„Der Staat ist heilig, aber nicht wie ein Götzenbild, sondern wie die Kultgegenstände oder die Steine des Altars, das Taufwasser oder andere ähnliche Dinge. (…) Diese stofflichen Stücke werden als heilig betrachtet, weil sie einem heiligen Gegenstand dienen. Und diese Art von Majestät steht dem Staat zu.“
aus: Weil, Simone 2011: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber, Zürich: Diaphanes, S. 169.
Anfang der 1940er Jahren geschrieben, offenbart der Satz Ambivalenz. In den faschischisten und kommunistischen Diktaturen ihrer Zeit erkennt Simone Weil eine verkehrte Sakralisierung des Politischen („Götzenbild“). Ihre Antwort hierauf ist aber nicht die konsequente Desakralisierung des Politischen durch die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie. Das ist die pragmatische Antwort der Politikwissenschaft der Nachkriegsjahre.
Weils Antwort lautet: Schaffung eines wahren Vaterlands durch die Einhauchung eines Geistes des demütigen Gehorsams in das Volk dem Staat gegenüber (ebd.). Angesichts der Enttäuschung, welche Simone Weil in einer Zeit von Krieg, Totalitarismus und Exil spürte, überrascht es, dass sie den Gedanken eines transzendenten Auftrages von Staat und Volk nicht aufgab. Waren Krieg und Vernichtung doch nicht erst durch die „politischen Religionen“, wie es Eric Voeglin 1938 formulierte, hervorgerufen worden? Legt es die Verquickung von Transzendenz und staatlicher Politik nicht gerade auf ein totalitäres Ordnungsdenken an?
Offenbar sieht Simone Weil zwischen dem Pragmatismum einer parlamentarischen Demokratie und der Totalität politischer Religionen noch einen „dritten“ Weg, wie die Institutionalisierung von wahrheitssuchender Politik gestaltet werden kann. In ihren Schriften bleibt sie hierzu aber (notwendigerweise?) vage.