Der Rostocker Philosoph Jonas Puchta legte kürzlich eine Veröffentlichung vor, die hier besprechen werden soll:
‚Du bist mir noch nicht demüthig genug‘. Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut. Freiburg/München: Karl Alber, 2021, 343 Seiten, 49,- €.
Ist die Demut nicht ein abseitiges Thema, gerade für die Philosophie?
Hat man sich durch Jonas Puchtas Monographie durchgearbeitet, dann wird man diese Frage sicher mit einem ‚Ganz und gar nicht!‘ beantworten müssen. Was Puchta im Rahmen seiner – als universitärer Qualifikationsarbeit entstandenen – Publikation erarbeitet, ist nichts anderes als der Versuch, einem philosophischen Verständnis der Demut (wieder) Geltung zu verschaffen
Der Trend geht nämlich zu einer Rhetorik der Demut, wie Puchta zu Beginn anhand einer Fülle von publizistischen Zitaten aus den letzten Jahren belegen kann. Alle Welt schreit nach mehr Demut: im Management, in der Politik, im Sport usw. Doch fehlt es an systematischen Untersuchungen zur Demut, gerade in der Philosophie. Als Philosoph macht es sich Puchta nun keineswegs leicht, denn er geht in einer Weise auch auf theologische Diskurse ein, die das alte Bonmot der „philosophia“ als „ancilla theologiae“ – Magd der Theologie – in Erinnerung rufen.
Ich bin mir aber sicher, dass der Autor die Philosophie keineswegs in dieser Rolle sieht, sucht er doch dezidiert nach einem Demutsbegriff, der ein „Gottesverhältnis“ (165) eben nicht voraussetzt. Gleichfalls sucht Puchta aber auch nicht künstlich die Distanz zu christlich-theologischen Demutsdiskursen: Er untersucht deren problematischen Seiten, kann aber auch deren konstruktiven Seiten für die eigene Argumentation einiges abgewinnen.
Was sind Puchta folgend die problematischen Seiten der theologischen Demutstraditionen? Das „Unbehagen an der christlichen Demut“ (33) macht sich breit, wenn Demut als etwas interpretiert oder auch gelebt wird, das Personen auf eine Stellung der Ohnmacht und Knechtschaft reduziert, gerade gegenüber staatlichen und kirchlichen Hierarchien. Puchta formuliert treffend: „Nach diesem Verständnis ist die Demut eine implizite (oder auch explizite, BC) Forderung, seine Situation resignierend auszuhalten und die Verunmöglichung eines Bestrebens, sie nach den eigenen Interessen zu verändern“ (36). Aber auch die „demütige Verachtung des ‚Fleisches'“ (41), die Verachtung alles Irdischen und als Demut sich kleidende Heuchelei und Hochmut (vgl. 47) werden den christlichen Demutsdiskursen angekreidet. Der Kritiker christlicher Demut sei, so Puchta, Friedrich Nietzsche gewesen, der sich an der von ihm empfundenen „Sklavenmoral“ (57) der Gläubigen rieb.
Puchta nimmt diese Kritik an der Demut sehr ernst, und jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, sollte dies ebenfalls tun, begegnet man doch weiterhin oft einem Demutsverständnis, das von Vorstellungen der Selbsterniedrigung, Demütigung und des blinden Gehorsams geprägt ist. Puchta erwidert die Kritik mit einem erhellenden Durchmarsch durch die christliche Theologie- und Philosophiegeschichte, beginnend von biblischen Zeugnissen, über die Theologie der Kirchenväter und Ordensgründer, über Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin bis hin zur frühen Neuzeit und weiter ins 20. Jahrhundert (63-119). Puchta verneint nicht, dass es gerade in einigen Formen des asketischen Denkens und den dazu gehörenden Praxen ein problematisches Verständnis der Demut gab (und gibt?). Positiv nimmt der Philosoph aber Denktraditionen auf, welche die Demut in Verbindung bringen mit Praxen der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis auf der einen Seite und mit der Tugend der Mäßigung auf der anderen Seite. Ein gewinnbringendes Verständnis von Demut „beruht (…) auf einem Akt der Selbsterkenntnis, der für die Selbstbeschränkung und das gemeinschaftliche Handeln ein ‚vernünftiges‘ Maß zum Ausgangspunkt hat“ (119).
An diesen Durchmarsch schließen sich „phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut“ an, die von zwei Seiten aus ein Licht auf Haltungen der Demut werfen: Demut aus Betroffenheit und Demut aus Besinnung. Puchta gibt zu Bedenken, dass Menschen immer wieder Erfahrungen der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, 136) bzw. des „unbedingten Ernstes“ (H. Schmitz, 145) machen; Erfahrungen, die unmittelbare Betroffenheit auslösen. Diese Erfahrungssituationen sind, so Puchta, für eine Theorie der Demut ebenso relevant wie das Phänomen, dass die Selbsterkenntnis des Einzelnen auf einer ‚Besinnung als einer besonnenen Selbstbetrachtung‘ (vgl. 165) beruht. Puchta steht bei der Beschreibung der Demutsphänomene in der Schuld des christlich-theologischen Denkens, versteht es aber auch, eine Brücke zu bauen zu philosophischen Demuts-Überlegungen, die kein Gottesverhältnis voraussetzen, sondern auf die „Geltungskraft“ (200) der beschriebenen Phänomene vertrauen. So formuliert der Autor seine eigene Definition der Demut auch bewusst ohne religiöse Bezüge:
„Ich definiere damit die Demut als eine in der Fassung verankerte Haltung, mit der eine Person ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit hinsichtlich ihres Wissens und Könnens grundlegend anerkennt.“ (201)
Im letzten Drittel seines Buches beschreibt Puchta „Arten der Demut“ (202) und setzt seine differenzierte Zwiesprache zwischen Philosophie und Theologie fort. Ihm ist es letztlich ein Anliegen „ein demütiges Handeln in der Moderne (zu) reflektieren“ (ebd.). Die Demut kann dann angesichts eines höheren Ideals (vgl. 205) wachsen oder aus der Begegnung mit einem Unverfügbaren (vgl. 221), als Korrektiv zu Haltungen der selbstherrlichen Weltbemächtigung – besonders relevant zu Zeiten des Klimawandels und Artensterbens! – und im gemeinschaftlichen Miteinander (vgl. 276).
Die „Zukunft der Demut“ (307) sieht Puchta freilich ambivalent. Zu Beginn des Buches legte Puchta Zitate vor, die von einer zeitgenössischen Wertschätzung der Demut zeugen. Zum Ende des Buches macht er aber deutlich, dass die kapitalistische (Spät-)Moderne gerade nicht eine Haltung der Demut fördert, sondern vielmehr zur Ichbezogenheit (vgl. 314) und Selbstoptimierung (318) animiert. Puchta urteilt:
„Die Demut hat in religiöser wie auch in nicht-religiöser Hinsicht einen schweren Stand in der Moderne. Die Zukunft der Moderne wird sich daran zu bewähren haben, inwiefern der Mensch entgegen der modernen Lebensführung wieder eine Bereitschaft dafür entwickeln kann, sich von einem ‚Übergroßen‘ (Rilke) ergreifen und seine Situation einer demütigen Besinnung unterziehen zu lassen.“ (320)
Puchtas Buch ist gut lesbar; auch dank zahlreicher literarischer Quellen, die der Autor zur Veranschaulichung und Explizierung seiner Argumentation anführt. Von einigen Redundanzen befreit hätte das Werk allerdings auch einige Seiten kürzer ausfallen können. Puchtas hochspannender Brückenschlag von theologischen zu philosophischen Gedanken – und wieder zurück – stellt in jedem Falle einen maßgeblichen Beitrag dar zu einem auch im 21. Jahrhundert bedenkenswerten Demutsverständnis.