Die Demut der Asche

Das trockene Laub zerfällt in der Hitze der Flamme, entzündet sich kurz und zerfällt schwarz in kleine Körner. Asche bleibt zurück.

Wir schätzen die Asche nicht. Asche ist zu nichts gut. Asche ist Sinnbild dafür, dass etwas das war, nicht mehr ist. Dass eine Präsenz Vergangenheit ist. Dass Zerstörung und Vernichtung herrschten. Dass dort, wo Leben war, nun „Schutt und Asche“ sich ausbreiten.

Wir schätzen die Asche nicht, und produzieren sie doch ständig neu. Denn Asche steht für das, was wir Menschen noch am besten können: zerstören, verbrennen, vernichten. Im Anthropozän ist kein Winkel dieser Erde mehr von dieser Zerstörung, diesem Brand, dieser Vernichtung, die Menschen verursachen, ausgenommen. Die natürlich entstehenden Feuer werden von den menschlich fabrizierten Aschenbergen in den Schatten gestellt. Wir haben die Möglichkeit alles zur Asche werden zu lassen. Und oft genug ergreifen Menschen diese Möglichkeit und lassen sie zur erschreckenden Wirklichkeit werden. In der großen Weltpolitik. Im Alltag der kleinen Entscheidungen.

Das Wissen um die viele Asche, die wir auftürmen, sollte eigentlich Demut lehren. Und Umkehr. Doch davon ist selten etwas zu spüren oder zu hören: Dass jemand umkehrt. Dass jemand sich schuldig bekennt. Dass ein Mächtiger und Hochmütiger angesichts der Asche, die er in die Welt hinauswirft, demütig wird. Dem Aufruf des ‚Nie wieder‘ folgt die Realität des ‚Schon wieder‘ nur zu schnell.

Und warum müssen wir erst immer katastrophal viel Asche aufhäufen, um den Ruf nach der Demut laut werden zu lassen? Wir wissen doch mittlerweile um unsere Zerstörungswut. Müssen wir es uns alle paar Jahrzehnte neu beweisen? Müssen wir uns immer wieder neu am eigenen Versagen ergötzen? Liest denn niemand die Geschichtsbücher und hört niemand die Erzählungen aus der Vergangenheit? Wir wissen: Ein heroischer Blick zurück lügt zumeist. Die Gegenwart steht auf blutigen Füßen.

Ich blicke auf das kleine Häufchen Asche vor mir. Und hoffe auf mehr Demut. Au mehr Umkehr. Geschichte und Gegenwart haben genug Asche gesehen.

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Was ist gute Geschichtsschreibung? Zu einem Zitat von Rowan Williams.

„Good historical writing, I suggest, is writing that constructs that sense of who we are by a real engagement with the strangeness of the past, that establishes my or our identity now as bound up with a whole range of things that are not easy for me or us, not obvious or native to the world we think we inhabit, yet which have to be recognised in their solid reality as both different from us and part of us.“

(Rowan Williams 2005: Why Study the Past. The Quest for the Historical Church, London, 23f.)

Was meint Rowan Williams mit diesem Zitat?

Williams ist auf jeden Fall davon überzeugt, dass es so etwas wie gute Geschichtsschreibung gibt. Es gibt Qualitätsmaßstäbe anhand derer wir gute von schlechter Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden können. In diesem Zitat führt Williams als Qualitätsmaßstäbe nicht vorrangig wissenschaftliche Kriterien wie z.B. gründliches Quellenstudium an. Das ist für ihn, so vermute ich, eine Selbstverständlichkeit. Vielmehr sagt Williams:

Gute Geschichtsschreibung zeichnet sich dadurch aus, dass sie uns mit der Diskontinuität und Brüchigkeit unserer eigenen Geschichte und Identität bekannt macht. Gute Geschichtsschreibung zerlegt dadurch aber nicht unsere Geschichte, Geschichten bzw. Identität, Identitäten in unkenntliche Einzelteile. Gute Geschichtsschreibung offenbart unser eigenes Wesen als das, was jedes Wesen auch ist: als brüchig. Sie vermittelt Ehrlichkeit, Demut und schafft dadurch einen Raum größerer Offenheit und Freiheit.

Gute Geschichtsschreibung erschafft keine Mythen, erzählt keine Heldengeschichten und baut keine große Monumente. Gute Geschichtsschreibung entlarvt die Kontinuität von Geschichte und Identität als Fiktion. Und sie entlarvt das politische Streben nach dieser Kontinuität als ein Abweichen von der Wahrheit, als Lüge.

Denn die Wahrheit dieser Welt ist oftmals für den, der sie sucht, höchst unbequem. Wenn ich lange genug in meine Geschichte hinein schaue – meine eigene Geschichte, die Familiengeschichte, die Geschichte meiner Kommune, meines Landes, meiner Religionsgemeinschaft, meines Sportvereins, … – je länger und gründlicher ich schaue, desto bunter und vielfältiger und damit fremder wird das Bild. Selbstverständlichkeiten lösen sich auf.

Die Geschichte wird dadurch aber nicht weniger meine Geschichte. Nein: Die Geschichte mag mir durch mein genaues Hinschauen fremd geworden sein, aber sie ist auch reicher an Detail; sie ist lebendiger; sie ist menschlicher. Gute Geschichtsschreibung hat also durchaus einen Blick für das Detail, da in diesem Detail das Wissen meiner um mich selbst facettenreicher wird, Monotonität verliert.

Schlechte Geschichtsschreibung ist grotesk langweilig. Gute Geschichtsschreibung überrascht jedoch eins ums andere Mal mit den wilden Schattierungen des echten Lebens.

Was mich Bücher über Geschichte Neues gelehrt haben!

Ich lese gerne Bücher und Essays über die Geschichte. Zugegebenermaßen lese ich dabei vorwiegend Sachbücher und unter diesen meist Bücher über Orte, Menschen, Geschehen, die mir einigermaßen nahe liegen. Die Geschichte Afrikas ist mir zum Beispiel noch völlig unbekannt.

Was erwarte ich von einem solchen Buch über die Geschichte? Ich suche darin ab und an Bestätigung. Wenn ich z.B. in einem Geschichtsbuch einen Hinweis finde, der meine Hypothese von der „Fortdauer des Heidentums“ zu bestätigen scheint, dann freut mich das.

Von einem Geschichtsbuch möchte ich aber auch Erzählungen, Details, Deutungen lesen, die mich irritieren und meine Erwartungen durchkreuzen. Ja, ich habe Vorurteile, und wie H.G. Gadamer ausführt, halte ich diese Vorurteile für den Erkenntnisprozess auch für wichtig. Diese Vorurteile müssen sich aber auch darauf einstellen, gelegentlich nicht bestätigt zu werden. Die Fakten dürfen ihnen gerne widersprechen. Bücher über Geschichte helfen mir dabei etwas Neues zu lernen über die Komplexität und Vielgestaltigkeit der Vergangenheit.

Das ist ja ein Allgemeinplatz. Daher werde ich im Folgenden konkret und nenne einige ausgewählte Bücher und Texte, die mir eine bestimmte Erkenntnis, eine besondere Idee vermittelt haben. Es sind zufällige Mosaiksteine eines historischen Gedächtnisses, das sich auf einem endlosen Weg der Vertiefung und Erweiterung befindet.

Zum Beispiel:

Von Thomas Großböltings „Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945“ (2013) habe ich gelernt, dass die Glaubenspraxis in Deutschland schon lange vor der fortschreitenden Liberalisierung der Gesellschaft der 1960er Jahren am Schwinden war.

Ian Kershaw macht in „The End. Germany 1944-1945“ (2011) deutlich, dass viele Deutsche bis in die letzten Kriegstage den Terror der Nazis nicht abschütteln konnten und kaum Widerstand leisteten.

Die Existenz der Intellektuellen wird schon lange begleitet von der Klage, es gäbe keine Intellektuellen mehr. Stefan Collini schreibt hierüber mit „Absent Minds. Intellectuals in Britain“ (2006) ein sehr intellektuelles Buch.

Bei Gillian Evans „The University of Oxford. A New History“ (2010) lässt sich nachlesen, dass es in der Frühgeschichte der Universität einen dauerenden, auch handgreiflichen Streit zwischen den Universitätsangehörigen und der Stadtbevölkerung gab.

Hubert Wolf enthüllt in „Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte“ (2013), wie menschlicher Makel und Verblendung im italienischen 19. Jahrhundert in der Lage war Kirchen- und Theologiegeschichte zu schreiben.

Hedwig Richter führt in ihrem Essay „Schnaps für die Wähler“ (2016) in die feucht-fröhliche und durchaus nicht immer friedliche Geschichte des Wählens in den Vereinigten Staaten ein.

In Celia Cussens „Black Saint of the Americas: the life and afterlife of Martin de Porres“ (2014) las ich, dass es gewichtige Gründe dafür gibt, diesen wichtigen Heiligen des Dominikanerordens unter die Laien des Ordens und nicht unter die Brüder zu zählen.

Wolfgang Schivelbusch ist in „Die Kultur der Niederlage“ (2001) der Meinung, dass Länder, die in einem Krieg unterliegen, unter Umständen als Gesellschaft einen kreativen Umgang mit dieser Niederlage zu finden.

Über Politik wird in allen möglichen Tonarten und Begrifflichkeiten, mit unterschiedlichen Intentionen und Interessen gesprochen. Wichtig aber ist: Politik ist eine Aktivität. Sie ist veränderbar und gestaltbar. Das ist das Thema von Kari Palonens „The Struggle with Time. A Conceptual History of ‚Politics‘ as an Activity“ (2014).

Europa wurde geprägt von Akteuren dreier Religionen: „Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr.„. Das ist in dem gleichnamigen Buch von Michael Borgolte aus dem Jahre 2006 nachzulesen.

U.v.a.m. … .

Welches historische Buch, welcher geschichtliche Text hat Ihnen auf die Sprünge geholfen?

 

 

 

 

Geschichte und Gedächtnis – ein Gedanke zu einem Gedanken von Maria Stepanowa

Einen interessante Gedanken habe ich bei der russischen Essayistin Maria Stepanowa gefunden. In der Literaturzeitung „Sinn und Form“ (2020/1) schreibt Stepanowa:

„Wie verhält sich das persönliche, mit Affekten und Projektionen dichtbesetzte Gebiet des Gedächtnisses zum faktenbasierten Reich der Geschichte? Sind ihre Territorien identisch? Haben sie zumindest eine gemeinsame Grenze? In welche Beziehung stehen sie zueinander?“ (ebd. 22).

Ich lese den Satz von Stepanowa so, dass sie von einer idealtypischen Unterscheidung ausgeht, nicht von zwei sich nie zusammenfindenden Polen. Denn objektive Geschichte und subjektives Gedächtnis sind so weit nicht voneinander entfernt. Das Allgemeine und das Besondere sind ja immer schon miteinander verquickt.

Der Hintergrund von Stepanowas Frage steht Feststellung, dass sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten der persönliche Antrieb, familiäres, örtliches Gedächtnis zu rekonstruieren enorm ausgeweitet habe. Menschen versuchen ihre eigene Geschichte zu schreiben und bemühen sich auf diesem Wege, Teil einer größeren Erzählung zu werden. Stepanowa schreibt:

„Jenseits des individuellen zeichnen sich die Konturen eines größeren Projekts ab, und mit einem Mal fühlt man sich aufgehoben in einem Gemeinschaftswerk.“ (19)

Solch eine – in nenne es einmal – Sinnsuche ist im Zeitalter der modernen Entwurzelung und nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts mehr als verständlich. Das Individuum sucht seine eigenen Wurzeln in den Irrungen und Wirrungen des Weltgeschehens. Kritisch wird es nur, wenn diese Sinnsuche dazu neigt, Geschichte zu glätten, Ungereimtes, Unschönes aus der Erzählung zu verbannen. Die russische Essayistin kann hier auf Erfahrungen aus ihrem eigenen Land verweisen.

Geschichte und Gedächtnis, vermeintlich Objektives und vermeintlich Individuelles bleiben aber stets aufeinander bezogen. Ich kann, wie Stepanowa es herzhaft tut, das eine nicht als dezidiert wichtig und das andere als gänzlich unwichtig bezeichnen (vgl. 22). Geschichte und Gedächtnis geben sich jeweils die Klinke in die Hand. Es handelt sich um eine Erzählung, freilich mit vielen unterschiedlichen Dimensionen.

Geschichte im Singular, wie Reinhart Koselleck einmal feststellt, besteht aus Geschichten im Plural. Denn das Gedächtnis, das ich mithilfe meines Familienstammbaumes mir aufbaue, ist verbunden mit den Höhen und Tiefen der Weltgeschichte, mit Kriegen, Migrationsbewegungen, Missernten, Neuanfängen. Und die objektive Weltgeschichte existiert nicht jenseits der menschlichen Handlungen, ist selbst wieder eine konstruktive Kreatur unserer Taten und Untaten, unseres Segens und Fluchens. 

Über die „Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins“ im 19. Jahrhundert – eine Notiz zu Hans-Georg Gadamer

Im europäischen 18. und 19. Jahrhundert hat sich ideengeschichtlich betrachtet viel getan: über die Säkularisierung des Denkens bzw. die Verschiebung der Sinngehalte weg vom originären Religiösen hin zu anderen Bereichen wurde schon viel geschrieben; die Ausdifferenzierung der Wissenssysteme bis hin zur Institutionalisierung verschiedener Wissensbereiche an Bildungseinrichtungen wie Schule und Hochschule ist wohl bekannt; die Um- und Ausprägung zahlreicher Grundbegriffe der sozialen und politischen Sprache hat Reinhart Koselleck dazu gebracht hat, von der Zeit als einer „Sattelzeit“ zu sprechen.

Mit diesen Veränderungen, besonders mit der Letztgenannten, ist eng verbunden, was Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode (Tübingen 1960/1990) als die „Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins“ umschreibt.

Was meint Gadamer mit der „Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins“?

Die Entstehung des geschichtlichen Bewusstsein muss – im Kontext von Wahrheit und Methode eigentlich selbstverständlich – als die Verwirklichung eines spezifischen Zugangs zum Verstehen von historisch gewachsener Welt und Wirklichkeit verstanden werden. Es handelt sich also um einen hermeneutischen Deutungsversuch. Die Dinge der Vergangenheit – Gadamer spricht von Überlieferung, Kunst und „anderen geistigen Schöpfungen der Vergangenheit, Recht, Religion, Philosophie usw.“ (170) – erzählen bzw. offenbaren ihr Wesen nicht in unmittelbarer Weise, sondern ihr Wesen, ihren Sinn gilt es für den Betrachter erst zu erschließen.

Bei der Betrachtung muss man sich gewahr werden, dass diese Dinge eben einer Vergangenheit, der Geschichte, angehören und uns mitunter befremdlich anmuten. Aus diesem entfremdeten, distanzierten, aber durchaus nach Sinn strebenden Blick zurück in die Vergangenheit heraus entsteht das Bewusstsein, dass es so etwas wie Geschichte gibt. Die betrachteten Dinge und Phänomene sind nicht einfach Vergangenheit, sie sind mit Bedeutung aufgeladene Geschichte. Koselleck würde hinzufügen: Aus den vielen Geschichten der Vergangenheit wird so der Kollektivsingular der einen Geschichte.

Die Entstehung des historischen Bewusstsein entspringt, so schreibt Gadamer, aus der „Entwicklung der hermeneutischen Methode in der Neuzeit“ (177). Seine Referenzpersonen an dieser Stelle sind Schleiermacher und Hegel. Man könnte es aber durchaus auch anders herum formulieren: Die Entstehung des historischen Bewusstseins auf der einen Seite und die schrittweise Verfeinerung des Weltverstehens aus Texten, Quellen und Zeugnissen heraus auf der anderen Seite bedingen sich wechselseitig.

Mit Bezug auf Friedrich Schleiermacher sagt Gadamer aus, dass die dogmatischen Interessen den historischen Interessen weichen (200f.). Die Geschichte beginnt sich selbst auszulegen und folgt in ihrer Auslegung keinem vorab festgelegten Muster mehr. Man könnte freilich mit Bezug auf John Henry Newman auch aufzeigen, dass die dogmatischen Interessen mittels des geschichtlichen Bewusstsein dynamisiert wurden. Das Dogma wird selbst geschichtlich vermittelte Wahrheit und Sinnversprechen. Dazu schreibt Gadamer:

„Die Wendung zum historischen Bewußtsein ist dann nicht ihre (der Hermeneutik, BC) Befreiung von den Fesseln des Dogmas, sondern ein Wandel ihres Wesens“ (181).

 

 

Der Begriff der Situation und die Ideengeschichte

Der Begriff der Situation leidet daran, dass er auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kaum über eine Art „sanctified common sense“ hinauskommt. Situation meint einfach das, was jeder so oder so schon darunter versteht, ohne dass man sich noch weiter darüber verständigen müsste. Letztlich meint der Begriff der Situation (nur) unsere Verortung in einem gegenwärtigen Netz von Interaktionen und Reflexionen, Erfahrungen und Erwartungen.  Dies mag man existentialistisch vertiefen, psychologisch ausbuchstabieren, soziologisch ausarbeiten. Wer sich hier tiefer einlesen möchte, sei auf den guten Übersichtsartikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie verwiesen (HWPh Bd. 9, 924-937).

Bei aller Banalität hat der Begriff der Situation aber einige Reize, wobei mich hier vor allem die Vorzüge hermeneutischer Art interessieren. Der Ahnherr der zeitgenössischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, sprach in Wahrheit und Methode sogar von einer sogenannten „hermeneutischen Situation“. Angelehnt an das existentialistisch von Karl Jasper Vorgedachte schreibt Gadamer: „Man steht in ihr (der Situation, BC), findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist.“ (Gadamer 1990: Wahrheit und Methode, 6. Auflage, Tübingen, 307). Und dezidiert von der hermeneutischen Situation schreibt Gadamer: Das sei „die Situation, in der wir uns gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben“ (ebd.). Gegenwartsbezogen ist die hermeneutische Situation also; bezogen auf das Zuvorgesagte ist sie; und letztlich ihrem Verständnis nach nicht vollständig zu durchschreiten.

Situationen sind zudem keine singulären Momenterscheinungen, sondern sie sind je schon eingebettet: in ein normatives, rhetorisches, sozialgeschichtliches, ideelles Umfeld. Dazu werden Situationen von jedem Betrachter stets und unwiderruflich durch eine bestimmte hermeneutische Brille gelesen. Der Blick in die Vergangenheit, der Weg des Verstehens, ist nie ohne solch eine Brille zu haben. Eine erste Frage, die sich im Umgang mit dem Begriff der Situation also stets stellt, ist die Bedeutung, die man dem weiteren Umfeld der Situation zuschreibt im Gegensatz zum eigentlichen, disruptiven situativen Augenblick. Und eine zweite Frage stellt sich bezüglich des eigenen Blicks auf diese Situation, der erwähnten Brille: Kann ich sinnvolle, beständige Aussagen treffen über einen historischen Augenblick, eine früher formulierte Idee, einen einst aufgekommenen Begriff? Oder muss ich mich damit abfinden, dass zwischen mir und der Geschichte ein unüberwindbarer Graben klafft?

In der Ideen- und Begriffsgeschichte kommt, drittens, immer einmal wieder die Frage auf, welche Bedeutung der kontinuierlichen, langfristigen Entwicklung von Begriffen oder Ideen zukommt und wie dagegen die diskontinuierlichen, eher kurzfristigen Veränderungen im Begriffsapparat und Ideenhaushalt einer Gesellschaft zu verstehen sind. So wurde in der Vergangenheit Reinhart Koselleck mit der Langfristbewegung der Begriffe in Verbindung gebracht und Quentin Skinner mit den kurzfristigen Veränderungen. Exemplarisch nachlesen lässt sich dies unter anderem bei Kari Palonen (2003: Die Entzauberung der Begriffe, Münster).

Die beschriebenen Polaritäten – Situation vs. Kontext bzw. Zugänglichkeit der Geschichte vs. trennender Graben bzw. Kurzfristigkeit vs. Langfristigkeit  – kommen dabei nur einem heutigen Bedürfnis nach Klarheit und Parteinahme entgegen. Die Zuspitzung hilft dem heutigen forschenden Subjekt, sich seiner eigenen Position im Gewebe der vielen möglichen Positionen zu versichern. Die Lösung liegt nicht in einem entweder-oder, aber auch nicht in einem zufälligen sowohl-als-auch, sondern in der gründlich hermeneutisch durchdachten, historisch fundierten, anspruchsvollen Begründung der eigenen Position.

Aber auch das ist wieder eine banale Feststellung. Diese Feststellung hat aber gar nicht so banale Folgen. Fordere ich nämlich eine ordentliche Begründung für meinen eigenen Blickwinkel auf die jeweilige „ideengeschichtlich Situation“ (Andreas Dorschel 2010: Ideengeschichte, Göttingen, 104) ein, dann sage ich zweierlei: Zum einen zwinge ich die Ideengeschichte auf konkrete, historisch-diskursive Zusammenhänge einzugehen, gründliches Quellenstudium zu betreiben, Ideen- und Sozialgeschichte zusammen zu bringen. Ich schaue mir somit eine konkrete Situation vertieft an und anerkenne sie als einen Ort des Verstehens. Zum zweiten stelle ich aber auch die Forderung auf, dass ich nicht einfach isolierte ideengeschichtliche  Situationen bzw. Stationen betrachte, sondern auch den Sinn für die größeren Zusammenhänge wahre. So versuchte bspw. Reinhart Koselleck in seiner Einleitung zu Geschichtliche Grundbegriffe die Ideologisierung, Politisierung, Säkularisierung und Verzeitlichung als einen solchen größeren Verstehenszusammenhang für die Begriffsgeschichte auszuweisen (vgl. Koselleck, Reinhart 1972: Einleitung, in: Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Stuttgart, S. XIII-XXVII).

In konkreten Situationen wird Ideengeschichte fortgeschrieben. Im bloßen Stieren auf die Situation schreibt sich aber noch keine Ideengeschichte. Es sind auch Fragen zu klären wie: Warum entwickeln sich Ideen fort? Wie entwickeln sich Ideen fort? Wohin entwickeln sich Ideen? Und welche realen Auswirkungen mag diese Entwicklung haben? Einen weiteren Beitrag zu diesen Fragen hoffe ich in Bälde nachliefern zu können. Denn ich mag den Anspruch nicht aufgeben, „in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (Gadamer: Wahrheit und Methode, 309).

Nachtrag: Hier geht es zu dem angekündigten weiteren Beitrag.

Weihnachten und die Liebe des Glaubens zu den Fakten

Wir seien im post-faktischen Zeitalter angekommen oder, wie es die Briten sagen, in einer „post-truth“-Ära. Das ist zum Ende des Jahres allgemeiner Vorwurf, Hilferuf, Schreckensschrei, Klagewort oder Vorurteil – je nach Standpunkt. Und nun nähert sich Weihnachten. Dieses Fest konfrontiert uns mit einem Faktum, das es unter den Menschen schon von je her schwer hatte: der Geburt eines Menschen als Sohn Gottes aus dem Schoß einer Jungfrau: „et homo factus est“.

Der christliche Glaube hat Erfahrung im Umgang mit dem Post-/Faktischen. An den Rändern der Kirche gab es schon früh Bestrebungen, angeblich unliebsame Fakten aus dem Weg zu räumen. Marcion war beispielsweise dafür bekannt, dass er im 2. Jahrhundert nach Christus große Teile des Alten Testaments aus dem christlichen Schriftenkanon ausschließen wollte, da sie ihm nicht ins Weltbild passten. Andere stellten zur gleichen Zeit die These auf, Christus sei mehr Gott und nur ein bisschen Mensch gewesen (sog. Doketismus ) oder – das andere Extrem – mehr Mensch und nur ein bisschen Gott (sog. Arianismus). Auf diese Weise wollte man sich den anstrengenden Glauben an den ungreifbaren, unfassbaren Gott-Mensch Jesus Christus etwas einfacher machen.

Es ging bei diesen Disputen um zentrale Glaubenswahrheiten, die für die Entwicklung des christliche Glaubens elementar waren und sind: sowohl die Dispute als auch die Wahrheiten. Die Glaubenswahrheiten, um die es hier geht, stehen aber nicht im ideellen luftleeren Raum, sondern sind zurück gebunden an Fakten: die Geburt Jesu Christi, sein Leben und Wirken, sein Tod am Kreuz, das Rätsel seiner Auferstehung und damit zusammenhängend die Entstehung der Kirche aus dieser Faktenlage heraus. Fakten freilich sind das, die auch hinüberwachsen in das Reich des Glaubens, des Vertrauens und Zutrauens. Es sind eben nicht nur Fakten.

Der christliche Glaube ist keine Naturwissenschaft. Es geht bei ihm nicht (nur) um Beweise und Fakten im harten Sinne. Es geht im Glauben aber auch nicht ohne Fakten, ohne reale Geschehnisse, ohne Wirklichkeit, ohne Geschichte. Ohne das historische Faktum „Jesus Christus“ gibt es keinen christlichen Glauben. Und je nach Grad der gläubigen Überzeugung des Einzelnen und mit dem Fortschreiten der Ideengeschichte des kollektiven Glaubens wird dieses Faktum angereichert mit weiteren Überzeugungen, Formeln, Dogmen, Gewissheiten. Ohne Rückbezug an das Faktum „Jesus Christus“ würden diese Ausformungen des Glaubens aber irgendwann kollabieren. Ideen brauchen Fakten, um am Leben zu bleiben. Und Fakten brauchen Ideen, um Kreativität freizusetzen.

Natürlich kann man einem Gläubigen jederzeit vorwerfen, er glaube an Dinge, die keine Rückbindung an das Land des Faktischen hätten. Dieser Vorwurf wurde und wird auch regelmäßig vorgebracht. Der Vorwurf sollte jedem Gläubigen Grund genug sein, seinen Glauben stets mit guten Argumenten verteidigen zu wollen und zu können. Dafür hat sich jeder zu rüsten, denn die schlimmsten Zweifel an den Fakten wachsen so oder so im eigenen Herzen. Man kommt an ihnen nicht vorbei.

Für mich war bislang stets gewiss: Es gibt sie, die Gründe, weshalb der Glaube viel mit der Wirklichkeit und der Wahrheit zu tun hat. Mit der Wahrheit, wie sie faktisch ist und auch mit der Wirklichkeit, wie wir sie uns für die Zukunft wünschen.