Was ist der Westen? Einige Zitate und der Versuch einer Definition.

Vor einigen Tagen veröffentlichte ich an dieser Stelle den Bericht eines Podiumsgesprächs unter Historiker_innen, das sich der Idee des Westens widmete. Mein Beitrag endete mit einigen Fragen: „Wer waren und sind die Träger einer Idee des Westens? In welchen Kontexten wird vom Westen gesprochen? In welcher Situation werden seine Werte hochgehalten? Wo beginnt und wo endet der Westen?“

Im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ fanden sich nun einige passende Passagen, die als eine mögliche Antwort auf einige meiner Fragen dienen können. Diese Passagen klären keineswegs alles auf, doch können sie hilfreich sein. Ich empfehle die Lektüre des ganzen Artikels. Alle Zitate finden sich im Band W-Z aus dem Jahr 2004 auf den Spalten 661-675.

Zur Geografie des Westens: „Eine relativ klare Trennungslinie zwischen Orient und Okzident festigte erst die Teilung des Römischen Reiches, die Auflösung des Westteils und die Entfremdung zwischen den lateinischen und den griechischen Kirchen.“ (661)

Zur semantischen Abhängigkeit des Westens von dem Osten (und anders herum): „Westen und Osten fungieren, begriffsgeschichtlich betrachtet, als Großstereotypen, deren häufig persuasive geschichtliche Selbst- oder Fremdbeschreibung von den jeweiligen Deutungsinteressen abhängig ist.“ (661) Bzw.:“Seit der frühen Neuzeit entwickeln sich (…) Vorstellungen, die bei allen perspektivischen Unterschieden dem Westen eine Superiorität über den Osten zusprechen.“ (663) Bzw. die Sowjetunion unter Stalin: „Westen wird nun zu einer Metapher für die kapitalistische Welt, deren Differenzen kaum noch gesehen werden.“ (670)

Was vom Osten erwartet wurde: „Ex oriente lux.“ (664)

Soviel zur Kontingenz von Himmelsrichtungen: „…, daß erst im 19. Jahrhundert Rußland in der westeuropäischen Fremdbeschreibung vom ‚Norden‘ zum ‚Osten‘ Europas mutierte.“ (668) Bzw.: „China versteht sich von alters her als ‚Land der Mitte‘.“ (672)

Ideen leben in Abhängigkeit von politischen Interessen: „Der Gebrauch solcher ‚Superkategorien‘ wie ‚der Westen‘ und ‚der Osten‘ wird häufig von den Interessen politischer Rhetorik dominiert. Karriere macht der Begriff ‚Westen‘ sowohl in China als auch in Japan erst im Kontext der Modernisierungsdiskussion.“ (674)

Was ist also der Westen? Vielleicht kann man den Westen vorläufig so definieren:

Der Westen ist eine an ihren Rändern durchlässige geografische Einheit, die spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts uneinheitlich über die Weltkugel verteilt ist. Der Westen ist gleichzeitig auch die Idee einer Einheit von Wertvorstellungen, die ebenfalls seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit dem zivilisatorischen Projekt von Demokratie und Gleichheit verbunden ist. Der Westen lebt zuletzt seit je her von seiner Gegenüberstellung mit einem wie auch immer gearteten und vorgestellten Anderen, dem Osten.

 

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Die britische Brexit-Debatte, die Seele Europas und der Nachhinkeffekt (nach Norbert Elias)

Wenn in britischen oder auch deutschen Publikationen die Debatte um den möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union –  kurz: Brexit – thematisiert wird, dann werden meist folgende Argumente vorgebracht:

Das Autonomieargument der Brexit-Befürworter: Wir müssen raus aus der EU, weil wir selbst entscheiden wollen, was für unser Land gut und richtig ist. Als eine der ältesten parlamentarischen Demokratien weltweit wollen wir uns nicht von „Europa“ bevormunden lassen. Sei es die Europäische Union mit ihren Institutionen oder der Europarat mit seinem Gerichtshof: Wir, die Brexit-Befürworter wollen uns von ihnen nichts sagen lassen, weshalb wir aus allem, was nach Europa schmeckt, aussteigen müssen.

Das Wirtschaftsargument der Brexit-Gegner: Es wäre ein Desaster, wenn wir aus der EU aussteigen würden, weil dann der Finanzplatz London gefährdet wäre. Überhaupt ist vollkommen unkalkulierbar, welche Folgen ein Austritt auf unsere heimische Wirtschaft haben wird. Wir würden uns im Falle eines Brexit wohl weiter den europäischen Regeln beugen müssen ohne Einfluss auf deren Gestaltung zu haben. Wir, die Brexit-Gegner wollen unsere Prosperität nicht aufs Spiel setzen. Deshalb sind wir für einen Verbleib innerhalb der EU.

Ehrlich gesagt finde ich das Autonomieargument der Brexit-Befürworter wesentlich schlagkräftiger. Hier geht es um (vermeintliche) Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit, um den Wunsch nach äußerer Nichteinmischung. Es geht ein Stück weit um Prinzipien, die es zu verteidigen gilt. Das Wirtschaftsargument der Brexit-Gegner riecht etwas arg nach Opportunismus: Solange es uns innerhalb der EU wirtschaftlich besser geht als außerhalb, ist ein Austritt nicht opportun. Das wäre mir als Brite persönlich zu wenig.

Käme daher nicht noch (mindestens) ein weiteres Argument hinzu, müsste ich den Briten am 23. Juni diesen Jahres fast zu einem Austritt aus der EU raten. Dieses zusätzliche Argument ist normativer Natur und orientiert sich an den europapolitischen Visionen, die seit Beginn des europäischen Projekts mal mehr mal minder handlungsleitend waren, gerade auch bei britischen Politikern der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Ben Ryan von der kirchlichen Denkfabrik „Theos“ in London veröffentlichte nun unlängst einen Bericht unter dem Titel „A Soul for the Union“ (Theos 2015), in dem er das normative Argument (neu) in die Debatte einbrachte. Ryans Argument in nuce: Der Wert der britischen EU-Mitgliedschaft kann nicht nur vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Vorteile bemessen werden. Man muss diesen Wert in den auch nationalen Vorteilen des langfristigen europäischen Friedens- und Solidaritätsprojekts sehen. Im Wortlaut:

„A consensus has been allowed to build up that the primary, perhaps exclusive value of Europe lies in national economic interest – i.e. will we – the British or Spanish or Slovaks – be ‚better off‘ in or out of Europe?“  (23)

Dieses ökonomische Argument ist Ryan zu wenig: „Even at its best it would still, ultimately, be a weak raison d’être“ (27) für die EU. Ryan erinnert an die normativen, genauer christdemokratischen Grundlagen, die am Beginn der europäischen Integration nach dem 2. Weltkrieg standen. Diese hätten in der Vergangenheit unter den gesellschaftlichen Eliten ein Gefühl der gemeinsamen Solidarität befördert, welche Schritt für Schritt in das konkrete politische Vorhaben einer europäischen Integration überführt wurde. Es bestand in der Vergangenheit also die geteilte Überzeugung, dass man in Europa die anstehenden Probleme besser zusammen lösen solle als auf dem Weg nationaler Alleingänge.

Ryan anerkennt, dass der heutige Zustand der Europäischen Union wenig Anlass zu solch prinzipiellen europäischen Überzeugungen gibt. Grund dafür sei aber, dass das Projekt EU bei vielen nur noch durch die ökonomische Brille wahrgenommen werden würde.  Diese verengte Wahrnehmung lenkt aber den Blick weg von den vielfältigen – auch positiven – Auswirkungen, welche die europäische Integration für jeden EU-Bürger hat: grenzüberschreitender Verkehr, kultureller Austausch, Internationalisierung der Bildungsbiografien, jahrzehntelanges friedliches Zusammenleben usw.

Ryans Vorschlag lautet daher: „Putting a soul (back) in the union“ (37). Er möchte die europäische Vision wiederbeleben, um von der wirtschaftlichen Verengung wegzukommen hin zur Erneuerung gelebter Solidarität und Gemeinschaft. Damit kritisiert er gleichzeitig die Brexit-Debatte, wie sie derzeit in Großbritannien geführt wird. In dieser wird  der große historische und ideelle Rahmen des europäischen Friedensprojekts fast komplett ausgeblendet; der langfristige Wert und Nutzen überstaatlicher Solidarität wird gering geschätzt. Ryan folgert: „The issue is the deeper existential problem that the EU has not successfully created Europeans. There is a missing identity (40).“

Ryans Vorschläge zur Stärkung einer europäischen Identität und Solidarität („making Europeans“ 39) – er nennt u.a. die Direktwahl des Kommissionsvorsitzenden (49) und eine engere militärische Zusammenarbeit (51) – teile ich nicht. Sie würden meiner Meinung nach das Problem, ja, Dilemma wohl nur noch verstärken: Weitere Integrationsschritte führen nicht zu einer zunehmenden emotionalen Bindung, sondern zu einer größer werdenden Dissoziation. Dennoch legt Ryan den Finger in die Wunde: Wie lässt sich die EU weiter führen, wenn die emotionale Unterstützung vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger für das Projekt europäischer Solidarität fehlt? Was können wir tun, um diese Unterstützung zu festigen?

Norbert Elias nennt dieses Phänomen fehlender emotionaler Verbundenheit in einem seiner Texte den „Nachhinkeffekt“. Der Soziologe Elias schreibt:

Bei der Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungsgänge begegnet man immer von neuem einer Konstellation, wo die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in der Richtung auf eine andere, ob eine nächsthöhere oder niedrigere, Stufe vorstößt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe beharren. Es hängt ganz von der relativen Stärke des sozialen Entwicklungsschubes ab und von deren Verhältnis zur Tiefe des Einbaus und so zu Widerstandskraft des sozialen Habitus der Menschen, ob – und wie schnell – die Dynamik des ungeplanten Gesellschaftsprozesses eine mehr oder weniger radikale Umstrukturierung dieses Habitus herbeiführt oder ob sich der soziale Habitus der Individuen erfolgreich der weiterdrängenden Gesellschaftsdynamik widersetzt und sie sei es teilweise bremst, sei es auch völlig unterbindet.“ (Die Gesellschaft der Individuen, 1991, 281).

Norbert Elias spricht ausdrücklich vom Prozess der europäischen Integration, wenn er den Nachhinkeffekt erwähnt (ebd.). Viele Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU scheinen emotional eben (noch) nicht in Europa als einem konkreten politischen Gebilde angekommen zu sein. Noch hinkt der Habitus der EU-Bürger der fortschreitenden politischen Integration hinterher. In Großbritannien (aber nicht nur dort) zeigt sich jetzt deutlich, dass der mentale Prozess der Europäisierung des Habitus noch nicht sonderlich weit entwickelt ist. Die Menschen fühlen sich mit ihrem Land, ihrer Nation, ihrem Staat verbunden. Europa ist eben nur bedingt eine Erinnerungsgemeinschaft. Eine solche lässt sich auch nur bedingt bewusst schaffen; sie ist für eine habituelle Verbundenheit aber notwendig. Kollektive Erinnerung wächst spontan, baut sich auf an Krisen und an gemeinsam bewältigten Herausforderungen. Sie kann sich, dass zeigt die zunehmende EU-Skepsis nach Jahren der Integration, auch wieder zurückentwickeln. Krisen können eben nicht nur miteinander verbinden; sie können auch voneinander trennen.

All das kann paradoxerweise heißen:

Sollten die Briten nach einer intensiv geführten Debatte sich gegen den Brexit entscheiden und sollte die EU zudem einigermaßen unbeschadet durch die sogenannten Flüchtlingskrise hindurch kommen, würde hier ein Stück weit kollektive Europäisierung entstehen können. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl könnte entstehen. Eine gemeinsame Seele Europas wäre erahnbar.

Freilich: Der Konjunktiv in diesen Formulierungen, die Unsicherheit der gemeinsamen Zukunft lässt aufrechte Europäer erschaudern.

Navid Kermani und der „Einbruch der Wirklichkeit“ in Europa – ein Lektürehinweis

Im September und Oktober 2015 reiste Navid Kermani im Auftrag eines deutschen Nachrichtenmagazins auf der Route der Flüchtlinge vom Balkan, über die griechische Insel Lesbos an die Westküste der Türkei. Seine Erfahrungen gibt er in einem schmalen Reportagenband wieder, der vor einigen Tagen bei C.H. Beck erschienen ist (Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, München C.H. Beck 2016).

Wer Kermanis Buch „Ausnahmezustand. Reisen aus einer beunruhigten Welt“ aus dem Jahr 2013 kennt, weiß um die Wirklichkeit, die Kermani über Europa hereinbrechen sieht. Es ist die von sozialen, religiösen und militärischen Konflikten zerrüttete Wirklichkeit vieler jener Völker, die südlich und östlich der Türkei leben.  Diese Wirklichkeit rückt den Europäern näher und näher auf den Leib. Die Metapher des plötzlichen „Einbruchs“ ist für die Geschehnisse und die Gefühlslage der Deutschen im Herbst 2015 durchaus richtig gewählt.

Kermani schildert in seiner Reportage eine Reihe von Einzelschicksalen, Geschichten von Menschen, die er auf dem Weg trifft. Dabei interessieren ihn vor allem jene Frauen, Männer und Kinder, die es vielleicht gar nicht bis an die deutsche Grenze schaffen: die Beraubten, die Gedemütigten, die Müden. Er trifft sie in Belgrad, auf Lesbos, auf dem Hof einer Moschee im türkischen Izmir. Er beobachtet Helfer, durchaus auch mit kritischer Distanz. Er lässt aufblitzen, wie nahe sich Trauer und Glück, Hoffnung und Elend in den Leben der Flüchtenden sind.

Jedes Einzelschicksal hat für Kermani aber auch eine politische Dimension. Denn die Geschichte eines jeden individuellen Flüchtlings ist imprägniert von dem Scheitern der großen Politik in den Herkunftsländern der Geflüchteten und in Europa. Kermani ist sich dessen sicher, weshalb er dann auch immer wieder (europa-) politische Kommentare in seine Reportage einflechtet. Denn der „Flüchtlingstreck durch Europa“ ist gleichzeitig eine vehemente Rückfrage an den politischen und moralischen Zustand Europas. „Wollen wir Europa, oder wollen wir es nicht?“ (27) fragt Kermani emphatisch an die Adresse seiner Leserinnen und Leser gewandt. Und mit Blick auf die Weltgegenden, die er vor einigen Jahren für „Ausnahmezustand“ durchreiste notiert er: „Nur ein starkes, einiges und freiheitliches Europa könnte die Welt zu befrieden helfen, aus der so viele Menschen zu uns fliehen.“ (47).

Navid Kermani ist selbst nur einige wenige Tage eingetaucht in die bittere Wirklichkeit der Flüchtlinge auf dem Weg von Kleinasien nach Mitteleuropa. Mit ihm tauchen seine Leserinnen und Leser ebenfalls nur punktuell ein in eine Welt zwischen Mitgefühl und Profitgier, zwischen Ignoranz und tatkräftiger Hilfe, zwischen Resignation und Aufbruch. Man kann sich dieser Wirklichkeit verschließen, sich einbunkern hinter einem Wall von Ressentiments. Doch besser ist es, so lässt sich Kermani verstehen, wenn diese unruhige Wirklichkeit der globalisierten Welt für Europa zu einem Projekt wird für eine nach vorne schauende, realitätsnahe demokratische Politik der Mitmenschlichkeit.

 

In welchem Europa lebe ich? Aus sehr aktuellem Anlass.

In welchem Europa lebe ich?

In einem Europa der Verunsicherung. Die (Un-)Ordnung des Kalten Krieges zuckt – dank russischer Annektionspolitik – als schon Totgeglaubte wieder unter dem Teppich. Ich habe nicht das Gefühl, dass man im (westlichen) Europa auf solch eine Wiedergeburt vorbereitet war. Vorbereitet war man auch nicht auf die Kriege im Nahen Osten und darauf, dass deshalb viele Menschen dorthin wollen, wo Frieden und Ordnung herrschen. Die neue (Un-)Ordnung rüttelt an uns, doch wir wirken wie Verschlafene, die nicht aus dem Traum ihres persönlichen Friedens aufwachen wollen.

In einem Europa der ungezählten Menschenschicksalen. Aus abgesperrten Lastwagen, aus kenternden Kähnen, an überfüllten Bahnsteigen schaut uns das Leben – und der Tod – von Menschen an, deren Schicksale apokalyptisch sind. Heribert Prantl bemüht in seinem politpolemischen Plädoyer „Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge“ (2015) daher das jesuanische Wort: Was ihr einem meiner geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan (Prantl 2015: 9). Wir sind es gewohnt, dass die wahrhaft schrecklichen Menschenschicksale in der Ferne stattfinden; mittels einer kleinen Spende und dem fairen Handel können wir uns dann ein reines Gewissen schaffen. Nun steht die Menschheit und ihre individuellen Schicksale vor unserer Türe, sie lebt in unseren Turnhallen und verlassenen Baumärkten. Wir haben uns nur noch nicht daran gewöhnt.

In einem Europa der Ungleichzeitigkeit. Der eine lebt in einer Globalisierung der Gleichgültigkeit und mag sich von dem, was beispielweise in Calais vor sich geht, nicht berühren lassen. Der andere versucht die Globalisierung der Nächstenliebe Wirklichkeit werden zu lassen und lehrt in seiner Freizeit den (noch) Fremden die eigene Sprache. Die einen freuen sich in stiller Gelassenheit über ihren monatlichen Gehaltsauszug, die anderen fristen im gleichen Haushalt als unangemeldete Putzhilfe ein karges Dasein. Wir leben alle im gleichen Jetzt, im selben Hier. Aber sind wir uns auch alle bewusst, dass das Hier und Jetzt so unterschiedlich, so polar, so spannungsreich sein kann? Dass zwischen mir und Dir Welten und Zeitalter klaffen können?

In einem Europa der Hoffnung. Ich ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken: Hoffentlich geht es bald zu Ende: die große Zahl der Flüchtlinge, die militärischen Maschen Russlands, die griechische Finanzkrise usw. Doch ich hoffe an der Wirklichkeit vorbei. Hoffen geht aber nur in der Wirklichkeit, und über sie hinaus. Denn die Hoffnung lebt nicht von der Intervention einer übernatürlichen, äußeren Macht, die allem Leid ein Ende macht. Diese Hoffnung gibt es auch. Doch die europäische Hoffnung muss immer sein – und das klingt reichlich naiv: Gemeinsam lösen wir Probleme; gemeinsam schaffen wir Frieden. Wir tun dies nicht durch einen großen Wurf, sondern durch das Stückwerk unserer Taten, durch das Hin und Her im Ringen des politischen Alltags. Diese Hoffnung gebe ich nicht verloren.

Robert Menasse und der Unsinn des „nation-building“

In der Postkonfliktforschung waren in den vergangenen Jahren zwei englische Begrifflichkeit dominierend: das „state-building“ und das „nation-building“.

Der erste Begriff, „state-building“ bzw. Staatsaufbau, meint die kontinuierliche Schaffung konkreter staatlicher Strukturen – Bürokratie, Polizei, Armee, Volksvertretung usw. – an einem Ort, wo diese nur mangelhaft vertreten sind. In allen Postkonfliktsituationen der jüngeren Vergangenheit – z.B. Irak, Afghanistan, Kosovo – ist dies für sich genommen schon eine große Herausforderung.

Der zweite Begriff, „nation-building“, meint etwas wesentlich Diffuseres. Er meint die Überwindung ethnischer Partikularitäten und die Schaffung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Eigentlich ist dies ein hehres und wichtiges Ziel. In der historischen Betrachtung ergibt sich aber folgende Beobachtung: Prozesse der Nationenbildung sind oft einher gegangen mit der Unterdrückung von Minderheiten, mit deren Vernichtung oder Vertreibung. Dies trifft sowohl auf das 19. Jahrhundert als auch für das 20. Jahrhundert zu. Gleichzeitig ist es auch bei gewordenen Nationen weiterhin reichlich schwierig, die konkreten positiven Merkmale auszumachen, die eine Nation zu einer solchen machen.

Wer also in heutiger Zeit in Postkonfliktsituationen das „nation-building“ vorantreiben möchte, der weiß nicht, auf was er sich einläßt. Diese Beobachtung greift Robert Menasse in seiner kleinen Streitschrift „Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas“ (2012) auf. Die gegenwärtige europäische Krise beschreibt er weniger in finanzieller Hinsicht. Für Menasse ist die gegenwärtige Situation eine krisenhafte Zuspitzung aufgrund eines um sich greifenden Nationalismus in der Europäischen Union.

Menasses Kernfrage ist: „Wie kann das Nie-Dagewesene aussehen, dieses historisch völlig Neue, das weltweit innovative, kühne europäische Avantgarde-Projekt: die nachnationale Demokratie“ (95)? Vielleicht geht Menasse etwas arg fahrlässig mit unseren nationalen Demokratien um. Seiner Meinung nach stellen sie sich in den Weg einer fundamentalen Demokratisierung von Europa und einer endgültigen Überwindung des Nationalismus.

Doch in der Bewertung des „nation-building“ kann man Robert Menasse uneingeschränkt zustimmen. Wer heute noch die Bildung von Nationalstaaten als erstrebenswert ansieht, der nimmt die mit der Nationswerdung einhergehenden Gewaltexzesse billigend in Kauf. Der Nationalstaat erscheint uns heute als selbstverständlich und wohltuend stabil. Er ist es aber nur, weil die großen Differenzerfahrungen, d.h. Minderheiten, daraus verbannt wurden. Nationalstaaten wurden regelrecht „herbeigebombt“, wie es Menasse in Bezug auf Jugoslawien ausdrückt (97).

Menasse findet es absurd, daß der Aspekt der „Nationswerdung“ in Europa weiterhin eine Rolle spielt. Vor allem wenn man bedenkt, daß es von Selbstbewußtsein strotzende Nationen waren, die einen ersten und zweiten Weltkrieg, Vertreibung und Völkermord hervorbrachten. Deshalb darf „nation-building“ in der europäischen Politik keinen Platz mehr haben. Menasse schreibt: „Das ist natürlich völlig grotesk, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es beim europäischen Projekt um die Überwindung des Nationalismus ging und geht“ (97).

Es ist Zeit, daß auch in der Postkonfliktforschung und den angelehnten Forschungsfeldern das „nation-building“ zu Grabe getragen wird. Mit „state-building“ hat man schon genug zu tun.