Die Tagebücher von lebenden Menschen lesen geht nicht. Das gleicht der Schnüffelei und erschüttert jedes Vertrauen. Anders ist es bei Tagebüchern toter Menschen.
Henry David Thoreau ist nun schon seit über 150 Jahren tot. Seine Tagebücher werden in einer sorgsamen (und kostspieligen) Ausgabe von der Princeton University Press herausgegeben. Alle paar Jahre folgt ein neuer Band. Stück für Stück arbeite ich mich durch diese Bände hindurch. Derzeit lese ich den Band Nr. 3, der den Zeitraum 1851/1852 umfasst.
Henry David Thoreau ist ein sehr detailreicher, fast schon manieristischer Schreiber. Er kann über lange Passagen hinweg Natureindrücke oder Reisebeschreibungen wiedergeben, die keinem klaren Spannungsbogen folgen. Deshalb tut man gut daran, sich für die Lektüre seines Tagebuchs viel Zeit zu nehmen. Vor zehn Jahren begann ich den ersten Band. Erst jetzt bin ich beim dritten angekommen, der vierte wurde soeben beim Buchhändler meines Vertrauens bestellt. Und es stehen noch viele Bände vor mir; Princeton University Press hat bislang acht Bände veröffentlicht und hat damit noch lange nicht die gesamten Tagebucheinträge abgedeckt. Thoreau war ein sehr eifriger Tagebuchschreiber.
Das Tagebuch war für Thoreau unter anderem Notizbuch für spätere Publikationen. Viele Passagen aus den Tagebüchern finden sich unter seinen Publikationen wieder. Über Jahre hinweg pflegte er die Praxis, die Seiten seines Tagebuchs, die er für andere Veröffentlichtungen benötigte, einfach dem Tagebuch – physisch – zu entnehmen. In der Edition der Princeton University Press stehen daher öfter redaktionelle Einschübe wie „32 pages missing“. Ab Anfang der 1850er Jahre beendete Thoreau diese Praxis aber. Das Tagebuch wird fortan zu dem Ort seiner vertieften Selbstreflexion und seines Schaffens. Es wird immer opulenter, ausuferender, sehr ermüdend für den, der in Eile ist, höchst aufschlussreich für den Langsamleser.
Wer fremde Tagebücher liest, der begleitet einen Menschen durch seine Tage. Im Falle von Henry David Thoreau liegen diese Tage über 150 Jahr zurück, wodurch der Leser nicht nur das Leben eines Einzelnen mitliest, sondern dieses Leben auch noch in seiner Zeit kennenlernt. Fremde Tagebücher aus früheren Zeiten sind folglich eine gute Übung der Dezentrierung: die eigene Position, die eigene Zeit, das Hier und Jetzt wird relativiert, entthront. Der Leser fremder Tagebücher wird daran erinnert: Es gab auch schon zu anderen Zeiten ein „Hier und Jetzt“, Augenblicke, die es festzuhalten sich lohnte, Dinge, die nicht vergessen werden sollten.
Bei Thoreau sind diese Augenblicke, diese Dinge sehr kleinteilig. Ein Vogelflug, das Wachstum eines Baumes, eine Liste von Baustoffen: für den Transzendentalisten – zu welchen Thoreau allgemein gezählt wird – sind diese Details wichtig und erinnerungswert. Weshalb räumt er ihnen in seinem Tagebuch so weiten Raum ein? Weil sein Tagebuch für ihn noch weit mehr ist als ein Notizblock. Er hält am 13. Januar 1841, also in den frühen Jahren seiner Schreibtätigkeit, fest:
„We should offer up our perfect thoughts to the gods daily – our writing should be hymns and psalms. Who keeps a journal is purveyor for the Gods. There are two sides to every sentence; the one is contiguous to me, but the other faces the gods, and no man ever fronted it. When it utter a thought I launch a vessel which never sails in my haven more, but goes sheer off into the deep. Consequently it demands a godlike insight – a fronting view, to read what was greatly written.“ (Journal Vol. 1, 1837-1844, PUP 1981, 220).
Das Führen seines Tagebuchs hat für Thoreau somit spirituelle Qualität. Diese vertikale, transzendente Dimension des Schreibens ist bei ihm nicht mit einem materialen Gottesbegriff verbunden; dafür war er als Transzendalist zu undogmatisch eingestellt. Doch der Akt des Schreibens ist mehr als ein bloßes Aufzeichnen. Die Götter sind beim Verfassen des Tagebuchs sein Gegenüber: „They are my correspondent to whom daily I send off this sheet post-paid“ (ebd. 259).
Henry David Thoreaus Tagebuch vermittelt also nicht nur einen Eindruck von einer historischen Person in seiner Zeit. Das Tagebuch dieses Fremden ermutigt dazu, das Schreiben der eigenen Geschichte als einen Ausdruck höherer Ideen zu verstehen. Oder andersherum: Ideengeschichte und Biographie sind eng miteinander verwoben. Und ein Tagebuch ist der Seismograph für alle Bewegungen und Erschütterungen in diesem Gewebe.
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