Bemerkungen zu Rowan Williams: Christ. The Heart of Creation (2018).

Die Rezeption von Rowan Williams im deutschen Sprachraum verläuft schleppend. Bislang wurde keines der maßgeblichen Werke des ehemaligen Erzbischofs von Canterbury ins Deutsche übersetzt. Die jeweiligen Neuveröffentlichungen des derzeitigen Vorstehers des Magdalene College in Cambridge werden auch nur vereinzelt in deutschsprachigen Fachzeitschriften rezensiert. Ich tue mein Bestes, um hier etwas nachzuhelfen, da ich der Meinung bin, dass die Schriften von Rowan Williams auch für die hiesige Leserschaft durchaus gewinnbringend sein könnten; daher auch dieser Post.

Eine reguläre Besprechung zu Rowan Williams aktueller Monografie „Christ. The Heart of Creation“ (veröffentlicht 2018 bei Bloomsbury) werde ich an dieser Stelle aber nicht veröffentlichen. In den entsprechenden theologischen bzw. dogmengeschichtlichen Debatten im Themenfeld der sog. Christologie bin ich nicht sonderlich bewandert. Dennoch möchte ich einige wenige Beobachtungen bzw. Leseeindrücke wiedergeben, die mir im Verlauf meiner Lektüre in den Sinn gekommen sind.

Ehrlich gesagt: Rowan Williams macht es einer möglichen nicht-fachlichen Leserschaft nicht einfach. Das Buch unterscheidet sich von den eher spirituell-erbaulichen Schriften des Autors dadurch, dass es eine zum Teil sehr technische religionsphilosophische bzw. theologiegeschichtliche Sprache nutzt. Ein Lieblingswort von Williams im ersten Teil des Buches ist der Terminus „agency“, was so etwas wie konzentrierte Handlungskraft bzw. personale Tätigkeitsantrieb bedeutet. Menschen können „agency“ besitzen, aber auch Gott kann sie zugeschrieben werden. Rowan Williams ist es – im Verbund mit Austin Farrer – dabei aber wichtig, dass Gott nicht ein beliebiger Gegenstand dieser Welt oder ein beliebiger Agent in dieser Welt ist. Gott kann mit unseren menschlichen Begriffen nie vollständig beschrieben werden. Gott kann nie restlich gefunden werden. Von Gott kann man keinen Besitz ergreifen. Man kann von Gott auch nicht in vergleichenden Kategorien – der Mächtigste, der Größte usw. – sprechen. Gott ist kein Gegenstand des Glaubens, sondern eher schon dessen dynamisierter Ursprung, dessen Kraft und Wirkmacht, eben: agency. Im Anschluss an Farrer schreibt Williams zu Beginn seines Buches: „We conceive God as infinite personal will and intelligence, as the exercise of infinite resource fully  and eternally present in every moment of its action“ (2).

Was wir über Gott wissen, stellt sich für den christlichen Glauben dennoch verblüffend einfach dar: Unser Wissen über Gott oder – besser – unsere Vertrautheit mit Gott speist sich aus dem Wissen über und der Vertrautheit mit Jesus Christus. Ein großer Teil des Buchs zeichnet daher ausgewählte christologische Debatten der vergangenen 2000 Jahre nach. Dabei begründet und vertieft Rowan Williams das theologiegeschichtlich zentrale Anliegen, die göttliche und menschliche Natur Jesu Christi mögen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer Spannung zusammen gehalten werden. Williams kommt öfters auf das zu sprechen, was schon von Søren Kierkegaard als das zentrale Paradox bzw. das Ärgernis des Glaubens umschrieben wurde: der Glaube an das ewige Heil gründet in dem endlichen Menschen Jesus Christus.

Vor allem im zweiten Teil des Buchs taucht der Name Kierkegaard immer wieder auf. Williams rekapituliert die Rezeptionsgeschichte  der kierkegaardschen Christologie bei Personen wie Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Wittgenstein. Aber auch im ersten Teil des Buchs wird die auch bei Kierkegaard prominente Rolle der sog. Kenosis – der göttlichen Erniedrigung in der menschlichen Inkarnation des „Gott-Mensch“ – thematisiert. So schreibt Williams in Bezug auf Maximus‘ Christologie in der ihm eigenen Terminologie:

„Nothing ceases to be human when divine filiation is lived or enacted in a human individual: when that filiation is embodied unsurpassably and uninterruptedly, as in the humanity of Jesus, the image of God in which humanity was first created is fully activated, and human beings in communion  with the Word incarnate are made able to live in kenotic and mutual gift, reflecting the life that belongs to the Trintarian Persons in eternity.“ (108)

Dem zitierten Abschnitt kann man die Einsicht entnehmen, dass die Christologie kein beliebiges Feld der christlichen Glaubenslehre ist, sondern in Rowan Williams‘ Lesart deren belebender Glutherd. Denn aus der christologischen Kriteriologie („divine filiation enacted in a human individual“, „kenotic and mutual gift“) heraus lassen sich für das politische Zeugnis , für die ekklesiologische Struktur und die kosmologische Gerichtetheit des Glaubens zentrale Aussagen ableiten. Bei Williams klingt das dann so:

„The life and well-being of the creation cannot be found in the disruption of the finite world by some insertion of the infinite into it (….) Christ as finite, as creature, guarantees the integrity of the created order (…).The finite – and more specifically the mortal and suffering – Jesus, in releasing into the world the act of the Creator, in new forms of relation and possibility, makes clear once and for all that creation’s wholeness and fulfillment are realized (…) by the bringing into being within creation of the relatedness of the Word to the Father which is the eternal ground of all finite existence.“ (242)

So entwickelt sich aus der von Williams destillierten Geschichte der Christologie fast schon so etwas wie eine politische Theologie des Leidens, der Selbstzurücknahme, der Machtlosigkeit und des Verzichts auf ideologischen Selbstschutzes. Diese politische Theologie ist beileibe nicht der Kern des christologischen Rundumschlags, den Williams auf über 270 Seiten vornimmt, aber durchaus eine in Kauf genommene bzw. bewusst angestrebte Konsequenz desselben. Für regelmäßige Leserinnen und Lesern von Rowan Williams‘ Texten wird diese spirituelle Konsequenz nicht überraschend kommen. Sie zeigt sich nämlich auch in früheren Publikationen des ehemaligen Erzbischofs von Canterbury. Ein Grund mehr, deren Rezeption auch im deutschsprachigen Raum voranzutreiben.

Werbung

Søren Kierkegaard and Political Theology: Indirect Communication and the Strength of Weak Authority: a Reflection on Parliamentary Democracy

The following excerpt is the beginning of my contribution to the edited volume of R. Sirvent & S. Morgan: Kierkegaard and Political Theology, Pickwick Publications, 2018.

„In the course of this essay I aim to answer the following set of questions: Is it possible to describe parliamentary democracy – somewhat idealtypically – as indirect communication? Is it possible to transfer this concept, which Søren Kierkegaard developed as part of his existential dialectics, to the level of collective decision-making? And is it possible to assign to parliamentary democracy similar Christian qualities which Kierkegaard assigns to the notion of indirect communication?

It may be rightfully assumed that Kierkegaard was sceptical about what Samuel Huntington called the “first wave of democratization” in the modernising 19th Century. I claim, however, that Kierkegaard’s democratic scepticism did not prevent him from developing concepts which – in a strange dialectic way – are valuable in a twenty-first century reflection on the idea of parliamentary democracy. In my view, the idea of indirect communication is such a concept.

In order to illustrate that the concept of indirect communication correlates with the idea of parliamentary democracy, I will proceed in two steps: First, I will explain some important features of Kierkegaard’s understanding of indirect communication. I am not going to deal comprehensively with either Kierkegaard’s own writings on the subject nor the extensive secondary literature on Kierkegaard’s ideas on communication. Rather, I will be selective, exemplifying only those points which seem valuable for my overall argument. Secondly, I will relate Kierkegaard’s concept of indirect communication to elements of parliamentary democracy as descripted by a group of 20th and 21st Century European writers as diverse as Carl Schmitt, Jürgen Habermas and Kari Palonen. My essay aims to move forward the presumptuous systematic claim that the concept of indirect communication describes one of the main features of parliamentary democracy, namely: that its strength lies in its weakness.“

(…)

Interested in reading more? Please read the full text in:

Robert Sirvent & Silas Morgan (eds.): Kierkegaard and Political Theology, Pickwick Publications 2018.

Weihnachten und die Liebe des Glaubens zu den Fakten

Wir seien im post-faktischen Zeitalter angekommen oder, wie es die Briten sagen, in einer „post-truth“-Ära. Das ist zum Ende des Jahres allgemeiner Vorwurf, Hilferuf, Schreckensschrei, Klagewort oder Vorurteil – je nach Standpunkt. Und nun nähert sich Weihnachten. Dieses Fest konfrontiert uns mit einem Faktum, das es unter den Menschen schon von je her schwer hatte: der Geburt eines Menschen als Sohn Gottes aus dem Schoß einer Jungfrau: „et homo factus est“.

Der christliche Glaube hat Erfahrung im Umgang mit dem Post-/Faktischen. An den Rändern der Kirche gab es schon früh Bestrebungen, angeblich unliebsame Fakten aus dem Weg zu räumen. Marcion war beispielsweise dafür bekannt, dass er im 2. Jahrhundert nach Christus große Teile des Alten Testaments aus dem christlichen Schriftenkanon ausschließen wollte, da sie ihm nicht ins Weltbild passten. Andere stellten zur gleichen Zeit die These auf, Christus sei mehr Gott und nur ein bisschen Mensch gewesen (sog. Doketismus ) oder – das andere Extrem – mehr Mensch und nur ein bisschen Gott (sog. Arianismus). Auf diese Weise wollte man sich den anstrengenden Glauben an den ungreifbaren, unfassbaren Gott-Mensch Jesus Christus etwas einfacher machen.

Es ging bei diesen Disputen um zentrale Glaubenswahrheiten, die für die Entwicklung des christliche Glaubens elementar waren und sind: sowohl die Dispute als auch die Wahrheiten. Die Glaubenswahrheiten, um die es hier geht, stehen aber nicht im ideellen luftleeren Raum, sondern sind zurück gebunden an Fakten: die Geburt Jesu Christi, sein Leben und Wirken, sein Tod am Kreuz, das Rätsel seiner Auferstehung und damit zusammenhängend die Entstehung der Kirche aus dieser Faktenlage heraus. Fakten freilich sind das, die auch hinüberwachsen in das Reich des Glaubens, des Vertrauens und Zutrauens. Es sind eben nicht nur Fakten.

Der christliche Glaube ist keine Naturwissenschaft. Es geht bei ihm nicht (nur) um Beweise und Fakten im harten Sinne. Es geht im Glauben aber auch nicht ohne Fakten, ohne reale Geschehnisse, ohne Wirklichkeit, ohne Geschichte. Ohne das historische Faktum „Jesus Christus“ gibt es keinen christlichen Glauben. Und je nach Grad der gläubigen Überzeugung des Einzelnen und mit dem Fortschreiten der Ideengeschichte des kollektiven Glaubens wird dieses Faktum angereichert mit weiteren Überzeugungen, Formeln, Dogmen, Gewissheiten. Ohne Rückbezug an das Faktum „Jesus Christus“ würden diese Ausformungen des Glaubens aber irgendwann kollabieren. Ideen brauchen Fakten, um am Leben zu bleiben. Und Fakten brauchen Ideen, um Kreativität freizusetzen.

Natürlich kann man einem Gläubigen jederzeit vorwerfen, er glaube an Dinge, die keine Rückbindung an das Land des Faktischen hätten. Dieser Vorwurf wurde und wird auch regelmäßig vorgebracht. Der Vorwurf sollte jedem Gläubigen Grund genug sein, seinen Glauben stets mit guten Argumenten verteidigen zu wollen und zu können. Dafür hat sich jeder zu rüsten, denn die schlimmsten Zweifel an den Fakten wachsen so oder so im eigenen Herzen. Man kommt an ihnen nicht vorbei.

Für mich war bislang stets gewiss: Es gibt sie, die Gründe, weshalb der Glaube viel mit der Wirklichkeit und der Wahrheit zu tun hat. Mit der Wahrheit, wie sie faktisch ist und auch mit der Wirklichkeit, wie wir sie uns für die Zukunft wünschen.

Rowan Williams‘ öffentlicher Glaube IV: Ein Plädoyer für den Antihelden

Ende des Monats verläßt Rowan Williams Canterbury bzw. den Lambeth Palace, wie die Residenz des Erzbischofs von Canterbury in London heißt. Ab dem kommenden Jahr wird er eine akademische Stelle als Leiter eines Colleges in Cambridge begleiten. Er wird wieder mehr Privatperson sein, weswegen die Frage aufkommt, ob es dann noch so etwas wie Rowan Williams‘ öffentlichen Glauben geben kann. Zumindest der Titel dieser Blog-Reihe wäre damit in Frage gestellt.

Was hier als „öffentlicher Glaube“ eines Theologen und Erzbischofs bezeichnet wird, kommt – wie im Eintrag von 11. Oktober 2012 festgestellt – mit einem Wahrheitskern daher. Vor sechs Wochen blieb ich die Auskunft schuldig, um welche Wahrheit es sich in diesem spezifischen Fall handelt.

Es wäre nun vermessen, in einem einzigen Blogeintrag das politisch-theologische Wahrheitsverständnis von Rowan Williams zusammenfassen zu wollen. Zwei vorliegende Publikationen nähern sich diesem Thema schon einführend an (vgl. Rupert Shortt 2003: Rowan Williams. An Introduction. London bzw. Benjamin Myers 2012: Christ the Stranger. The Theology of Rowan Williams. A Critical Introduction, London). Trotzdem möchte ich an dieser Stelle festhalten, was mir bei meiner Lektüre von Rowan Williams Texten als dessen politisch-theologisches Wahrheitsverständnis auffiel. In aller Kürze möchte ich es hier auf den Punkt zu bringen versuchen.

Rowan Williams Wahrheit ist – politisch wie theologisch – Jesus Christus. Das ist leichter geschrieben als durchdacht. Denn Jesus Christus steht hier nicht für eine erbauliche Formel für die Straßenverkündigung. Die Sprache von Jesus Christus umreißt in diesem Zusammenhang die Wahrheit als ein zerbrechliches, unscheinbares, schwaches Gefäß für eine spezifische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die göttliche Offenbarung in Jesus Christus beschreibt Williams an einer Stelle folgendermaßen: „God is made clear, God speaks, breaks his silence, in events that display the extremity of human resourcefulness, the silencing of human subtlety or eloquence and the emptiness of human achievement and security. The paschal events (d.h. das österliche Geschehen von Leiden, Tod und Auferstehung Christi, BC) are a record of death and resurrection, utter emptiness issuing in fullness, life out of nothing“ (R. Williams 2010: The Church as sacrament, in: International Journal for the Study of the Christian Church, Jg. 10, Nr. 1, S. 7). In den Augen von Rowan Williams offenbart sich Christus im Ostergeschehen als der Diener, als einer der seine Göttlichkeit in größter Armut und Selbstzurücknahme lebt (ebd., S. 8). Der Allmächtige nimmt es auf sich, zum Ohnmächtigen zu werden; und dies eben nicht nur zum Schein. Damit stellt er alle menschlich-hierarchischen Parameter in Frage.

Christus ist also beides zusammen: fester Grund der Zuversicht für die Gläubigen, ihre Rettung, ihr Weg, ihr Leben oder welche Glaubensformel man noch heranziehen könnte. Christus ist dies aber nur in Schwacheit, und auch nur dem, der selbst der Schwachheit und Selbstzurücknahme seines „Herrn und Meisters“ nachstrebt. Christus ist der Antiheld. Ihm nachfolgen heißt, selbst zum Antihelden zu werden.

Was hat diese Wahrheit, dieser „Christus“ in der Politik zu suchen? Der Antiheld Christus ist der „pattern-man“, wie es Robert Isaac Wilberforce in seiner „Doctrine of the Incarnation“ ausdrückte. Er ist für Williams – neben seiner soteriologischen Bedeutung – das Modell für gelungenes privates und öffentliches Leben. Wer sich – wie Williams – mit Christus verbindet, der erstrebt nicht vorrangig sein ganz privates Heil, sondern sucht nach der Verwirklichung des gelungenen Lebens für alle Menschen bzw. für alles Leben. Er sucht die Gemeinschaft der Antihelden. Ihrer eigenen Schwachheit und Ergänzungbedürftigkeit bewußt suchen diese gemeinsam nach Möglichkeiten der Durchsetzung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Der entscheidende Unterschied zwischen den christlichen Vorstellungen von einem gelungenen Leben und den üblichen politischen Vorstellungen ist dabei der sog. eschatologische Vorbehalt. Das gelungene Leben – Williams nennt es einmal „the community in which no-one lives for him or herself alone“ (R. Williams 2011: Relations between the Church and state today: what is the role of the Christian citizen?, Address given at Manchester University, 1 March 2011) – bleibt trotz aller menschlichen Bemühungen zu dessen Durchsetzung immer ein Versprechen auf Zukunft.

Diese Wahrheit – dieser „Christus“ – ist also nicht der Kontingenzblocker, für den Wahrheitsansprüche gemeinhin gehalten werden. Rowan Williams‘ Wahrheit hinterfragt, kritisiert, erschüttert. Aber sie ermöglicht auch, sprengt Dimensionen, ist die Vorbedingung für eine neue Gründung (H. Arendt).

Das Christentum ist in den Augen von Williams „not simply ‚religion‘ as some sort of intellecutal and moral system but the corporately experienced reality of the Kingdom, the space that has ben cleared in human imagination and self-understanding by the revealing events of Jesus‘ life“ (R. Williams 2012: The spiritual and the religious: is the territory changing?, in: Ders.: Faith in the Public Square, London, S. 93).

Williams Plädoyer für eine christliche Politik der Antihelden fällt auf einen steinigen Boden. Der religionspolitische Diskurs ist vermint mit je nach dem fundamentalisch, funktionalistisch oder polemisch verkürzten Argumentationsfetzen. Das darf aber niemanden davon abhalten, einen wissenschaftlich und lebenspraktisch reflektierten Beitrag zu der Debatte zu leisten. Rowan Williams hat dies in den vergangenen Jahren gewagt. Es wird sich lohnen, seinen Anregungen weiterhin zuzuhören; auch nach seinem Umzug nach Cambridge.