Welt und Dezentrierung oder: Über eine Haltung der Aufmerksamkeit

Vor kurzem war hier davon die Rede, dass der Welt nicht auszuweichen sei; dass man sich den Herausforderungen von Welt stellen solle.

Aber was ist „Welt“? Und was macht die Begegnung mit „Welt“ mit mir?

„Welt“ ist einer der Grundbegriffe unserer Sprache. Und als solcher Grundbegriff (ReinhartKoselleck) umfasst „Welt“ eine große Bandbreite von Bedeutungen, Metaphoriken, Assoziationen, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht:

Man mag von „Welt“ sprechen als eines komplexen, in sich aber auch zusammenhängenden Gesamtgewebes, als dessen Teil sich die Beobachterin sieht. Man mag von „Welt“ sprechen als einem Gegenüber des Beobachters, als dem Objekt, das dem Subjekt sich zeigt, offenbart, entbirgt usw.  Von Welt mag man auch sprechen, als dem Schlechten und Verdorbenen, das dem Guten und Schönen beständig in die Quere kommt.  Welt gibt es

  • existentiell (die Welt und ich),
  • theologisch (Immanenz und Transzendenz),
  • astronomisch (Welt als unser Planet),
  • philosophisch (Weltgeist),
  • politisch (als Weltgesellschaft),
  • geographisch (die Kontinente),
  • usw.

Kurz: In vielerlei Hinsicht und in vielen Zusammenhängen wird von Welt gesprochen. Der entsprechende Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 12, 407ff., 2004) ist daher auch sehr umfänglich, aber auch sehr empfehlenswert.

Doch was tut Welt mit mir, dem Subjekt? Um diese Frage zu beantworten nutze ich im folgenden einen sehr alltäglichen, subjektbezogenen Weltbegriff. Nein, Welt ist nicht das Objekt, das ich mir als Subjekt aneigne. Ich stehe in keinerlei Dominanzverhältnis gegenüber der Welt. Welt ist vielmehr das, was mir, dem Subjekt, im Alltag unablässig begegnet. Welt tritt an mich heran. Ich bewege mich in der Welt. Ich forme Welt. Welt formt mich. Schon immer, immer wieder, immer noch. Ich kann der Welt nicht entkommen.

Phänomenologisch lässt sich das in Bezug auf die natürliche Umwelt vielleicht wie folgt auffangen:

Ich beobachte eher en passant einen Trupp von Spatzen. Sie schwingen auf den hohen  Ästen eines Apfelbaums hin und her, hin und her. Dabei schwatzen sie unter ihresgleichen. Ich beobachte sie und blicke damit weg von mir hin zu einem Geschehen, dass sich mir äußerlich darstellt, in meinem Innern aber Resonanz (Hartmut Rosa) erzeugt. Welt ist hier die natürliche Umwelt, mit welcher ich ‚irgendwie‘ in Verbindung, welche mich prägt und verändert. Der muntere Trupp spatzen gibt mir zu Denken.

Oder im zwischenmenschlichen Miteinander:

Das Gespräch mit einer interessanten Person dauert nun schon länger. Ist es die Person selbst, ihre Gesten, ihre Blicke, ihre Stimme, die mich im Innern bewegen? Oder ist es das gesagte Wort, der Inhalt unseres Gesprächs? Oder doch beides zusammen, da Person und Inhalt in einem guten Gespräch immer zusammen gehen? Auf jeden Fall gehe ich innerlich auf diese Person zu, ver-rücke mit meinem Ich, sammle Eindrücke und knüpfe neue gedanklichen Fäden, die mir vorher noch unbekannt waren.

Die Begegnung mit Welt ver-rückt mich. Welt, so sehr ich sie selbst auch mitforme, bleibt immer auch ein Anderes, ein Fremdes, das in mir eine hoffentlich positive Veränderung auslöst. In diesem positiven Fall werde ich durch diese Begegnung von Welt, die Erfahrung von Weltbezug dezentriert. Dabei nutze ich einen durch und durch affirmativen Begriff von Dezentrierung. Dezentrierung ist also immer gut, da sie mich aus dem alten Trott herausholt, mir die Möglichkeit einer Erneuerung – geistlich gesprochen: einer Umkehr – eröffnet.

Dezentrierung als die gedankliche Zurückstellung des Ichs schafft im Umgang mit Welt eine Haltung der inneren Aufmerksamkeit. Diese Haltung der inneren Aufmerksamkeit ist gleichbedeutend mit einer Wachheit für die äußeren Phänomene, die Epiphanien und Erscheinungen meines Alltags. Sie ist auch gleichbedeutend mit einer ideologischen Beweglichkeit – nicht Beliebigkeit! – die mir hilft, gedanklich und ideell umzukehren, zu wenden, zu verändern. Dezentrierung ist somit gleichbedeutend mit habitueller Aufmerksamkeit für die Welt.

Die Haltung der inneren Aufmerksamkeit, die Bereitschaft sich durch Welt dezentrieren zu lassen, hat neben der weltlichen oder auch alltäglichen Dimension auch eine nicht-weltliche, eine spirituelle Bedeutung. Welt-Offenheit und Gott-Offenheit sind nämlich beides Früchte dieser einen aufmerksamen Haltung. Die Haltung der Aufmerksamkeit öffnet die Augen für den Reichtum der physischen Welt, analog dazu aber auch für die dahinter liegenden, die meta-physischen Zusammenhänge.  Spirituell gewendet klingt das bei Rowan Williams in The Wound of Knowledge (2. Auflage, 1990) dann folgendermaßen:

„To be absorbed in the sheer otherness of any created order or beauty is to open the door to God, because it involves that basic displacement of the dominating ego without which there can be not spiritual growth.“ (180)

Dezentrierung ist somit nicht nur gleichbedeutend mit habitueller Aufmerksamkeit für die Welt, sondern sie überführt auch zu einer höheren Aufmerksamkeit für die Bedingungen der Möglichkeit von Welt.

 

Werbung

2 Gedanken zu “Welt und Dezentrierung oder: Über eine Haltung der Aufmerksamkeit

  1. Welt ist auch Gemeinschaft, die Welt-Gesundheitsorganisation, die Weltgemeinschaft, die UNO, wir alle zusammen können viel erreichen, was eine einzelne Nation nicht kann, die Europäische Gemeinschaft, das Multilaterale, das Vielfältige, im Gegensatz zum Abschotten, aber auch zur Gemeinsamen Pan-demie.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..