche Anfänge sind ganz klar als solche erkennbar. Das Geschrei des Säuglings. Die Schultüte. Der Umzug an den Studienort. Der berühmte erste Blick.

Andere Anfänge sind eher schleichend. Der eigentliche Beginn des Anfangs liegt im Dunkeln. Wann habe ich angefangen, Gedichte zu schreiben? Ich weiß es nicht. Wann habe ich angefangen zu beten? Ich weiß es nicht.

Hannah Arendt schreibt dazu: „Es ‚geschieht nicht Neues unter der Sonne‘, es sei denn, dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“ (Vita activa oder Vom tätigen Leben, 4. Auflage, München 2006, 259). Wir handeln also, und es geschieht etwas Neues, ein Anfang entsteht.

Alles, was einen Anfang hat, hat aber auch ein Ende. Auf eine Geburt folgt irgendwann ein Tod.

Das ist manchmal traurig, aber notwendig. Was wäre denn, wenn dauernd nur Gottesdienste anfangen würden, diese aber nie aufhörten?! Was wäre, wenn wir unsere Klausuren immer nur beginnen würden, diese aber kein Ende fänden?! Was wäre, wenn aller Menschen Leben in dieser Zeit unendlich wären?

Natürlich gibt es auch Dinge die aufhören, von denen wir uns wünschen, dass sie immer wieder neu anfangen könnten: die Liebe natürlich; die Freude am Glauben; aber auch die Gerechtigkeit auf der Welt. Es gibt Dinge, die sollten eigentlich nie ein Ende nehmen dürfen, so fühlen wir es.

Irgendwann – da kennen sich die Physiker_innen unter uns aber besser aus – macht auch einmal der Kosmos schlapp. Das können wir uns zwar nicht recht vorstellen, aber das heißt ja gar nichts. Was ist dann mit der Liebe, mit dem Glauben, mit der Gerechtigkeit?

Was anfängt und nie aufhört, davon ist der christliche Glaube überzeugt, ist diese Geschichte des Glaubens selbst, ist dieses sogenannte Evangelium, ist dieser Jesus Christus. Der Glaube glaubt, dass die Geschichte von Jesus Christus, deren Anfang wir in diesen Tagen feiern, nicht schlapp macht. Jesus Christus kommt nicht zum Ende.

„Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“, heißt es im Markusevangelium gleich zu Beginn.

Die Natalität – so Hannah Arendt – ist das Urbild eines neuschöpfenden Handelns. Es kommt etwas in die Welt, was die Dinge verändert. So geschehen mit Jesus Christus. Und der Glaube glaubt: Diese Geburt hat kein Ende. Dieser Anfang hört nicht auf. Diese neuschaffende Handlung ist der Anfang aller Anfänge. Und das macht mir Hoffnung in diesem besonderen Advent.

Was heißt und ist Tagespolitik?

„Tagespolitik“ – das Wort mag in den letzten Wochen wenig Verwendung gefunden haben, da in Ausnahmesituation wenig von dem Alltäglichen gesprochen wird. Doch unter normalen Umständen – zu denen man ja hofft, bald zurückkehren zu können – wird das Wort häufig im Mund geführt.

Dabei kommt die Tagespolitik semantisch in (mindestens) zwei Bedeutungen vor:

 

„Tagespolitik“ beschreibend (deskriptiv)

Wenn jemand beschreibend über die Tagespolitik spricht, dann tut er dies meist aus der Sicht der politisch Handelnden. Es geht um das konkrete „Politiktreiben“, was Kari Palonen einmal mit dem Neologismus „politicking“ umschrieb (in: Four Times of Politics: Policy, Polity, Politicking, and Politicization, Alternatives, Jg. 28, Nr. 2, 2003).

Es geht in diesem Fall des „politicking“ dann erstens um das alltägliche Handeln von politischen Institutionen und den Menschen in diesen Institutionen. Es geht um Sitzungen, Anträge zur Tagesordnung, erste und zweite und dritte Lesung, kleine und große Anfragen, Redebeiträge zu unterschiedlichen Gesetzesvorhaben usw. In der Lokalpolitik geht es auch um die politische Befassung mit der Ausweisung neuer Baugebiete oder Naturschutzgebiete, die Vorbereitung auf eine Kommunalwahl, das mündliche und schriftliche Beantworten von Bürgerfragen u.v.a.m. Das Repertoire der tagespolitischen Aufgabenfelder und der konkreten Tätigkeiten – der Performanz – ist umfangreich, gerade in einem föderalen Staat mit seinen unterschiedlichen politisch-institutionellen Ebenen. Wer einen exemplarischen Eindruck gewinnen möchte von der Komplexität der Tagespolitik als alltäglichem politischen Handeln, der lese regelmäßig die Wochenzeitung Das Parlament. Oder man schaue sich auf der Internetseite der heimischen Kommune und deren Gremien, Räte, Ausschüsse um nach den Tagesordnungen, Anträgen, Verwaltungsschreiben usw.

Die Tagespolitiken (Plural!) in den jeweils anderen Settings (Länder, Kulturen, Traditionen) unterscheiden sich im konkreten Aussehen und Anfühlen zum Teil deutlich voneinander.  Das ist dann Gegenstand der vergleichenden politischen Forschung. Das gilt, zweitens, auch für die Tagespolitik, die an anderen Orten als den einschlägigen politischen Institutionen geschieht und oft nicht als Politik erkannt wird. Es handelt sich dabei um die Tagespolitik, die „Gelegenheitspolitiker“ (Max Weber) – die Aktvistin, der betroffene Bürger, die NGO, der Ortsverein – auf dem Feld der kollektiven Entscheidungsfindung treiben. Denn – eine Banalität – Politik wird nicht nur von den sog. Berufspolitikerinnen und -politikern betrieben, sondern von jedem Menschen, der sich über sein familiäres Umfeld hinaus in der kollektiven Meinungsbildung und Entscheidungsfindung engagiert. So gibt es also auch eine Vereinspolitik, Kirchenpolitik, Kulturpolitik und andere Tagespolitiken von Gelegenheitspolitiktreibenden.

 

„Tagespolitik“ wertend (evaluativ)

Es gibt die „Tagespolitik“ dann aber auch noch in einem wertenden Sinne. Wer evaluativ über die Tagespolitik spricht, tut dies meist aus der Sicht eines Beobachters. Man spricht dann „über“ die Politik, nicht als Teil der Politik.

Ich habe den Eindruck, dass die wertende Rede über Tagespolitik eigentlich fast immer eine abwertende Rede ist. Die Evaluation besteht meist aus einer rhetorischen Disqualifikation.  Metaphorisch wird dann von den „Niederungen“ oder dem „Geschäft“ der Tagespolitik gesprochen. Und von manchen politischen Ämtern – Monarch, Präsident usw. – wird behauptet, sie würden sich nicht mit der Tagespolitik beschäftigen bzw. über der Tagespolitik stehen. Das ist dann richtig, wenn man damit meint, dass diese Ämter auf bestimmte Formate der Tagespolitik – z.B. parlamentarische Prozedere – wenig formalen Einfluss haben. Gleichzeitig geht hier begriffliche Augenwischerei vor sich, da auch ein repräsentativ gedachtes Präsidentenamt zu jeder Stunde eine Tagespolitik eigenen Typus betreibt, nämlich die Tagespolitik eines repräsentativ gedachten Präsidentenamtes: Reden schreiben & halten, Besuche abstatten, Korrespondenz usw.

Die „Tagespolitik“ wird auch gerne den sogenannten grundlegenden – z.B. ethisch imprägnierten – politischen Fragen gegenüber gestellt. Diese rhetorische Gegenüberstellung übersieht aber, dass schon die Einteilung in tagespolitisches Geschäft und grundlegende Fragen eine politische Entscheidung ist, die man so treffen kann, aber nicht so treffen muss. Zudem ist der Übergang von tagespolitischen zu grundlegenden Fragen fließend, da auch jede grundlegende Frage im Rahmen des tagespolitischen Geschäfts besprochen, entschieden und letztlich umgesetzt werden muss und tagespolitische Themen schnell ein grundlegende Seite offenbaren.

Evaluativ steht „Tagespolitik“ für alles, was gemeinhin an dem vermuteten Alltag der Politik nicht geschätzt wird. „Tagespolitik“ als imaginierter Raum des Schlechten an der Politik stellt das Reservoir für gesellschaftliche Politikerschelte und Politikverdrossenheit dar. Dabei verdeckt die evaluative Lesart von „Tagespolitik“ die deskriptive Lesart fast vollkommen. Das eigentliche Tagesgeschäft der politisch Handelnden wird unter der Ab-/Wertung nicht mehr sichtbar. Ebenso verdrängt wird der Umstand, dass wir alle zu einem gewissen Maß Politik treiben: zu unterschiedlichen Gelegenheiten, an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Gruppierungen. Der rhetorische Vorwurf, das sei ja alles nur Tagespolitik, fällt damit schnell auf den Urteilenden zurück.

Über passives, aktives und pro-aktives Handeln

Aktives und passives Handeln: Gibt es da überhaupt einen Unterschied?

Es war Hannah Arendt, die zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln als unterschiedlicher Modi des menschlichen Wirkens unterschied, wobei sie dem Handeln die eigentliche kreative Kraft im Umfeld menschlicher Pluralität zuschrieb. Arendt schreibt in Vita activa: „In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe“ (ebd. 4. Aufl., München, 2006, 2015).

Nun kennt der alltägliche Sprachgebrauch, vor allem aber der geschäftliche Kreativ-Sprech, in Bezug auf das Handeln mindestens drei Abstufungen: (passives) Handeln, aktives Handeln und gar pro-aktives Handeln. Machen diese Unterscheidungen Sinn?

Zu erst: Was ist Handeln? Max Weber definiert noch vor Hannah Arendt das Handeln – und im Anschluss daran auch das Handeln in sozialen Bezügen – auf folgende Weise:

„‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, Tübingen 1972, 1.)

Dabei ist Weber wichtig, dass Handeln immer einer bestimmten Person zugeschrieben werden muss. Kollektive bzw. juristische Personen können nicht im eigentlichen Sinne handeln, nur die natürlichen Personen in diesen:

„Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, Tübingen 1972, 6.)

Bei Arendt generiert das Handeln Neues. Bei Weber generiert das Handeln Sinn.  Das ist beides nicht das Gleiche. Neues und Sinn sind aber auch nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ist aber die Unterscheidung in bloßes/passives, aktives und pro-aktives Handeln eine sinnvolle Unterscheidung? Nein und Ja.

Nein: Schon oben konnte man lesen, dass Weber das innerliche und äußerliche Tun, aber auch das passive Lassen und Dulden zum Handeln dazu zählte. Wichtig ist nur, dass diesem Handeln vom Handelnden ein Sinn zugeschrieben wird. Menschen, die reflexartig eine Fliege aus ihrem Gesichtskreis wegwischen, handeln nicht. Handeln ist ein sinnvolles sich Verhalten zur Welt und dieses sich Verhalten kann innerlich und äußerlich, sichtbar und unsichtbar, bewusst verändernd oder nur unterlassend vonstatten gehen. So sehen es auch die diversen Schuldbekenntnisse der Kirchen, die sich darauf beziehen, was einer „Gutes unterlassen und Böses getan“ hat. Handeln ist demnach weder per se passiv, noch aktiv oder pro-aktiv. Es ist einfach Handeln: der Versuch, sich sinnvoll zur Welt zu verhalten. Hannah Arendt würde es hier mit ihrem emphatischen Handlungsbegriff selbstverständlich nicht belassen.

Ja: In den Augen jener, die Handeln beobachten bzw. evaluieren bzw. motivieren wollen, macht eine Unterscheidung in bloßes/passives, aktives und pro-aktives Handeln Sinn. Denn die Steigerungsformen des Handelns werden rhetorisch ins Spiel gebracht, wenn es schneller, wuchtiger, entschiedener zugehen soll. Die Steigerung hat dort offenbar seinen Platz, wo ein Motivationsverstärker als Passivitätsüberwinder für nötig erachtet wird. Die Steigerungsformen machen also semantisch keinen Sinn. Sie sind vielmehr dem Feld der rhetorisch durchaus wirkmächtigen Floskeln zuzuschlagen. Wenn ich von mir behaupte, dass ich pro-aktiv eine Sache angehe, dann will ich damit ausdrücken, dass ich dies nun mit ganzer Entschiedenheit tun werde; oder besser: dass ich dies nun mit ganzer Entschiedenheit behaupte, dass ich es tun werde.

Auf der realen Ebene ist alles Handeln gleich. Es steht „im Gegensatz zu bloßem Naturgeschehen“ und formuliert einen „Bedingungszusammenhang von Handlung und Hand“, also einen Zusammenhang zwischen innerem und äußerem Bewegtsein bzw. Bewegtwerden (vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3 G-H, Darmstadt, 1974, Sp. 992). Im rhetorischen Framing, also dem Rechtfertigungsdiskurs der unter Druck geratenen handelnden Person macht es aber einen Unterschied, ob ich von passivem Handeln, aktivem Handeln und pro-aktiven Handeln spreche. Dass diese Steigerungsformen semantisch letztlich leer sind, zeigt sich spätestens dann, wenn alle behaupten, sie würden nur noch pro-aktiv durch die Welt gehen. Spätestens dann ist man notgedrungen auf der Suche nach der nächsten Steigerungsvokabel.

Vielleicht gelangt man ja dann auch irgendwann einmal wieder zu der von Hannah Arendt etwas verächtlich dem aktiven Leben gegenüber gestellten vita contemplativa, der dezidierten Ablehnung jedes hyperkreativen Aktivismusgeredes.