In einem früheren Text beschäftigte ich mich mit dem paradox klingenden „Schweigen der Prediger„. Damit war und ist gemeint die kontemplative Dimension jeder (christlichen) Verkündigung, vor allem jener, die durch Mitglieder des Ordens der Prediger – der Dominikaner – geschieht. Die Formulierung „Schweigen der Prediger“ deutet dabei eine tendenzielle Auflösung des Gegensatzes zwischen einer vita contemplativa und einer vita activa an, wie er im 20. Jahrhundert unter anderem von Hannah Arendt diskutiert wurde.
In einigen frühen Aufsätzen des bekannten US-amerikanischen geistlichen Schriftstellers und Trappisten Thomas Merton (Early Essays 1947-1952, hrsg. Patrick F. O’Connell, Cistercian Publications 2015) las ich nun eine tiefergehende Diskussion dieser Dichotomie, die unterscheidet zwischen einem kontemplativen, nach innen schauenden Leben und einem aktiven, nach außen schauenden Leben.
Der Gegensatz, wie er von Hannah Arendt in „Vita activa“ diskutiert wurde, ist angelegt im Werk von Thomas von Aquin, welches sowohl Hannah Arendt als auch ihrem Zeitgenossen Thomas Merton (1915-1968) bekannt war. Merton zitiert Thomas‘ Unterscheidung an mehreren Stellen in seinen Aufsätzen, wobei Merton nicht nur die analytische Unterscheidung übernimmt, sondern auch deren normative Bewertung: Vita contemplativa simpliciter est meliora activa (Merton 125) – das kontemplative Leben ist höher einzuschätzen als das aktive. Diese Wertung gründet darauf, dass sowohl Thomas als auch Merton die Nähe zu Gott beim kontemplativen, beschaulichen Leben höher einschätzen als beim aktiven, tätigen Leben. Während der kontemplativ lebende Mensch – theoretisch – in der Stille der Schau Gott ständig vor Augen hat, quält sich der aktiv lebende Mensch – theoretisch – in seinem Alltag mit allerlei weltlichen, ablenkenden Dingen ab.
Die Unterscheidung von kontemplativer und aktiver Lebensweise hat sich in der katholischen Kirche in den unterschiedlichen Orden institutionalisiert. Merton, als Trappist, gehörte einem sehr kontemplativen Orden an. Thomas von Aquin gehörte als Dominikaner dagegen einem sowohl aktiven als auch kontemplativen Orden an. Dieses Zusammenspiel von Kontemplation und Aktion bei den Dominikanern scheint Merton fasziniert zu haben, denn er kommt in seinen Texten immer wieder darauf zu sprechen.
Dabei hört man bei ihm heraus, dass er dem kontemplativen durchaus einen Vorrang einräumt, doch es ein noch höherer Verdienst sein kann – die ständige Vergleiche in Mertons Texte verstören etwas – wenn ein Mensch das in der Kontemplation geschaute an andere weiter zu vermitteln vermag. Merton zitiert die jedem Dominikaner bekannte Formulierung von Thomas contemplata aliis tradere (34): Die Früchte der Kontemplation sind an die Anderen weiterzureichen. Thomas bringt dies in das schöne Bild des „Überflusses“, welches Merton ebenfalls aufgreift: propter abundantiam divini amoris (127). Die in der Kontemplation erfahrene Liebe Gottes fließt in der tätigen Verkündigung über hin zu der Welt, wie sie sich dem kontemplativ Aktiven darstellt.
Somit verflüssigt Merton den traditionellen Gegensatz zwischen dem aktiven und kontemplativen Leben. Trotzdem versteht der Leser ohne weiteres: Wenn du zwischen purer Kontemplation und purer Aktion wählen muss, dann wähle die Kontemplation. Wenn du aber frei bist in deiner Wahl, dann wähle die Kontemplation, die in die Aktion überfließt. Dabei muss freilich sicher gestellt sein, dass die Kontemplation nicht als Mittel zum Zweck missbraucht wird. „It is not sufficient to consider contemplation merely as a means to action“, schreibt Merton (129). Aktion und Kontemplation sind wesenmäßig miteinander verbunden. Merton weiter: „The preaching and teaching orders are not destined merely to functions of the active life. The contemplative life is an absolutely essential end of the preaching vocation“ (ebd.). Die kontemplative, beschauliche Lebensform und die aktive, tätige Lebensform gehören zusammen im Akt der von Gott zum Menschen weiter getragenen Liebe.
So wundert es nicht, dass Merton eigentlich nur eine Berufung anerkennen kann, und zwar jene „dominikanische“, welche genau dieser kontemplativ-aktiven Haltung entspricht. Diese Haltung kann bzw. muss freilich in jedem kirchlichen Orden gelebt werden, egal wie kontemplativ bzw. aktiv die jeweilige – akzidentielle – Organisationsform ist. Ja, wenn ich Merton recht verstehe, gilt diese Haltungsfrage für alle Menschen. Merton schreibt dazu:
„This means, in practice, that there is only one vocation. Whether you teach or live in the cloister or nurse the sick, whether you are in religion or out of it, no matter who you are or what you are, you are called to the summit of perfection: you are called to be called a contemplative and to pass the fruits of your contemplation on to others. And if you cannot do so by word, then by example“ (37).
Das ist freilich eine Herausforderung für all jene, die der Kontemplation im tätigen Leben keinen hohen praktischen Stellenwert beimessen. Eine bürgerliche Form der gezähmten Kontemplation – Merton nennt es despektierlich „contemplation in a rocking chair“ (92ff.) – gibt es nicht. Billige Kontemplation gibt es nicht. Kontemplation hat immer mit einem Selbstopfer zu tun. Wer zu diesem nicht bereit ist, hat – in den Augen Mertons – nichts verstanden.
Und für Merton ist klar: Die Gefahr ist größer, dass ich vor lauter Aktivismus die Kontemplation vergesse, als dass ich vor lauter Kontemplation die konkrete Tat übersehe. Von daher bleibt Merton stets auf der Seite von Thomas von Aquin: Vita contemplativa simpliciter est meliora activa. Letztlich gilt also: Je höher der Puls der Aktivität ist, desto tiefer muss auch das Schweigen der Prediger sein.
Pingback: Vita activa und Vita contemplativa – Zu einem Gedanken von Thomas Merton | Rotsinn