Haltung. Ein klasse Wort! Passt immer:
- Im Verein stimmt die Kommunikation nicht: Die Leute müssen an ihrer Haltung arbeiten.
- Das Kind ist nicht zum Lernen zu motivieren: Es muss an seiner Haltung arbeiten.
- Bei der Arbeit herrscht Stillstand: Die Kolleginnen und Kollegen müssen an ihrer Haltung arbeiten.
- Die Kirche steht vor einem Scherbenhaufen: Die Gläubigen müssen an ihrer Haltung arbeiten.
Haltung kann immer und an allen Orten eingefordert werden. Die Forderung nach mehr Haltung, nach einer anderen Haltung, nach der aktiveren Haltung trifft immer den Nagel auf den Kopf. Denn: Wir werden nie fertig an der eigenen Haltung zu arbeiten. Wir sind nie mit der vollständig richtigen Haltung bei der Sache. Haltung ist nie fertig. Darum verfängt der Haltungsappell auch so gut.
Was aber soll Haltung sein? Stefan Kühl (in: Der ganz formale Wahnsinn, München, 2023, 99) definiert sie so, freilich im Konjunktiv:
„Bei Haltung handele es sich um eine aus Einsichten, Denkmustern und Werten bestehende Überzeugung, die das Verhalten eines Menschen konkret anleiten solle.“
Warum formuliert Kühl so distanziert? Der Soziologe erläutert seine Skepsis folgendermaßen:
„Haltung gehört (…) zu den Begriffen, die zwangsläufig misstrauisch machen sollten, wenn sie zur Preisung seiner Selbst, „ich bin stolz auf meine Haltung“, oder gar als Forderung an andere, „du brauchst eine andere Haltung“, genutzt werden.“
Es kann ja zutreffen, dass Menschen wenig motiviert sind bei dem, was sie gegenwärtig tun. Doch Kühl ist skeptisch, ob ein Appell an die Haltung da hilft. Vielmehr merkt er an:
„Man neigt (…) Schwierigkeiten, Spannungen und Enttäuschungen auf beteiligte Personen zurückzuführen. (…) Die Personalisierung (durch den Appell an die Haltung, BC) entlastet damit die Organisation von der häufig blockierten Suche nach anderen Ursachen für die Probleme.“
Haltungsappelle können also von den eigentlichen Problemen ablenken. So ist, um ein Beispiel zu nennen, die momentane Krise der (katholischen) Kirche im Westen nach der Meinung einiger vor allem darauf zurückzuführen, dass die Gläubigen die falsche Haltung haben: sie glauben zu wenig, sie beten zu wenig, sie engagieren sich zu wenig, sie denken zu klerikal usw. Durch den Verweis auf die falsche Haltung des Kirchenvolkes soll konsequent von strukturellen Problemen abgelenkt, welche die Kirche als Organisation plagen. Die Probleme werden verschleiert und in die Sphäre des kaum Kontrollierbaren überführt. Denn: Strukturprobleme kann man lösen; Haltungsmangel lässt sich kaum kontrolliert beseitigen. Haltungsappelle entspringen also oft genug Problemverschleierungstaktiken.
Grund genug, mit dem Wort Haltung sparsam umzugehen. Es gibt aber noch einen weiteren, begriffsgeschichtlichen Grund für rhetorische Sparsamkeit. Das deutsche Wort Haltung entstammt, folgt man dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (Band 3, 1974, Sp.990-991), unter anderem den Debatten der Lebens- und Existenzphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Für mich ist das Grund genug für eine ordentliche Brise Skepsis mit Blick auf die Praxistauglichkeit des Wortes Haltung.
Nicht wenige Begrifflichkeiten aus dem Repertoire der Lebens- und Existenzphilosophie sind so bedeutungsschwanger wie sie auch bedeutungsoffen sind. Die Begriffe sind tief und leer zugleich. Denn was soll ich damit anfangen, wenn die Haltung als eine „Dauerantwort auf eine Dauerlage“ verstanden wird oder mit dem „Ganzwerdenwollen der Existenz“ in Verbindung gebracht wird (Zitate ebd.)? Wer so spricht und schreibt, der hat es darauf angelegt bei allen Zustimmung zu finden ohne von irgendjemandem verstanden zu werden.
Hier rückt der Begriff der Haltung doch schon sehr nahe an den von Theodor Adorno kritisierten Jargon der Eigentlichkeit heran. An diesen Jargon lehnt man sich unbewusst an, wenn von Haltung gesprochen und Haltung eingefordert wird. Dann wissen nämlich alle, sie sind gemeint. Aber keiner weiß, was er zu tun hat.