In welchem Europa lebe ich?
In einem Europa der Verunsicherung. Die (Un-)Ordnung des Kalten Krieges zuckt – dank russischer Annektionspolitik – als schon Totgeglaubte wieder unter dem Teppich. Ich habe nicht das Gefühl, dass man im (westlichen) Europa auf solch eine Wiedergeburt vorbereitet war. Vorbereitet war man auch nicht auf die Kriege im Nahen Osten und darauf, dass deshalb viele Menschen dorthin wollen, wo Frieden und Ordnung herrschen. Die neue (Un-)Ordnung rüttelt an uns, doch wir wirken wie Verschlafene, die nicht aus dem Traum ihres persönlichen Friedens aufwachen wollen.
In einem Europa der ungezählten Menschenschicksalen. Aus abgesperrten Lastwagen, aus kenternden Kähnen, an überfüllten Bahnsteigen schaut uns das Leben – und der Tod – von Menschen an, deren Schicksale apokalyptisch sind. Heribert Prantl bemüht in seinem politpolemischen Plädoyer „Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge“ (2015) daher das jesuanische Wort: Was ihr einem meiner geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan (Prantl 2015: 9). Wir sind es gewohnt, dass die wahrhaft schrecklichen Menschenschicksale in der Ferne stattfinden; mittels einer kleinen Spende und dem fairen Handel können wir uns dann ein reines Gewissen schaffen. Nun steht die Menschheit und ihre individuellen Schicksale vor unserer Türe, sie lebt in unseren Turnhallen und verlassenen Baumärkten. Wir haben uns nur noch nicht daran gewöhnt.
In einem Europa der Ungleichzeitigkeit. Der eine lebt in einer Globalisierung der Gleichgültigkeit und mag sich von dem, was beispielweise in Calais vor sich geht, nicht berühren lassen. Der andere versucht die Globalisierung der Nächstenliebe Wirklichkeit werden zu lassen und lehrt in seiner Freizeit den (noch) Fremden die eigene Sprache. Die einen freuen sich in stiller Gelassenheit über ihren monatlichen Gehaltsauszug, die anderen fristen im gleichen Haushalt als unangemeldete Putzhilfe ein karges Dasein. Wir leben alle im gleichen Jetzt, im selben Hier. Aber sind wir uns auch alle bewusst, dass das Hier und Jetzt so unterschiedlich, so polar, so spannungsreich sein kann? Dass zwischen mir und Dir Welten und Zeitalter klaffen können?
In einem Europa der Hoffnung. Ich ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken: Hoffentlich geht es bald zu Ende: die große Zahl der Flüchtlinge, die militärischen Maschen Russlands, die griechische Finanzkrise usw. Doch ich hoffe an der Wirklichkeit vorbei. Hoffen geht aber nur in der Wirklichkeit, und über sie hinaus. Denn die Hoffnung lebt nicht von der Intervention einer übernatürlichen, äußeren Macht, die allem Leid ein Ende macht. Diese Hoffnung gibt es auch. Doch die europäische Hoffnung muss immer sein – und das klingt reichlich naiv: Gemeinsam lösen wir Probleme; gemeinsam schaffen wir Frieden. Wir tun dies nicht durch einen großen Wurf, sondern durch das Stückwerk unserer Taten, durch das Hin und Her im Ringen des politischen Alltags. Diese Hoffnung gebe ich nicht verloren.