Über eine Theorie der Demut in der Moderne. Eine Buchbesprechung.

Der Rostocker Philosoph Jonas Puchta legte kürzlich eine Veröffentlichung vor, die hier besprechen werden soll:

‚Du bist mir noch nicht demüthig genug‘. Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut. Freiburg/München: Karl Alber, 2021, 343 Seiten, 49,- €.

Ist die Demut nicht ein abseitiges Thema, gerade für die Philosophie?

Hat man sich durch Jonas Puchtas Monographie durchgearbeitet, dann wird man diese Frage sicher mit einem ‚Ganz und gar nicht!‘ beantworten müssen. Was Puchta im Rahmen seiner – als universitärer Qualifikationsarbeit entstandenen – Publikation erarbeitet, ist nichts anderes als der Versuch, einem philosophischen Verständnis der Demut (wieder) Geltung zu verschaffen

Der Trend geht nämlich zu einer Rhetorik der Demut, wie Puchta zu Beginn anhand einer Fülle von publizistischen Zitaten aus den letzten Jahren belegen kann. Alle Welt schreit nach mehr Demut: im Management, in der Politik, im Sport usw. Doch fehlt es an systematischen Untersuchungen zur Demut, gerade in der Philosophie. Als Philosoph macht es sich Puchta nun keineswegs leicht, denn er geht in einer Weise auch auf theologische Diskurse ein, die das alte Bonmot der „philosophia“ als „ancilla theologiae“ – Magd der Theologie – in Erinnerung rufen.

Ich bin mir aber sicher, dass der Autor die Philosophie keineswegs in dieser Rolle sieht, sucht er doch dezidiert nach einem Demutsbegriff, der ein „Gottesverhältnis“ (165) eben nicht voraussetzt. Gleichfalls sucht Puchta aber auch nicht künstlich die Distanz zu christlich-theologischen Demutsdiskursen: Er untersucht deren problematischen Seiten, kann aber auch deren konstruktiven Seiten für die eigene Argumentation einiges abgewinnen.

Was sind Puchta folgend die problematischen Seiten der theologischen Demutstraditionen? Das „Unbehagen an der christlichen Demut“ (33) macht sich breit, wenn Demut als etwas interpretiert oder auch gelebt wird, das Personen auf eine Stellung der Ohnmacht und Knechtschaft reduziert, gerade gegenüber staatlichen und kirchlichen Hierarchien. Puchta formuliert treffend: „Nach diesem Verständnis ist die Demut eine implizite (oder auch explizite, BC) Forderung, seine Situation resignierend auszuhalten und die Verunmöglichung eines Bestrebens, sie nach den eigenen Interessen zu verändern“ (36). Aber auch die „demütige Verachtung des ‚Fleisches'“ (41), die Verachtung alles Irdischen und als Demut sich kleidende Heuchelei und Hochmut (vgl. 47) werden den christlichen Demutsdiskursen angekreidet. Der Kritiker christlicher Demut sei, so Puchta, Friedrich Nietzsche gewesen, der sich an der von ihm empfundenen „Sklavenmoral“ (57) der Gläubigen rieb.

Puchta nimmt diese Kritik an der Demut sehr ernst, und jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, sollte dies ebenfalls tun, begegnet man doch weiterhin oft einem Demutsverständnis, das von Vorstellungen der Selbsterniedrigung, Demütigung und des blinden Gehorsams geprägt ist. Puchta erwidert die Kritik mit einem erhellenden Durchmarsch durch die christliche Theologie- und Philosophiegeschichte, beginnend von biblischen Zeugnissen, über die Theologie der Kirchenväter und Ordensgründer, über Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin bis hin zur frühen Neuzeit und weiter ins 20. Jahrhundert (63-119). Puchta verneint nicht, dass es gerade in einigen Formen des asketischen Denkens und den dazu gehörenden Praxen ein problematisches Verständnis der Demut gab (und gibt?). Positiv nimmt der Philosoph aber Denktraditionen auf, welche die Demut in Verbindung bringen mit Praxen der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis auf der einen Seite und mit der Tugend der Mäßigung auf der anderen Seite. Ein gewinnbringendes Verständnis von Demut „beruht (…) auf einem Akt der Selbsterkenntnis, der für die Selbstbeschränkung und das gemeinschaftliche Handeln ein ‚vernünftiges‘ Maß zum Ausgangspunkt hat“ (119).

An diesen Durchmarsch schließen sich „phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut“ an, die von zwei Seiten aus ein Licht auf Haltungen der Demut werfen: Demut aus Betroffenheit und Demut aus Besinnung. Puchta gibt zu Bedenken, dass Menschen immer wieder Erfahrungen der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, 136) bzw. des „unbedingten Ernstes“ (H. Schmitz, 145) machen; Erfahrungen, die unmittelbare Betroffenheit auslösen. Diese Erfahrungssituationen sind, so Puchta, für eine Theorie der Demut ebenso relevant wie das Phänomen, dass die Selbsterkenntnis des Einzelnen auf einer ‚Besinnung als einer besonnenen Selbstbetrachtung‘ (vgl. 165) beruht. Puchta steht bei der Beschreibung der Demutsphänomene in der Schuld des christlich-theologischen Denkens, versteht es aber auch, eine Brücke zu bauen zu philosophischen Demuts-Überlegungen, die kein Gottesverhältnis voraussetzen, sondern auf die „Geltungskraft“ (200) der beschriebenen Phänomene vertrauen. So formuliert der Autor seine eigene Definition der Demut auch bewusst ohne religiöse Bezüge:

„Ich definiere damit die Demut als eine in der Fassung verankerte Haltung, mit der eine Person ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit hinsichtlich ihres Wissens und Könnens grundlegend anerkennt.“ (201)

Im letzten Drittel seines Buches beschreibt Puchta „Arten der Demut“ (202) und setzt seine differenzierte Zwiesprache zwischen Philosophie und Theologie fort. Ihm ist es letztlich ein Anliegen „ein demütiges Handeln in der Moderne (zu) reflektieren“ (ebd.). Die Demut kann dann angesichts eines höheren Ideals (vgl. 205) wachsen oder aus der Begegnung mit einem Unverfügbaren (vgl. 221), als Korrektiv zu Haltungen der selbstherrlichen Weltbemächtigung – besonders relevant zu Zeiten des Klimawandels und Artensterbens! – und im gemeinschaftlichen Miteinander (vgl. 276).

Die „Zukunft der Demut“ (307) sieht Puchta freilich ambivalent. Zu Beginn des Buches legte Puchta Zitate vor, die von einer zeitgenössischen Wertschätzung der Demut zeugen. Zum Ende des Buches macht er aber deutlich, dass die kapitalistische (Spät-)Moderne gerade nicht eine Haltung der Demut fördert, sondern vielmehr zur Ichbezogenheit (vgl. 314) und Selbstoptimierung (318) animiert. Puchta urteilt:

„Die Demut hat in religiöser wie auch in nicht-religiöser Hinsicht einen schweren Stand in der Moderne. Die Zukunft der Moderne wird sich daran zu bewähren haben, inwiefern der Mensch entgegen der modernen Lebensführung wieder eine Bereitschaft dafür entwickeln kann, sich von einem ‚Übergroßen‘ (Rilke) ergreifen und seine Situation einer demütigen Besinnung unterziehen zu lassen.“ (320)

Puchtas Buch ist gut lesbar; auch dank zahlreicher literarischer Quellen, die der Autor zur Veranschaulichung und Explizierung seiner Argumentation anführt. Von einigen Redundanzen befreit hätte das Werk allerdings auch einige Seiten kürzer ausfallen können. Puchtas hochspannender Brückenschlag von theologischen zu philosophischen Gedanken – und wieder zurück – stellt in jedem Falle einen maßgeblichen Beitrag dar zu einem auch im 21. Jahrhundert bedenkenswerten Demutsverständnis.

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Die Demut der Asche

Das trockene Laub zerfällt in der Hitze der Flamme, entzündet sich kurz und zerfällt schwarz in kleine Körner. Asche bleibt zurück.

Wir schätzen die Asche nicht. Asche ist zu nichts gut. Asche ist Sinnbild dafür, dass etwas das war, nicht mehr ist. Dass eine Präsenz Vergangenheit ist. Dass Zerstörung und Vernichtung herrschten. Dass dort, wo Leben war, nun „Schutt und Asche“ sich ausbreiten.

Wir schätzen die Asche nicht, und produzieren sie doch ständig neu. Denn Asche steht für das, was wir Menschen noch am besten können: zerstören, verbrennen, vernichten. Im Anthropozän ist kein Winkel dieser Erde mehr von dieser Zerstörung, diesem Brand, dieser Vernichtung, die Menschen verursachen, ausgenommen. Die natürlich entstehenden Feuer werden von den menschlich fabrizierten Aschenbergen in den Schatten gestellt. Wir haben die Möglichkeit alles zur Asche werden zu lassen. Und oft genug ergreifen Menschen diese Möglichkeit und lassen sie zur erschreckenden Wirklichkeit werden. In der großen Weltpolitik. Im Alltag der kleinen Entscheidungen.

Das Wissen um die viele Asche, die wir auftürmen, sollte eigentlich Demut lehren. Und Umkehr. Doch davon ist selten etwas zu spüren oder zu hören: Dass jemand umkehrt. Dass jemand sich schuldig bekennt. Dass ein Mächtiger und Hochmütiger angesichts der Asche, die er in die Welt hinauswirft, demütig wird. Dem Aufruf des ‚Nie wieder‘ folgt die Realität des ‚Schon wieder‘ nur zu schnell.

Und warum müssen wir erst immer katastrophal viel Asche aufhäufen, um den Ruf nach der Demut laut werden zu lassen? Wir wissen doch mittlerweile um unsere Zerstörungswut. Müssen wir es uns alle paar Jahrzehnte neu beweisen? Müssen wir uns immer wieder neu am eigenen Versagen ergötzen? Liest denn niemand die Geschichtsbücher und hört niemand die Erzählungen aus der Vergangenheit? Wir wissen: Ein heroischer Blick zurück lügt zumeist. Die Gegenwart steht auf blutigen Füßen.

Ich blicke auf das kleine Häufchen Asche vor mir. Und hoffe auf mehr Demut. Au mehr Umkehr. Geschichte und Gegenwart haben genug Asche gesehen.

Die Demut der Comic-Superhelden. Eine Radioandacht.

Kennen Sie Batman? Oder Superman? Oder Wonder Woman? Die Liste dieser
Superheldinnen und -helden des Comics und des Films ist mit den Jahren lang geworden. Wie auch die Liste der sie immer wieder herausfordernden Schurken.

Superheldinnen und -helden haben besondere Kräfte, sind verbündet mit geheimnisvollen Mächten, haben eine grandiose Ausrüstung. Bei den Schurken ist das nicht anders. Und so treffen in der Welt des Superheldentums die Guten und die Bösen immer wieder mit großem „Kawumm“ aufeinander. Vernichtungsorgien werden losgetreten. Große Reden werden geschwungen. Das Weltende tritt nahe herbei. Und wird dann aber wieder – Gott sei Dank – im letzten Augenblick abgewendet.

Personen wie Superman und Wonder Woman sind nach menschlichen Maßstäben übermächtig. Aber nicht nur das. Sie verfügen über eine wichtige Tugend. Eine Tugend, die sie davon abhält, mitsamt ihren Kräften zur dunklen Seite der Macht überzutreten: Sie sind demütig. Im entscheidenden Moment wissen die Helden, dass sie ihre eigenen Ambitionen zurückstellen müssen. Sie wissen: Es geht nicht um sie und ihre Superkräfte. Entscheidend ist nicht, was ihnen zu noch größerer Macht verhilft. Es geht um etwas viel Größeres. Es geht um das Wohl aller.

Superheldinnen und -helden müssen bereit sein, sich zu opfern, damit alle Kreaturen in einer guten Welt weiterleben können. Das unterscheidet auch die Guten von den Bösen, die Helden von den Schurken. Die Schurken frönen dem Hochmut. Die Guten aber sind demütig. Die Guten schränken sich ein, damit andere sich entfalten können.

Allzu oft müssen die Guten auch schmerzlich ihre eigene Ohnmacht erfahren; aus der sie freilich – das Drehbuch will es so – wie durch ein Wunder wieder befreit werden. An den Superheldinnen geschieht also Gnade. Sie durchleben ihren eigenen Karfreitag und ihr eigenes Ostern. (1)

Kein Wunder, dass wir sie so lieben! Die Übermächtigen, die sich so klein machen für uns! Die uns mit jedem Comic-Heft und Film neu und unter großen Opfern das Geschenk des Lebens aus den Klauen der Selbstsucht retten.

 

(1) Vgl. Siku, Batman is Jesus, London 2022, 56.

Dieser Text ist Teil einer Reihe von Morgenandachten, die vom 24. bis 29. Oktober 2022 im Norddeutschen Rundfunkt ausgestrahlt werden bzw. wurden, vgl. https://www.ndr.de/kirche/conrad162.pdf

Demut und der aufrechte Gang. Eine Radioandacht.

„Beim Gottesdienst, (…) im Kloster, im Garten, unterwegs, auf dem Feld, wo er auch sitzt, geht und steht, halte [der Mönch] sein Haupt immer geneigt und den Blick zu Boden gesenkt.“ (1) So beschreibt Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert die Körperhaltung eines Mönches in ständiger Demut.

Demut ist für Benedikt eine Grundtugend des klösterlichen Lebens. Und die in der Körperhaltung sichtbare Demut ist – so der Mönchsvater – die letzte Stufe von insgesamt zwölf Stufen der Demut. Sozusagen der Gipfel der Demut.

Ganz ehrlich, diese Art von Demut ist mir gänzlich fremd. Und mit solchen Stufen kann ich auch nichts anfangen. Mehr noch: Das sich Reinsteigern in eine immer ausgefeiltere Haltung der Demut halte ich für ein ziemlich selbstherrliches, ja krankes Unterfangen. Alles andere als demütig. Da will der eine dem anderen immer einen Schritt voraus sein, auch bei der Demut.

Der 2010 verstorbene Mönch André Louf spricht sogar von einem „heidnischen Vollkommenheitsstreben“, das sich bei denen einstellen kann, die auf der Leiter der  Demut unterwegs sind; die Gott suchen. (2)

Demut ist also in höchstem Maße ambivalent. Man kann es vielleicht so formulieren: Demut vor Gott und den Menschen erlangt nur die Person, die gar nicht nach Vollkommenheit in der Demut strebt.

„Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk. 14,11). Dieses Wort Jesu kannte auch der heilige Benedikt. Er wird gewusst haben: Der wahre Gipfel der Demut liegt ganz tief unten: Dort, wo unsere Schwächen und Zweifel hausen. Dort, wo unsere Schändlichkeiten wie Zombies herumlungern und nur darauf warten, ausbrechen zu können. Dort unten liegt das Fundament einer jeden Demut.

Es geht also nicht um ein Hinaufsteigen auf den Gipfel der Demut. Vielmehr müssen wir tief hinabsteigen. In der Tiefe findet sich eine Demut, die mich nicht beugt und lähmt. Dort findet sich die Demut als aufrichtende Kraft. Dort finden sich Befreiung, Gelassenheit und ein aufrechter Gang.


(1) Die Benediktus-Regel, Lateinisch/Deutsch, Beuron: 1992, 113.
(2) André Louf: Demut und Gehorsam, Münsterschwarzach 1979, 19.

 

Dieser Text ist Teil einer Reihe von Morgenandachten, die vom 24. bis 29. Oktober 2022 im Norddeutschen Rundfunkt ausgestrahlt werden bzw. wurden, vgl. https://www.ndr.de/kirche/conrad162.pdf

Politisches Denken und der Alltag der Menschen. Eine Besprechung zu Marc Stears: „Out of the Ordinary“.

„Out of the ordinary“ ist ein ideengeschichtliches Buch eines Intellektuellen über die eigene Distanz zum intellektuellen Leben. Und es ist ein politischer Essay eines ehemaligen Parteifunktionärs über die eigene Distanz zum politischen Betrieb. Marc Stears – ehemals Redenschreiber für das Spitzenpersonal der britischen Labour-Partei und derzeit noch Leiter des sog. Sydney Policy Lab – hat mit „Out of the ordinary“ ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Bemerkenswert, da es mindestens zwei Dinge zugleich sein möchte: zum einen Geschichte politischer Ideen im Sinne einer „intellectual history“, zum anderen eine Gegenwartsdiagnose und ein normatives, politisches Statement.


Bei dem Band handelt es sich erstens um einen Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens in Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darauf verweist der erste Teil des Untertitels: „How everyday life inspired a nation“. Stearsstellt unterschiedliche politisch denkende Menschen vor, die auf unterschiedliche Weise – in Dichtung, in Essays, in Fotografie, in Radioansprachen – den Alltag und die alltäglichen Erfahrungen der normalenMenschen in den Blick genommen haben. Stears charakterisiert diese Denker – darunter so unterschiedliche Charaktere wie Dylan Thomas, Georg Orwell, John Boynton Priestley – als Personen, „[who] placed self-consciously humble, everyday humanity at the very core of their ideal“ (S. 3). Diese Denker hätten, so Stears, die politische Überzeugung vermitteln wollen, „that ordinary people going about their ordinary lives possessed all the insight, virtue, and determination required to build the society of which they dream and need no direction by others“ (S. 3). Mit Blick auf das politische Leben einer Gesellschaft sollten die Alltagserfahrungen gewöhnlicher Menschen einen hermeneutischen Vorrang vor theoretischen bzw. ideologischen Überlegungen besitzen.

(…)

Veröffentlicht in Politische Vierteljahresschrift (2022). Hier können Sie den ganzen Text lesen: https://rdcu.be/cTWaR

Bei Bedarf kann ich den Text auch als PDF zur Verfügung stellen. Senden Sie mir eine Email an rotsinn(at)gmx.de

Über den Unterschied zwischen Demut und Demütigung

Die Tugend der Demut wird schnell gleichgesetzt mit der Untugend der Demütigung. Zwischen beiden gibt es aber entscheidende Unterschiede.

Demut hat mit der Demütigung gemeinsam, dass sowohl die demütige als auch die gedemütigte Person eine wie auch immer geartete Einschränkung (ideell, räumlich, zeitlich) hinnimmt bzw. hinnehmen muss.

Bei Demut handelt es sich aber um eine selbstgewählt angeeignete Tugend. Demut entspricht einer Haltung der freiwilligen Selbstzurücknahme und Eigenbeschränkung angesichts eines höheren Zieles oder eines höheren Wesens. Die Haltung der Demut geht idealerweise einher mit einem gesunden Selbstbewusstsein, steht auf jeden Fall nicht im Gegensatz zu einem solchen.

Die Erfahrung der Demütigung hingegen tritt ein, wenn eine andere Person oder systemische Umstände mich zu einer ungewollten Rückwärtsbewegung und Selbsteinschränkung zwingen. Auch dann, wenn mir von Anderen vermittelt wird, ich möge demütig sein, geschieht Demütigung. Demütigung kann unabsehbare und langfristige individuelle und kollektive Folgen haben.

Der Theologe Reinhard Feldmeier nennt als eine Abart der Demut die „Zwanghaftigkeit pathologischer Selbstverneinung“ (in: Macht, Dienst, Demut. Tübingen: Mohr Siebeck, 2012: 85). Bei dieser Selbstverneinung geht es dann gar nicht mehr um die bewusste Selbstbeschränkung zugunsten eines höheren Zieles oder angesichts eines höheren Wesens. Hier mutierte die Haltung der Demut aufgrund eines äußeren Drucks in eine systemische und internalisierte Erfahrung der Demütigung und Erniedrigung.

Thomas von Aquin sagt von der Demut ebenfalls, dass sie freiwilliger Natur ist (vgl. summa contra gentiles, III 135). Thomas fügt an: „Es ist also nicht ein Zeichen von Demut, sondern von Torheit, wenn einer jede Demütigung annähme.“ Es mag notwendig sein, gerade die hochmütige Person zu demütigen (ebd.); ob diese Person dabei aber den Weg zur Demut findet, ist völlig ungewiss.

Interessant ist, dass Thomas im Lateinischen für Demut (humilitas) ein gänzlich anderes Wort nutzt wie für Demütigung (abiectio). Die alltagssprachliche Verwechslung von Demut mit Demütigung könnte also auch damit zu tun haben, dass die Begriffe im Deutschen (aber auch in anderen Sprachen) sich eine große lexikalische Nähe teilen.

Was ist Demut? Weitere Gedanken zu vorgelegten Definitionen.

Der Leser Joachim Winkler hat sich die Definitionen von Demut genauer angesehen und einige Kommentare dazu verfasst. Vielen Dank!

Diese Kommentare gebe ich an dieser Stelle wieder und ergänze noch ein paar eigene Gedanken.

 

Demut ist „Ausdruck einer Selbstbeschränkung, um für Begegnung Raum zu schaffen und so Gemeinschaft zu ermöglichen.“ (Feldmeier, Reinhard (2012): Macht, Dienst, Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen: Mohr Siebeck, 120).

JW: Was an dieser Definition für mich fraglich ist, ist das Raummodell des Miteinanders. Begegnung findet dadurch statt, dass sich jemand begrenzt. Es scheint auch nur eine bestimmte Größe des Raums zur Verfügung zu stehen. Ein anderes Modell wäre zu sagen, dass Gemeinschaft oder eine Verbundenheit vorgängig oder zumindest gleichrangig gegenüber dem Selbst ist. Demut also nicht von dem Selbst, sondern von der Beziehung her gedacht. Und noch ein anderer Gedanke (mit Schleiermacher): Das Ausspielen von Individualität, nicht die Zurücknahme schafft Begegnung.

BC: Die räumliche Metaphorik ist in der Tat problematisch, da es ein Nullsummenspiel suggeriert. Bei alltäglichen Begegnungen ist dies aber nicht der Fall, sondern meine Selbstzurücknahme schafft nicht schon automatisch den Raum für die andere Person. Auch kann mein „Ausspielen von Individualität“ für andere Menschen gerade auch Ermutigung und Bestärkung bedeuten. Gleichwohl: Es gibt diese Räume, die durch mangelnde Demut anderen die Luft zum Atmen nehmen. Ich denke z.B. an Parlamente in autokratischen Ländern, in denen eine Pluralität von Stimmen, ein demütiges Zuhören usw. nicht vorkommen. Es geht vorrangig um die Bestätigung und Repräsentation vorherrschender Machtverhältnisse.

 

„Rechte Demut weiß niemals, dass sie demütige ist.“ (Martin Luther, zitiert nach: Schütz, W. 1972: Demut, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Band 2: D-F, Sp. 57-59.)

JW: Heißt das dann: Ich kann nicht bewusst demütig sein. Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen würde.

BC: Ich weiß es auch nicht. Was Luther hier formuliert, klingt etwas nach einem Bonmot, das man auf einem Kalenderblatt abdrucken kann. Freilich stimmt: Demut spielt sich nicht auf und macht sich als solche nicht selbst bekannt.

 

„Humility emerges from the recognition of what it means to be fallen, frail, and finite creatures.“ (Luke Bretherton 2019: Christ and the Common Life. Political Theology and the Case for Democracy, Grand Rapids: Eerdmans, 67)

JW: Hier gefällt mir natürlich die Verankerung in der weltlichen Erfahrung. Demut bekommt dann allerdings eine immer (quasi-)religiöse oder philosophische Schlagseite, wenn es um die Reflexion auf Endlichkeit, Vulnerabilität, etc. geht.

BC: Da hätte ich kein Problem damit, wenn wir davon ausgehen, dass Religion, Theologie und Philosophie auch etwas sein können, dass praktisch gelebt und nicht nur theoretisch reflektiert wird. Es gibt ein Bewusstsein von Endlichkeit und Verletzbarkeit, das sehr alltagsnah ist. Es muss nicht alles akademisch sein!

 

„Beim Menschen bezeichnet sie (die Demut, BC) ein bewußtes Verhalten, das als gehorchen, sich unterordnen, sich beugen zu beschreiben ist, nicht aber äußere Armut oder Niedrigkeit als Geschick meint“. (Preuß, Horst Dietrich 1981: Demut I, in: Theologische Realenzyklopädie, Berlin & New York: De Gruyter, 460).

JW: Zum einen wird hier eine starke Innen-Außen-Abgrenzung vorgenommen.
Kann Demut nicht auch internalisiert, also unbewusst sein? Gegensatz zu (2). Da habe ich Zweifel an einer nur inneren Einstellung bzw. würde fragen, wie diese im Zusammenahng mit Handeln und dem In-der-Welt-Sein steht.

BC: Was die Definition hier meint, glaube ich, ist, dass Demut nicht einfach über äußere Armut oder durch einen niedrigen Stand quasi schon automatisch vorhanden ist. Es braucht immer eine innere Haltung, die von Demut zeugt. Es gab und gibt – z.B. in der Kirche und deren Orden – viele Beispiele von äußerlich armen und niedrigen Menschen, denen es an einer demütigen Haltung fehlt. In den Orden sind Armut und Gehorsam zwar immer schon als Mittel auf dem Weg zur Demut angesehen worden; das funktioniert aber natürlich nicht immer.

 

„Von der Demut kann in der Tat eine solche Definition gegeben werden: Die Demut ist eine Tugend durch die der Mensch sich durch die wahrhaftigste Selbsterkenntnis wertlos wird.“ (Bernhard v. Clairvaux, zitiert nach: Zur Mühlen, Karl-Heinz 1981: Demut V, in: Theologische Realenzyklopädie, Berlin & New York: De Gruyter, 468).

JW: Würde das Zitat nicht auch funktionieren, wenn man statt „wertlos“ „wertvoll“ einsetzt? Demut könnte doch auch sein: Der Mensch erkennt seinen Wert als Mensch. Richtet es sich gegen die Vorstellung vom Menschen als „Wert an sich“?

BC: Ich sehe da eine Dialektik. Der Mensch erkennt seine Niedrigkeit, seine Verletzbarkeit, seine „Wertlosigkeit“ sub specie aeternitatis; und auch aus dieser Erkenntnis heraus gewinnt dieser Mensch Statur.  Ich glaube, diese Dialektik braucht es, um den Menschen die Mittel aus der Hand zu nehmen, willkürlich dem einen Wert zuzuschreiben und dem anderen nicht.

 

„Demuth ist das beständige Bewußtsein vom Unterschiede zwischen uns und Christo, so daß der sittliche Werth eines jeden einzelnen im Vergleiche mit dem den anderen einzelnen gar nicht in Anschlag kommt.“ (Friedrich Schleiermacher, zitiert nach: Zur Mühlen, Karl-Heinz 1981: Demut VII, in: Theologische Realenzyklopädie, Berlin & New York: De Gruyter, 481).

JW: Es ist ein Schluss von einer im engeren Sinn religiösen Betrachtung, die dann als sittliche Betrachtung zur Geltung kommt. Demut als Defizitbewusstsein christologisch fundiert?

BC: Bei Schleiermacher bist Du der Experte! Ich verstehe Demut aber so oder so als fundamental christologisch: Hier macht es einer vor, die Demut in Form der kenosis. Demut wird so in das Verstehen von Gott eingeschrieben. Gott ist demütig; der Sohn zeigt es uns. Dem können wir mit Aussicht auf Erfolg gar nicht nachstreben. Auch daraus erwächst Demut.