Wenn in britischen oder auch deutschen Publikationen die Debatte um den möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – kurz: Brexit – thematisiert wird, dann werden meist folgende Argumente vorgebracht:
Das Autonomieargument der Brexit-Befürworter: Wir müssen raus aus der EU, weil wir selbst entscheiden wollen, was für unser Land gut und richtig ist. Als eine der ältesten parlamentarischen Demokratien weltweit wollen wir uns nicht von „Europa“ bevormunden lassen. Sei es die Europäische Union mit ihren Institutionen oder der Europarat mit seinem Gerichtshof: Wir, die Brexit-Befürworter wollen uns von ihnen nichts sagen lassen, weshalb wir aus allem, was nach Europa schmeckt, aussteigen müssen.
Das Wirtschaftsargument der Brexit-Gegner: Es wäre ein Desaster, wenn wir aus der EU aussteigen würden, weil dann der Finanzplatz London gefährdet wäre. Überhaupt ist vollkommen unkalkulierbar, welche Folgen ein Austritt auf unsere heimische Wirtschaft haben wird. Wir würden uns im Falle eines Brexit wohl weiter den europäischen Regeln beugen müssen ohne Einfluss auf deren Gestaltung zu haben. Wir, die Brexit-Gegner wollen unsere Prosperität nicht aufs Spiel setzen. Deshalb sind wir für einen Verbleib innerhalb der EU.
Ehrlich gesagt finde ich das Autonomieargument der Brexit-Befürworter wesentlich schlagkräftiger. Hier geht es um (vermeintliche) Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit, um den Wunsch nach äußerer Nichteinmischung. Es geht ein Stück weit um Prinzipien, die es zu verteidigen gilt. Das Wirtschaftsargument der Brexit-Gegner riecht etwas arg nach Opportunismus: Solange es uns innerhalb der EU wirtschaftlich besser geht als außerhalb, ist ein Austritt nicht opportun. Das wäre mir als Brite persönlich zu wenig.
Käme daher nicht noch (mindestens) ein weiteres Argument hinzu, müsste ich den Briten am 23. Juni diesen Jahres fast zu einem Austritt aus der EU raten. Dieses zusätzliche Argument ist normativer Natur und orientiert sich an den europapolitischen Visionen, die seit Beginn des europäischen Projekts mal mehr mal minder handlungsleitend waren, gerade auch bei britischen Politikern der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Ben Ryan von der kirchlichen Denkfabrik „Theos“ in London veröffentlichte nun unlängst einen Bericht unter dem Titel „A Soul for the Union“ (Theos 2015), in dem er das normative Argument (neu) in die Debatte einbrachte. Ryans Argument in nuce: Der Wert der britischen EU-Mitgliedschaft kann nicht nur vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Vorteile bemessen werden. Man muss diesen Wert in den auch nationalen Vorteilen des langfristigen europäischen Friedens- und Solidaritätsprojekts sehen. Im Wortlaut:
„A consensus has been allowed to build up that the primary, perhaps exclusive value of Europe lies in national economic interest – i.e. will we – the British or Spanish or Slovaks – be ‚better off‘ in or out of Europe?“ (23)
Dieses ökonomische Argument ist Ryan zu wenig: „Even at its best it would still, ultimately, be a weak raison d’être“ (27) für die EU. Ryan erinnert an die normativen, genauer christdemokratischen Grundlagen, die am Beginn der europäischen Integration nach dem 2. Weltkrieg standen. Diese hätten in der Vergangenheit unter den gesellschaftlichen Eliten ein Gefühl der gemeinsamen Solidarität befördert, welche Schritt für Schritt in das konkrete politische Vorhaben einer europäischen Integration überführt wurde. Es bestand in der Vergangenheit also die geteilte Überzeugung, dass man in Europa die anstehenden Probleme besser zusammen lösen solle als auf dem Weg nationaler Alleingänge.
Ryan anerkennt, dass der heutige Zustand der Europäischen Union wenig Anlass zu solch prinzipiellen europäischen Überzeugungen gibt. Grund dafür sei aber, dass das Projekt EU bei vielen nur noch durch die ökonomische Brille wahrgenommen werden würde. Diese verengte Wahrnehmung lenkt aber den Blick weg von den vielfältigen – auch positiven – Auswirkungen, welche die europäische Integration für jeden EU-Bürger hat: grenzüberschreitender Verkehr, kultureller Austausch, Internationalisierung der Bildungsbiografien, jahrzehntelanges friedliches Zusammenleben usw.
Ryans Vorschlag lautet daher: „Putting a soul (back) in the union“ (37). Er möchte die europäische Vision wiederbeleben, um von der wirtschaftlichen Verengung wegzukommen hin zur Erneuerung gelebter Solidarität und Gemeinschaft. Damit kritisiert er gleichzeitig die Brexit-Debatte, wie sie derzeit in Großbritannien geführt wird. In dieser wird der große historische und ideelle Rahmen des europäischen Friedensprojekts fast komplett ausgeblendet; der langfristige Wert und Nutzen überstaatlicher Solidarität wird gering geschätzt. Ryan folgert: „The issue is the deeper existential problem that the EU has not successfully created Europeans. There is a missing identity (40).“
Ryans Vorschläge zur Stärkung einer europäischen Identität und Solidarität („making Europeans“ 39) – er nennt u.a. die Direktwahl des Kommissionsvorsitzenden (49) und eine engere militärische Zusammenarbeit (51) – teile ich nicht. Sie würden meiner Meinung nach das Problem, ja, Dilemma wohl nur noch verstärken: Weitere Integrationsschritte führen nicht zu einer zunehmenden emotionalen Bindung, sondern zu einer größer werdenden Dissoziation. Dennoch legt Ryan den Finger in die Wunde: Wie lässt sich die EU weiter führen, wenn die emotionale Unterstützung vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger für das Projekt europäischer Solidarität fehlt? Was können wir tun, um diese Unterstützung zu festigen?
Norbert Elias nennt dieses Phänomen fehlender emotionaler Verbundenheit in einem seiner Texte den „Nachhinkeffekt“. Der Soziologe Elias schreibt:
Bei der Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungsgänge begegnet man immer von neuem einer Konstellation, wo die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in der Richtung auf eine andere, ob eine nächsthöhere oder niedrigere, Stufe vorstößt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe beharren. Es hängt ganz von der relativen Stärke des sozialen Entwicklungsschubes ab und von deren Verhältnis zur Tiefe des Einbaus und so zu Widerstandskraft des sozialen Habitus der Menschen, ob – und wie schnell – die Dynamik des ungeplanten Gesellschaftsprozesses eine mehr oder weniger radikale Umstrukturierung dieses Habitus herbeiführt oder ob sich der soziale Habitus der Individuen erfolgreich der weiterdrängenden Gesellschaftsdynamik widersetzt und sie sei es teilweise bremst, sei es auch völlig unterbindet.“ (Die Gesellschaft der Individuen, 1991, 281).
Norbert Elias spricht ausdrücklich vom Prozess der europäischen Integration, wenn er den Nachhinkeffekt erwähnt (ebd.). Viele Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU scheinen emotional eben (noch) nicht in Europa als einem konkreten politischen Gebilde angekommen zu sein. Noch hinkt der Habitus der EU-Bürger der fortschreitenden politischen Integration hinterher. In Großbritannien (aber nicht nur dort) zeigt sich jetzt deutlich, dass der mentale Prozess der Europäisierung des Habitus noch nicht sonderlich weit entwickelt ist. Die Menschen fühlen sich mit ihrem Land, ihrer Nation, ihrem Staat verbunden. Europa ist eben nur bedingt eine Erinnerungsgemeinschaft. Eine solche lässt sich auch nur bedingt bewusst schaffen; sie ist für eine habituelle Verbundenheit aber notwendig. Kollektive Erinnerung wächst spontan, baut sich auf an Krisen und an gemeinsam bewältigten Herausforderungen. Sie kann sich, dass zeigt die zunehmende EU-Skepsis nach Jahren der Integration, auch wieder zurückentwickeln. Krisen können eben nicht nur miteinander verbinden; sie können auch voneinander trennen.
All das kann paradoxerweise heißen:
Sollten die Briten nach einer intensiv geführten Debatte sich gegen den Brexit entscheiden und sollte die EU zudem einigermaßen unbeschadet durch die sogenannten Flüchtlingskrise hindurch kommen, würde hier ein Stück weit kollektive Europäisierung entstehen können. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl könnte entstehen. Eine gemeinsame Seele Europas wäre erahnbar.
Freilich: Der Konjunktiv in diesen Formulierungen, die Unsicherheit der gemeinsamen Zukunft lässt aufrechte Europäer erschaudern.
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