Über Gelassenheit. Zu einer Predigt von Johannes Tauler OP.

Gelassenheit – sie ist fast schon zu einem Modewort der Wohlfühlindustrie geworden. Gerne wäre man relaxed, entspannt, gelassen. Und gerne macht man sich – mittels Meditation, Körperübungen, Massage usw. – auf den Weg zu mehr Gelassenheit. Der Weg zur Gelassenheit, zur „wahren“ Gelassenheit ist aber weit. Sie fällt einem nicht einfach so zu.

Gelassenheit hängt nämlich eng mit dem „Lassen“ und „Loslassen“ zusammen, vor allem auch mit dem „sich Lassen“ und dem „sich Überlassen“. Darauf weist der Dominikaner Johannes Tauler (1300-1361) in einer seiner Predigten hin. In seiner Predigt zum 3. Sonntag im Advent (veröffentlicht in: Johannes Tauler: Predigten. Band 2, übertragen und hrsg. von Georg Hofmann, Einsiedeln: Johannes 1987, 590ff.) macht Tauler deutlich: Gelassenheit kostet viel. Sie ist schwer zu erringen und harte Arbeit. Gelassenheit ist nämlich gleichbedeutend mit einer inneren Haltung des Loslassens des eigenen Wollens und Begehrens.

Woher kommt eigentlich unsere beständige Nicht-Gelassenheit? Tauler: „Das kommt allein davon, daß wir etwas sein wollen“ (592) Es kommt davon, dass wir sagen: „Ich bin etwas.“ (593) Statusdenken jeglicher Art gebiert Ungelassenheit. Vielmehr sollten wir. so Tauler prägnant, von und zu uns sagen: „Ich bin nichts“ (593).Ich. Bin. Nichts.

Gelassenheit ist also keine oberflächliche Entspannung von Geist und Körper – das gehört ab und an auch dazu. Gelassenheit ist vielmehr eine innere Haltung, die vollkommen von sich absieht. Ich lasse mich los und überlasse mich – im Falle Taulers – Gottes Willen. Und da Gottes Willen für mich nicht hier oder da konkret ausformuliert ist, resultiert die Haltung der Gelassenheit auch nicht in einer Stasis. Vielmehr mache ich mich auf die Suche und verliere auf dieser Suche immer mehr: nicht meine Persönlichkeit, aber meinen Wunsch, an mir festhalten zu müssen, meinen Willen durchsetzen zu müssen, einen gesellschaftlichen, kirchlichen usw. Status erlangen zu müssen. Gelassenheit macht innerlich frei, ja, aber es ist keine billige, selbstbezügliche Freiheit, sondern gerade das Gegenteil: Ich werde frei von mir selbst als statusgierigem Menschen.

Johannes Tauler kennt dieses Statusdenken gerade auch aus seiner Kirche gut und formuliert hart dagegen an: „Hier muß ein Sterben, ein Zunichtewerden, ein Vernichten geschehen, hier muß ein ‚Ich bin nichts!‘ statthaben“ (595). Und da Tauler in Straßburg und damit in unmittelbarer Nähe des Flusses Rhein diese Predigt hält, schlägt er seinen Hörerinnen und Hörern bildhaft vor: „Geh in deinen Grund, und prüfe, was dich am meisten hindert, dich zurückhält (Gott zu suchen, BC); darauf richte den Blick, den Stein wirf in des Rheines Grund“ (596).

Gelassenheit ist also ein Loslassen von eigenen Vorstellungen und Wünschen, eine tiefgreifende Dezentrierung des Ichs. Das macht Gelassenheit so schwer. Auch weil man sie nicht als einfaches Rezept an andere Menschen weiterreichen kann. Gelassenheit ist ein sehr persönlicher Weg des Suchens und Lassens. Auf jeden Fall ist es aber ein Weg weg von mir, hin zu dem/der, den/die Tauler ‚Gott‘ nennt.

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Laien – der Welt nicht ausweichen.

Die Laien sind wieder aktuell. Eine römische Erklärung zur Leitungsfrage in Pfarrgemeinden und deren kontroverse Diskussion hat ihnen jüngst dazu verholfen. Freilich war das römische Papier der denkbar ungünstigste Weg, um auf die Laien in der Kirche aufmerksam zu machen. Dieser Weg hat aber durchaus Tradition. Denn über Laien wurde in den vergangenen Jahren innerkirchlich fast nur geredet, wenn es darum ging, was sie für die Kirche tun können. Wie können sie das Leben der Kirche vor Ort angesichts des Mangels an Priester aufrecht erhalten?[1]

Häufig wurden zwei gedankliche Wege eingeschlagen. Sie führen meines Erachtens aber beide nicht weiter. Zum einen wurde Laiesein gleichgesetzt mit kirchlichem Ehrenamt. Aber nicht jede gläubige Laienperson möchte sich in der Kirche engagieren und auch nicht jeder Mensch, der sich in der Kirche ehrenamtlich engagiert, ist Laie. Trotzdem galt und gilt: ‚Ein guter Laie ist ein Laie, der sich in der Kirche engagiert.‘ Das verengt aber den Blick auf die Vielfalt des Laieseins in Kirche und Welt. Zum anderen wurde das geleistete Engagement der Laien in der Kirche mit einer stark rechtlichen Brille gelesen: Was dürfen sie denn? Und was dürfen sie nicht? Laien fragen so. Aber amtliche Vertreter_innen der Kirche fragen ebenfalls so, siehe die jüngste Erklärung. Wer hat eigentlich mit dieser Fragerei angefangen? Und aus welcher Angst heraus ist die Frage nach dem „Darf ich?“ geboren?

Intuitiv meinen wir zu wissen, wer oder was eine Laienperson innerhalb der Kirche ist. Und genauso intuitiv bestimmen wir die Laien dann rein negativ: Sie sind die Nicht-Kleriker_innen. Sie sind die Nicht-Ordensleute. Diese Negativbeschreibung ist nicht gänzlich falsch, hat aber ihre Tücken. Tücken lauern zum Beispiel auf der deskriptiven Ebene. Ein Beispiel: Ich bin als Laie inkorporiertes Mitglied im Orden der Prediger; zudem arbeite ich in meinem Brotberuf für ein Bistum. Bin ich bei so viel Kirche im Alltag noch ein Laie? Karl Rahner hätte so sein Zweifel gehabt.[2]

Zum anderen führt die Negativbeschreibung der Laien auch zu einem negativen Bild des Beschriebenen. Die Laien werden dann zu Mängelwesen abgestempelt. Sie werden definiert über das, was sie nicht können und nicht dürfen. Es ist wichtig, realistisch zu sein und dieses Nicht-Können und dieses Nicht-Dürfen im Blick zu behalten. Wir gehen auch zur Ärztin, um uns von einer Fachfrau medizinisch untersuchen zu lassen. Von Laien wollen wir uns nicht den Bauch aufschneiden lassen. Und es ist auch die gewählte Person an der Spitze einer Kommune, die Verantwortung trägt für die Arbeit der kommunalen Verwaltung. Wenn nicht gewählte Personen zu repräsentieren beginnen, ist das Amtsanmaßung. Wir brauchen also Fachpersonen und Personen mit legitimer Autorität. Dieses Wissen sollte aber nicht dazu führen, dass man alle anderen Menschen ausschließlich als Nicht-Mediziner_innen oder Un-Gewählte bezeichnet. Es braucht positive Beschreibungen, um eine positive Identifikation mit der eigenen Rolle zu ermöglichen.

Eines fällt auf: Über Laien wurde und wird meist gesprochen von theologischen Nicht-Laien, den sogenannten Profis: von Geistlichen oder von Theologinnen und Theologen. Das muss nicht per se schlecht sein, artet aber gelegentlich zu einem Diskurs mit viel Expertenwissen aus. Was meinen aber die Laien selbst? Sind Laien keine spirituellen Wesen? Können sie ihren geistlichen Erfahrungen keinen Ausdruck geben: in Worten oder auch performativ? Wie kommen wir ihren Erfahrungen, ihren Worten, ihren Taten auf die Spur?

Eine weiterhin sehr brauchbare, da positiv und zudem leidenschaftlich gewendete Definition von Laien bietet der Priester und Ordensmann (also: Nicht-Laie!) Yves Congar OP in seinem „Entwurf einer Theologie des Laientums“ aus den 1950ern. Der Dominikaner Yves Congar schreibt: „Laie sein, das heißt, mit allen Kräften, die in uns sind, sich stürzen in das Abenteuer jenes Suchens nach Gerechtigkeit und Wahrheit, zu dem der Hunger uns treibt und das das Kernstück der menschlichen Geschichte ist.“[3]

Man könnte jetzt fragen: Was für eine Definition ist denn das?! Was Yves Congar da über die Laien aussagt, das könnte ja von jedem geistlich orientierten Menschen ausgesagt werden! Genau darum geht es! Laien sind nichts Besonderes. Laien sind Normalos. Bewusst lebende Laien sind sich darüber im Klaren: Sie sind nichts Besonderes. Und als diese normalen Menschen stürzen sie sich in das Abenteuer der Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit, nach Gott. Dadurch verändern sie die Welt und die Kirche.

Laien haben also nicht die fertigen Antworten. Laien stellen auch nicht Lösung dar. Laien bringen sich aber mit ihren Fragen, mit ihrem Hören und Sehen und Fühlen, mit ihrem Tun und Lassen, mit ihren Worten und ihrem Schweigen in die Geschichte, auch in die Kirchengeschichte ein. Sie werden Fleisch und Mensch inmitten des alltäglichen Wahnsinns von Macht und Demut, von Dienst und Herrschaft, von Zeit und Geld.

Überspitzt formuliert: Wer bewusst laienhaft lebt und sich die Haltung eines geistlichen Menschen aneignet, der weicht nicht in ein gehegtes kirchliches Milieu aus, das ihn vor den Zumutungen des Lebens bewahrt. Laien sind, so Yves Congar an einer Stelle, jene gläubige Menschen, die Gott verherrlichen, „ohne dem Werk der Welt auszuweichen.“[4]

Congar wusste: Laien haben alle Freiheiten der Welt, aber sie leben auch das geistliche Leben eines dauernden zeitlichen und sozialen Kompromisses. Keine Tagesstruktur sagt ihnen, wann es Zeit zu beten ist. Keine Ordensregel hilft ihnen im familiären Zusammenleben. Kein Berufsbild fordert ihnen den Umgang mit spirituellen Traditionsbeständen ab. Alles Geistliche muss den Mühlen des Alltags abgetrotzt werden. Laien weichen nicht aus, nicht zeitlich und nicht örtlich.

Einige (katholische) Laien, wie der Autor dieses Beitrags, schließen sich als Laien einer Ordensgemeinschaft an, tauchen ein in deren Geschichte und Spiritualität, beten deren Gebete, singen deren Lieder. Solch eine Bindung, neudeutsch ‚commitment‘, unterstützt die Suche nach einem spirituellen Leben, nach der persönlichen Heiligkeit, wie man es früher sagte. Zwingend ist diese Bindung aber nicht. Wer bewusst ein Laienleben führt, der lässt sich aber ein auf dieses spirituelle Ringen mit dem ganz normalen Leben. Dort „zwischen den Kochtöpfen“ (Theresa von Avila) finden Laien die Welt vor. Dort finden sie Gott.

 

Dieser Text erscheint zeitgleich bei rotsinn – dem ideengeschichtlichen Blog eines Laiendominikaners – und auf feinschwarz.net – dem theologischen Feuilleton im Netz.

 

[1] Einen schönen Überblick bietet Sabine Demel 2009: Zur Verantwortung berufen. Nagelproben des Laienapostolats, Freiburg: Herder, 21-85.

[2] Vgl. dazu den immer noch lesenswerten Text: Karl Rahner (1954/2005): Über das Laienapostolat, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16, Freiburg: Herder, 51-76.

[3] Yves Congar 1958: Der Laie. Entwurf einer Theologie des Laientums, Stuttgart: Schwabenverlag, 49.

[4] Ebd. 45.

Die leere Mitte – über eine Metapher bei Ulrich Engel „Politische Theologie ’nach‘ der Postmoderne“ (2016)

In der zeitgenössischen politischen Philosophie erfreut sich eine Metapher besonderer Beliebtheit. Es ist die Metapher von der sogenannten leeren Mitte. Man verbindet die Rede von der „leeren Mitte“ unter anderem mit dem französischen politischen Philosophen Claude Lefort und dessen Reflexionen über die Demokratie (in: Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999).

Was ist mit der „leeren Mitte“ gemeint? Gemeint ist bei Lefort damit unter anderem, dass in einer Demokratie die Macht nicht mehr von einer Person (dem Monarchen) ausgeht, sondern ausgeübt wird von einer Vielzahl von Personen, die als Repräsentanten anderer Personen agieren und dies auch nur immer auf Zeit. Eine Akkumulation von Macht ist unerwünscht. Niemand stellt sich dauerhaft ins Zentrum. Keine Einzelperson repräsentiert Macht auf authentische Art und Weise. Das heißt, die metaphorische Mitte der Gesellschaft, der metaphorische Ort der Macht, bleibt metaphorisch leer. Die Rede von der leeren Mitte ist also ein demokratietheoretischer Beitrag im metaphorischen Kleid.

Warum „metaphorisch“? Weil …

  • … es die Mitte der Gesellschaft als ausgewiesener Ort nie gab und gibt, sondern Macht – selbst zu monarchischen Zeiten – immer relationaler Natur war und die Ausübung von Herrschaft stets auf unterschiedlichen Schultern ruhte und ruht und an unterschiedlichen Orten zu Hause war und ist, auch unter einem früheren Kaiser und in zeitgenössischen Diktaturen.
  • … der Ort der Macht auch in einer Demokratie nicht leer, sondern durchaus gefüllt ist. Gefüllt ist er aber eben mit einer Vielzahl von Personen, Gesetzen, Verfahren und Praktiken. Es kommt nicht darauf an, was einer/eine macht, sondern das Zusammenspiel vieler ist entscheidend. Repräsentation geschieht in einer demokratischen Gesellschaft an unterschiedlichen Ecken und an unterschiedlichen Orten. Was es geben mag, auch wieder metaphorisch gesprochen, sind Orte hoher Verdichtung von Machtausübungsmöglichkeiten und Orte mit einer schwachen Verdichtung solcher Möglichkeiten. Hier beginnt die Arbeit der Herrschaftskritik.

In seinem Buch „Politische Theologie ’nach‘ der Postmoderne. Geistergespräche mit Derrida & Co.“ nimmt Ulrich Engel OP die Metapher von der „leeren Mitte“  auf. Engels Band ist eine Sammlung von Aufsätzen, die in den vergangenen Jahren an unterschiedlichen Orten erschienen sind. Zum Zwecke der Buchpublikation hat Engel die Texte überarbeitet, geordnet und miteinander in Verbindung gesetzt. Die Schriften, auf welche Engel zurückgreift, stammen – neben Claude Lefort – von Michel de Certeau, Michel Foucault, Giorgio Agamben, Jean-Luc-Nancy und Jaques Derrida, um nur einige zu nennen.

Die Metapher der „leeren Mitte“ taucht bei Engel in zweierlei Gestalt auf. Zum einen in der schon erwähnten politisch-theologischen Gestalt einer Infragestellung von Herrschaftsausübung aus einem festgezurrten Zentrum heraus. Engel geht es im Gefolge von Lefort um ein Denken, das die „Entäußerung der Macht“ (44) propagiert, durchaus im Sinne einer christologischen Kenosis. Die Ausübung von Macht und die Praxis von Herrschaft hat in der Demokratie ihren normativen Anker in der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht, der eigenen Leere und Autoritätslosigkeit. Die Aufgabe einer Politischen Theologie ist dann auch „die angezeigte Leerstelle inmitten der Gesellschaft offen zu halten“ 140). Eine solche politische Theologie bezeichnet Engel in Abgrenzung zu Carl Schmitt als „negative Politische Theologie“ (ebd.).

Die zweite Gestalt der metaphorischen leeren Mitte ergibt sich, so Engel, innerhalb der theologischen Disziplin der Dogmatik. Im Windschatten von Michel de Certau SJ verweist Ulrich Engel auf die in den Schriften vieler Mystiker thematisierte Gottverlassenheit und die Verlusterfahrung inmitten und als Teil des Glaubens. Der Glaube des Menschen ist also keine feste Burg, sondern gleicht eher einer zugigen Hütte, in welcher sich von Zeit zu Zeit das leise, sanfte Säuseln einer Gegenwart einstellt. Solche Erfahrungen von Leere und Mitte-losigkeit machen bescheiden, wenn es um die Bewertung theologischer Aussagen und die Zurschaustellung der eigenen Überzeugungen geht. Daher folgert Engel: „Die Stelle des ehedem eindeutigen religiösen Aussageaktes wie auch die Stelle des ehedem eindeutig markierten sakralen Ortes ist heute leer“ (163).

Beide Gestalten – politisch und dogmatisch – hängen miteinander zusammen. Denn Aussagen politischer und dogmatischer Natur können jeweils mit einem Machtanspruch einhergehen. Der Aufruf zur prinzipiellen Demut und Entleerung schlägt sich auf die tatsächliche Machtausübung im Sinne des Gebrauchs von physischen Zwangsmitteln nieder, aber ebenso auch auf die diskursive Machtausübung in Wort und Schrift.

Bei soviel Leere ist es verständlich, wenn das Denken sich zurücksehnt nach Eindeutigkeit und Fülle und Erfüllung. Ganz davon abgesehen, dass die biblisch versprochene Erfüllung eschatologische Versprechen sind und keine Beschreibungskategorien der Gegenwart, sollte man diesem Sehnen nur bedingt nachgeben. Bedingt heißt hier: Nach der Lektüre von Lefort, Derrida und eben auch Engel, sollte man anschließend gerne zu klassischen dogmatischen Werken greifen, um sich den Glaubensaussagen auch affirmativ zuzuwenden. Affirmation allein bringt aber auch nur bedingt weiter, weshalb ein guter Schuss negativen Denkens ebenso notwendig ist. Zurück also auf Los!

Das führt den Leser und die Leserin letztlich zu der nicht ganz neuen Erkenntnis, dass Mystik und Scholastik zwei Seiten der selben (dominikanischen) Medaille sind.

 

Ein Orden von Predigern

Ich gehöre zu dem 800 Jahre alten Dominikanerorden. Der eigentliche Namen dieser Gemeinschaft ist „Orden der Prediger“, „ordo praedicatorum“. Welche Verheißung steckt hinter diesem Namen?

Das Wort „Prediger“ ruft bei vielen Menschen widersprüchliche Reaktionen hervor. Viele kennen die Moralprediger. Diese klingen fromm und hohl zugleich. Gerne hört man ihnen nicht zu. Noch verbreiteter sind langweilige Prediger und Phrasendrescher. Immerhin: Dank des wohlbekannten Geredes kann sich wohltuender Kirchenschlaf auf müde Geister herabsenken.

Aber eigentlich erwarten Menschen, die in die Kirche kommen, etwas von einer Predigt. Sie warten auf einen neuen Gedanken, eine Idee, ein Quäntchen Trost, einen Schimmer Hoffnung, eine Verstehenshilfe in der Unordnung der Welt und des eigenen Lebens. Eine gute Predigt, so formuliert es der evangelische Theologe Wilhelm Gräb, „stärkt uns in unserer Individualität, ermutigt uns zu einem souveränen Lebensglauben.“[1]

„Mit Gott oder über Gott sprechen.“ Dieser Satz war dem hl. Dominikus, dem Gründer des Ordens der Prediger wichtig. Und unser derzeitiger Ordensmeister Bruno Cadoré hat einmal festgehalten, dass die Verkündigung der Predigerbrüder und -schwestern ein „Dienst am Gespräch Gottes mit der Welt“ sei.[2] Prediger halten also Gott im Gespräch der Menschen. Sie lassen Gott dort zu Wort kommen, wo nicht mehr mit ihm gerechnet wird.

Solche Prediger hören wir während eines Gottesdienstes in der Kirche. Wir sehen diese Prediger aber auch auf unseren Straßen und Plätzen, in unseren Krankenhäusern und Gefängnissen, Obdachlosenhäusern und Flüchtlingseinrichtungen.

Ja, der hl. Dominikus machte auch die Tavernen seiner Zeit zum Ort der Verkündigung. Eine ganze Nacht lang breitete Dominikus einem skeptischen Wirt das Angebot Gottes in Jesus Christus aus. Dieses Angebot reichen wir Prediger wie gefüllte Bierhumpen über den Tresen unserer Welt. Es ist unser bestes, liebstes und stärkstes Gebräu, das wir als Freibier freigebig verschenken in der Hoffnung, dass die Menschen ihren Durst damit stillen.

Die Predigerbrüder, die Dominikaner, sind seit 800 Jahren weltweit unterwegs, um zu predigen. Die Predigt der Predigerbrüder ist auch Teil eines weltumspannenden ökumenischen Projekts der Kirchen. Überall und zu jeder Zeit soll mit Gott oder über Gott gesprochen werden.

Dieser Text ist Teil einer Serie von Radioandachten beim NDR in der Woche vom 21. bis 26. November. Das komplette Manuskript findet sich hier, ein Podcast der Andachten hier.

Übrigens: Ich bin nicht „Theologe“, wie es der Ansagetext des NDR verkündet. Ich bin Politikwissenschaftler.

[1] Gräb, Wilhelm: Warum predigen?, in: Gräb et. al.: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2014/2015, Perikopenreihe I – Erster Halbband, Freiburg/Brsg. 2014, 11.

[2] Cadoré, Bruno: Die dominikanischen Laien und die Verkündigung, in: Thomas Eggensperger & Ulrich Engel (Hrsg.): Dominikanische Predigt, Leipzig 2014, 107.

Thomas von Aquin und die Metapher vom „Licht“ – in memoriam P. Lambert Schmitz OP

Ich habe begonnen Thomas (von Aquin) zu lesen: die Summe gegen die Heiden, auf lateinisch summa contra gentiles. Vor mir liegen also ca. 2000 Seiten, lateinisch-deutsch, im Dünndruck, eine Ausgabe besorgt unter anderem von Paulus Engelhardt OP für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Ich erwarte nicht, dass ich in diesem Jahr meine Lektuere beenden werde … .

Eine Metapher, die mir bei Thomas von Aquin schon auf den ersten Seiten oft begegnet, ist das „Licht“. Es ist die Metapher, mit der Thomas den Prozess der Erkenntnis beschreibt. Diese Metapher ist in der Ideengeschichte bei weitem nicht nur bei Thomas zu finden, bei ihm aber durchaus in sehr prominenter Weise. Das Bildwort steht sowohl fuer einen intellektuellen als auch fuer einen spirituellen Weg des fortschreitenden Erkennens hinein in eine immer tiefere Wahrheit und Weisheit.

Thomas nimmt Bezug auf Aristoteles, wenn er zu Beginn der summa schreibt, dass der Mensch „geleitet vom Licht der natürlichen Vernunft“ („ducti naturalis lumine rationis“; I,3) sich eine immer groessere Erkenntnis aneignen kann. Dabei beschraenkt sich diese Erkenntnis im Licht der natuerlichen Vernunft nicht nur auf sinnlich erfassbare, irdische Dinge. Sie umfasst auch spirituelle Dimensionen, also Erfahrungen, die sich nicht sinnlich erfassen lassen. Vernunft und Glauben stehen sich bei Thomas also nicht gegenueber. Im Prozess der zunehmenden Erkenntnis gehen sie ein Buendnis ein, da die Vernunft auch erhellend auf den Umgang mit den Fragen des Glaubens wirken kann.

Die Erkenntnis der irdischen und der geistlichen Dinge gehoert fuer Thomas zum Wesen des Lebens dazu. Dies nicht nur im Sinne einer intellektuellen Aufgabe, sondern auch im Sinne einer – wie wir heute vielleicht sagen wuerden – existentiellen Aufgabe. Thomas formuliert es in der summa contra gentiles wie folgt: „Das Ziel des Menschen ist es also, zur Schau der Wahrheit zu gelangen“ („Finis igitur hominis est pervenire ad contemplationem veritatis.“ II, 83). Alle erschaffenen Dinge haben ein Ziel, einen Sinn, eine Aufgabe, einen Zweck. Das Ziel des Menschen ist es, nach der Wahrheit zu suchen und sie letztlich auch zu finden, ja, zu sehen; nicht so sehr als sinnliche Schau mit den Augen des Koerpers, sondern eher als geistliche Schau mit den inneren Augen von Vernunft und Glauben.

Das Licht der Vernunft ermoeglicht uns Einblicke in die Wahrheit der uns umgebenden natuerlichen und sozialen Umwelt. Sie kann auch Einsichten in Dinge des geistlichen Lebens vorbereiten. Das Licht des Glaubens wiederum gewaehrt dem, der sich diesem Licht in der Kontemplation (Thomas spricht viel von ihr) anvertraut, Einblicke in die geistlichen Wahrheiten von Gott und dessen Wirken in der Welt. Das Licht des Glaubens fuehrt uns auch zu einer immer „wahrere(n) Gotteserkenntnis“ („Dei cognitionem veriorem“ I, 5). Ich erwarte von meiner Thomas-Lektuere noch Antwort auf die Frage, wann genau das Licht des Glaubens das Licht der Vernunft auf diesem fortschreitenden Weg der Erkenntnis hinter sich laesst bzw. ob es ueberhaupt je zu einer Entkopplung von Glaube und Vernunft kommen kann/soll/muss.

Es gibt noch ein drittes Licht. Dieses Licht ist fuer Thomas eine Metapher fuer die Wirklichkeit, die nach dem Tod auf den Menschen wartet. Es ist das Licht der Glorie; das Licht der Gegenwart Gottes. Die im irdischen Leben nur mittelbar erfahrbaren geistlichen Wahrheit, erschliessen sich in der Finalitaet des ewigen Lebens in ihrer ganzen, unmittelbaren Fuelle. Der Mensch ist in diesem eschatologischen Zustand „zur Glorie der göttlichen Schau erhoben“ („in gloriam divinae visionis elevari“ IV, 86). Die Erkenntnis ist voll und ganz vorhanden; intellektuelle und geistliche Einsicht verschmelzen in einer vollkommenen Schau der Wahrheit. Vermittelbar ist diese Schau aber nicht mehr, auch nicht in irdischen Metaphern.

Einige Zeit vor seinem Tod hat mir der Dominikaner P. Lambert Schmitz OP (1929-2009) von dieser dreifach gestuften Erkenntnis und den dazu korrespondierenden Licht-Metaphern erzaehlt. Das Gedicht, das aus diesen Gespraechen heraus entstanden ist, hefte ich hier an. Das soll deutlich machen: Meine Lektuere von Thomas bewegt sich auf einem Pfad, den schon viele Dominikaner (und andere) vor mir gegangen sind. Diese Lektuere hat fuer mich eben erst begonnen. Ich hoffe daher noch auf etwas groessere Klarheit im Umgang mit den thomasischen Begriffen und Metaphern; und der Wirklichkeit, die sie zu vermitteln suchen.

 

lambert op

mit poröser stimme sprach er

von thomas

und dem licht

der erkenntnis der dinge

die unsere vernunft durchwirkt dem licht

des glaubens der sich zu gott hinwirft

und dem licht der glorie

das er nun schaut.

 

© Burkhard Conrad

Vita activa & Vita contemplativa – Thomas Merton, Thomas von Aquin und das „Schweigen der Prediger“

In einem früheren Text beschäftigte ich mich mit dem paradox klingenden „Schweigen der Prediger„. Damit war und ist gemeint die kontemplative Dimension jeder (christlichen) Verkündigung, vor allem jener, die durch Mitglieder des Ordens der Prediger – der Dominikaner – geschieht. Die Formulierung „Schweigen der Prediger“ deutet dabei eine tendenzielle Auflösung des Gegensatzes zwischen einer vita contemplativa und einer vita activa an, wie er im 20. Jahrhundert unter anderem von Hannah Arendt diskutiert wurde.

In einigen frühen Aufsätzen des bekannten US-amerikanischen geistlichen Schriftstellers und Trappisten Thomas Merton  (Early Essays 1947-1952, hrsg. Patrick F. O’Connell, Cistercian Publications 2015) las ich nun eine tiefergehende Diskussion dieser Dichotomie, die unterscheidet zwischen einem kontemplativen, nach innen schauenden Leben und einem aktiven, nach außen schauenden Leben.

Der Gegensatz, wie er von Hannah Arendt in „Vita activa“ diskutiert wurde, ist angelegt im Werk von Thomas von Aquin, welches sowohl Hannah Arendt als auch ihrem Zeitgenossen Thomas Merton (1915-1968)  bekannt war. Merton zitiert Thomas‘ Unterscheidung an mehreren Stellen in seinen Aufsätzen, wobei Merton nicht nur die analytische Unterscheidung übernimmt, sondern auch deren normative Bewertung: Vita contemplativa simpliciter est meliora activa (Merton 125) – das kontemplative Leben ist höher einzuschätzen als das aktive.  Diese Wertung gründet darauf, dass sowohl Thomas als auch Merton die Nähe zu Gott beim kontemplativen, beschaulichen Leben höher einschätzen als beim aktiven, tätigen Leben. Während der kontemplativ lebende Mensch – theoretisch – in der Stille der Schau Gott ständig vor Augen hat, quält sich der aktiv lebende Mensch – theoretisch – in seinem Alltag mit allerlei weltlichen, ablenkenden Dingen ab.

Die Unterscheidung von kontemplativer und aktiver Lebensweise hat sich in der katholischen Kirche in den unterschiedlichen Orden institutionalisiert. Merton, als Trappist, gehörte einem sehr kontemplativen Orden an. Thomas von Aquin gehörte als Dominikaner dagegen einem sowohl aktiven als auch kontemplativen Orden an. Dieses Zusammenspiel von Kontemplation und Aktion bei den Dominikanern scheint Merton fasziniert zu haben, denn er kommt in seinen Texten immer wieder darauf zu sprechen.

Dabei hört man bei ihm heraus, dass er dem kontemplativen durchaus einen Vorrang einräumt, doch es ein noch höherer Verdienst sein kann – die ständige Vergleiche in Mertons Texte verstören etwas – wenn ein Mensch das in der Kontemplation geschaute an andere weiter zu vermitteln vermag. Merton zitiert die jedem Dominikaner bekannte Formulierung von Thomas contemplata aliis tradere (34): Die Früchte der Kontemplation sind an die Anderen weiterzureichen. Thomas bringt dies in das schöne Bild des „Überflusses“, welches Merton ebenfalls aufgreift: propter abundantiam divini amoris (127). Die in der Kontemplation erfahrene Liebe Gottes fließt in der tätigen Verkündigung über hin zu der Welt, wie sie sich dem kontemplativ Aktiven darstellt.

Somit verflüssigt Merton den traditionellen Gegensatz zwischen dem aktiven und kontemplativen Leben. Trotzdem versteht der Leser ohne weiteres: Wenn du zwischen purer Kontemplation und purer Aktion wählen muss, dann wähle die Kontemplation. Wenn du aber frei bist in deiner Wahl, dann wähle die Kontemplation, die in die Aktion überfließt. Dabei muss freilich sicher gestellt sein, dass die Kontemplation nicht als Mittel zum Zweck missbraucht wird. „It is not sufficient to consider contemplation merely as a means to action“, schreibt Merton (129). Aktion und Kontemplation sind wesenmäßig miteinander verbunden. Merton weiter: „The preaching and teaching orders are not destined merely to functions of the active life. The contemplative life is an absolutely essential end of the preaching vocation“ (ebd.). Die kontemplative, beschauliche Lebensform und die aktive, tätige Lebensform gehören zusammen im Akt der von Gott zum Menschen weiter getragenen Liebe.

So wundert es nicht, dass Merton eigentlich nur eine Berufung anerkennen kann, und zwar jene „dominikanische“, welche genau dieser kontemplativ-aktiven Haltung entspricht. Diese Haltung kann bzw. muss freilich in jedem kirchlichen Orden gelebt werden, egal wie kontemplativ bzw. aktiv die jeweilige – akzidentielle – Organisationsform ist. Ja, wenn ich Merton recht verstehe, gilt diese Haltungsfrage für alle Menschen. Merton schreibt dazu:

„This means, in practice, that there is only one vocation. Whether you teach or live in the cloister or nurse the sick, whether you are in religion or out of it, no matter who you are or what you are, you are called to the summit of perfection: you are called to be called a contemplative  and to pass the fruits of your contemplation on to others. And if you cannot do so by word, then by example“ (37).

 Das ist freilich eine Herausforderung für all jene,  die der Kontemplation im tätigen Leben keinen hohen praktischen Stellenwert beimessen. Eine bürgerliche Form der gezähmten Kontemplation – Merton nennt es despektierlich „contemplation in a rocking chair“ (92ff.) – gibt es nicht. Billige Kontemplation gibt es nicht. Kontemplation hat immer mit einem Selbstopfer zu tun. Wer zu diesem nicht bereit ist, hat – in den Augen Mertons – nichts verstanden.

Und für Merton ist klar: Die Gefahr ist größer, dass ich vor lauter Aktivismus die Kontemplation vergesse, als dass ich vor lauter Kontemplation die konkrete Tat übersehe. Von daher bleibt Merton stets auf der Seite von Thomas von Aquin: Vita contemplativa simpliciter est meliora activa. Letztlich gilt also: Je höher der Puls der Aktivität ist, desto tiefer muss auch das Schweigen der Prediger sein.

800 Jahre dominikanische Erinnerungskultur

Ein Fragment aus einem Vortrag vom April 2015:

Kirchliche Orden sind – neben anderen Dingen – auch Erinnerungsgemeinschaften. Die Mitglieder eines Ordens teilen eine gemeinsame Geschichte. Diese Geschichte wird von den einzelnen Mitgliedern zwar unterschiedlich beobachtet und bewertet, also erinnert. Doch es handelt sich trotzdem um die eine Geschichte. An dieser Denkmöglichkeit der erinnerten einen Geschichte – auch der Dominikaner – sollten wir festhalten. Vielfalt und Einheit widersprechen sich nur an der Oberfläche. Im Wesen sind beide eng aufeinander bezogen.

Diese Geschichte ist in einem kirchlichen Orden nicht nur ein Objekt wissenschaftlicher, historischer Studien. Ordensgeschichte ist immer auch Geschichte einer bestimmten Frömmigkeit, eine Erzählung von Ordensbiografien und -gesichtern, ein nicht endender Strang von Gebeten, ein Fluss von Praktiken, das fließende Auf und Ab von geprägter Kommunikation und Struktur.

Ein Zitat von Timothy Radcliffe OP dazu:

„Ein Großteil unserer Studien beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Im Zentrum unserer Studien steht der Erwerb eines Gedächtnisses, einer Erinnerung. Aber nicht etwa, damit wir viele Fakten wissen. Wir studieren die Vergangenheit, um daraus das Saatgut für eine unvorstellbare Zukunft zu gewinnen.“ (zit. nach J. Weise: Jeder ist ein Wort Gottes für den Anderen, 98).

Ein weiteres Zitat von Edward Schillebeeckx OP:

„Als Dominikaner bilden wir also eine Besonderheit eben als eigene Erzähl-Gemeinschaft, die innerhalb der umfangreicheren Geschichte der vielen Ordensgemeinschaften und innerhalb der allumfassenden Geschichte der großen Kirchen- und noch größeren Menschengemeinschaft eigene Traditionen weitererzählt, wodurch wir zu einer eigenen, besonderen Familie gemacht werden (…).“ (Zit. nach: U. Engel: Dominikanische Spiritualität, 43).

Dominikanischer Erinnerungskultur ist die bewusste Praxis der Erinnerung dieser Geschichte im Orden der Prediger: durch Gebet, durch Studium, durch Kommunikation (intern & extern), durch Handlungen, durch Gemeinschaft.

1. Es gibt eine synchron strukturierte Erinnerungskultur. Ich vergegenwärtige mir all das im Orden, das momentan unser Leben im Orden prägt.

2. Es gibt diachron strukturiert Erinnerungskultur. Ich vergegenwärtige mir all das im Orden, was in der Vergangenheit und – etwas spekulativ – in der Zukunft des Ordens liegt. Durch diese Vergegenwärtigung wird auch mein Leben in der Gegenwart geprägt.

Wir sind (auch) das, was wir erinnern: persönlich, in der Familie, im Orden, in der Kirche, in der Welt. Erinnerungskultur wächst aus der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben im Hier und Jetzt gestalten: also synchron. Erinnerungskultur verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander: also diachron.