Über die Rhetorik moralischer Situationen

In einem Text vor einigen Monaten sprach ich von dem Konzept der „rhetorischen Situation“, wie es Hans Blumenberg entwarf. Hier ging es um das fast schon urmenschliche Bedürfnis, sich in bestimmten kommunikativen Situationen rhetorisch zu entwerfen; dies auch, um einer offensichtlich Unbegründbarkeit der eigenen Position – sei es emotional oder rational – aus dem Weg zu gehen.

In seinem Essay „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt“ (Stuttgart 2016) beschreibt der Philosoph Andreas Urs Sommer ganz ähnlich gelagerte, sogenannte moralische Situationen. Damit meint Sommer diskursive Momente, in denen unterschiedliche Moralansprüche mehr oder minder heftig aufeinander prallen. Konkurrenz bei gleichzeitiger Koexistenz von „Moralen“ (88) stellt Sommer fest und diagnostiziert gleich auch noch eine Zunahme solcher moralischer Situationen. Nach Sommer nimmt in unserer Gesellschaft die moralische Gleichgültigkeit ab, und als Folge davon neigen wir in immer mehr Kontexten dazu zu moralisieren.

In Anlehnung an die Fundamentalpolitisierung, wie sie Michael Th. Greven einmal mit Blick auf die moderne Gesellschaft festgestellt hat (in: Die politische Gesellschaft 1999), sieht Sommer also eine Art Fundamentalmoralisierung am Werk: Man kann in unserer Gesellschaft der Moral kaum noch aus dem Weg gehen, so allgegenwärtig scheint sie zu sein. In der Gegenwart gebe es, so Sommer, „eine Fülle von Situationen“, „in denen sich unterschiedliche Moralansprüche oder aber Moralansprüche und außermoralische (beispielsweise ökonomische oder politische) Ansprüche gegenüberstehen“ (Sommer 2016: 89). Moral ist also allgegenwärtig, aber gegenwärtig ist sie ganz und gar nicht in einheitlicher Form.

Sommer schreibt von einem „vermehrten Moralredebedarf“ (88). Dieser ist entstanden, so darf man den Freiburger Philosophen verstehen, da sich die moderne Gesellschaft einen mitunter anstrengenden Pluralismus leistet, welcher kaum noch weltanschauliche bzw. ideologische oder auch hierarchische Selbstverständlichkeiten kennt. Die Abnahme der Selbstverständlichkeiten macht es folglich notwendig, dass man sich über immer mehr Dinge diskursiv verständigen muss. Und daraus folgt auch, dass es immer mehr Situationen gibt, in denen sich konkurrierende Vorstellungen unversöhnt gegenüberstehen und Verständigung eben nicht möglich ist. In solchen Situationen der konkurrierenden Rhetoriken greift man dann gerne auf eine vermeintlich scharfe Waffe zurück, nämlich die moralische Keule. Man lädt die diskursive Situation rhetorisch auf, indem man ein vormals unschuldiges Thema hin zur Moral dreht. In den Worten Sommers: „Moralisierung ist ein ideales Instrument zur politischen Delegitimierung anderer sowie zur politischen Selbstlegitimierung“ (57).

So entsteht dann eine Art Situationsmoral oder Situationsethik. Das ist eine Moral bzw. Ethik, die aus der Not der Situation heraus entstanden ist, aber kaum den Anspruch erheben kann über diese Situation hinaus zu gelten. Diese Moral bzw. Ethik ist nicht langfristiger Natur, hat kein fortdauerndes Wesen. Sie wird vielmehr aus der Notwendigkeit geboren, in den vielen rhetorisch und moralisch aufgeladenen Situationen, in die wir geraten, jeweils einen Stich in der Hand zu haben gegen die Argumente des anderen; um somit zumindest dem Scheine nach auch das eigene Leben diskursiv einigermaßen zu bestehen.

 

 

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