Was ist Haltung? Und warum wir nicht so oft von Haltung sprechen sollten.

Haltung. Ein klasse Wort! Passt immer:

  • Im Verein stimmt die Kommunikation nicht: Die Leute müssen an ihrer Haltung arbeiten.
  • Das Kind ist nicht zum Lernen zu motivieren: Es muss an seiner Haltung arbeiten.
  • Bei der Arbeit herrscht Stillstand: Die Kolleginnen und Kollegen müssen an ihrer Haltung arbeiten.
  • Die Kirche steht vor einem Scherbenhaufen: Die Gläubigen müssen an ihrer Haltung arbeiten.

Haltung kann immer und an allen Orten eingefordert werden. Die Forderung nach mehr Haltung, nach einer anderen Haltung, nach der aktiveren Haltung trifft immer den Nagel auf den Kopf. Denn: Wir werden nie fertig an der eigenen Haltung zu arbeiten. Wir sind nie mit der vollständig richtigen Haltung bei der Sache. Haltung ist nie fertig. Darum verfängt der Haltungsappell auch so gut.

Was aber soll Haltung sein? Stefan Kühl (in: Der ganz formale Wahnsinn, München, 2023, 99) definiert sie so, freilich im Konjunktiv:

„Bei Haltung handele es sich um eine aus Einsichten, Denkmustern und Werten bestehende Überzeugung, die das Verhalten eines Menschen konkret anleiten solle.“

Warum formuliert Kühl so distanziert? Der Soziologe erläutert seine Skepsis folgendermaßen:

„Haltung gehört (…) zu den Begriffen, die zwangsläufig misstrauisch machen sollten, wenn sie zur Preisung seiner Selbst, „ich bin stolz auf meine Haltung“, oder gar als Forderung an andere, „du brauchst eine andere Haltung“, genutzt werden.“

Es kann ja zutreffen, dass Menschen wenig motiviert sind bei dem, was sie gegenwärtig tun. Doch Kühl ist skeptisch, ob ein Appell an die Haltung da hilft. Vielmehr merkt er an:

„Man neigt (…) Schwierigkeiten, Spannungen und Enttäuschungen auf beteiligte Personen zurückzuführen. (…) Die Personalisierung (durch den Appell an die Haltung, BC) entlastet damit die Organisation von der häufig blockierten Suche nach anderen Ursachen für die Probleme.“

Haltungsappelle können also von den eigentlichen Problemen ablenken. So ist, um ein Beispiel zu nennen, die momentane Krise der (katholischen) Kirche im Westen nach der Meinung einiger vor allem darauf zurückzuführen, dass die Gläubigen die falsche Haltung haben: sie glauben zu wenig, sie beten zu wenig, sie engagieren sich zu wenig, sie denken zu klerikal usw. Durch den Verweis auf die falsche Haltung des Kirchenvolkes soll konsequent von strukturellen Problemen abgelenkt, welche die Kirche als Organisation plagen. Die Probleme werden verschleiert und in die Sphäre des kaum Kontrollierbaren überführt. Denn: Strukturprobleme kann man lösen; Haltungsmangel lässt sich kaum kontrolliert beseitigen. Haltungsappelle entspringen also oft genug Problemverschleierungstaktiken.

Grund genug, mit dem Wort Haltung sparsam umzugehen. Es gibt aber noch einen weiteren, begriffsgeschichtlichen Grund für rhetorische Sparsamkeit. Das deutsche Wort Haltung entstammt, folgt man dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (Band 3, 1974, Sp.990-991), unter anderem den Debatten der Lebens- und Existenzphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Für mich ist das Grund genug für eine ordentliche Brise Skepsis mit Blick auf die Praxistauglichkeit des Wortes Haltung.

Nicht wenige Begrifflichkeiten aus dem Repertoire der Lebens- und Existenzphilosophie sind so bedeutungsschwanger wie sie auch bedeutungsoffen sind. Die Begriffe sind tief und leer zugleich. Denn was soll ich damit anfangen, wenn die Haltung als eine „Dauerantwort auf eine Dauerlage“ verstanden wird oder mit dem „Ganzwerdenwollen der Existenz“ in Verbindung gebracht wird (Zitate ebd.)? Wer so spricht und schreibt, der hat es darauf angelegt bei allen Zustimmung zu finden ohne von irgendjemandem verstanden zu werden.

Hier rückt der Begriff der Haltung doch schon sehr nahe an den von Theodor Adorno kritisierten Jargon der Eigentlichkeit heran. An diesen Jargon lehnt man sich unbewusst an, wenn von Haltung gesprochen und Haltung eingefordert wird. Dann wissen nämlich alle, sie sind gemeint. Aber keiner weiß, was er zu tun hat.

 

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Erinnerungen an Christian Polke (1980-2023)

A) Meine erste Begegnung mit Christian Polke fand im Rahmen der Systematischen Sozietät am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg statt. Diese war (und sicherlich ist sie das auch weiterhin) ein Kreis engagierter Theologinnen und Theologen in verschiedenen Phasen ihrer akademischen Ausbildung. Großzügig hatte man mich – einen Politikwissenschaftler – während der Zeit meiner Promotion dort aufgenommen. Wir lasen Hegel, Heidegger und andere Texte und besprachen die eine oder andere Qualifikationsschrift.

Die Sitzungen verliefen meist nach einem eingespielten Muster: Nach dem Einführungsstatement eines Studenten oder einer Promovendin spielten sich die habilitierten und professuralen Mitglieder der Sozietät die Diskussionsbälle zu. Man konnte viel lernen; ich wagte mich aber selten mit einer eigenen Meinung aus der Reserve. Zudem: Wir saßen in einem Quadrat: Die eine Seite war besetzt mit den Professoren, u-förmig schlossen sich alle weiteren Mitglieder an.

Und dann kam Christian Polke dazu. Christian setzte sich sogleich mitten auf die „Professorenbank“ und eroberte sich auch sofort einen Redeanteil, der dem der Professoren in nichts nachstand. Er brachte Feuer, Leidenschaft und bewundernswerte theologische und philosophische Belesenheit mit. Nicht dass die Sitzungen dieses Kreises zuvor langatmig gewesen wären. Nicht dass ich nicht schon zuvor viel mitgenommen hätte. Ganz im Gegenteil. Doch mit Christian herrschte meinem Empfinden nach ein anderer Beat. Christian saß zu dieser Zeit an seiner Habilitation, und mir ging bald der Gedanke durch den Kopf: Wenn hier nicht ein zukünftiger Professor der Theologie sitzt! Und er ist es geworden.

B) Im Frühjahr 2012 unterrichteten wir beide an der Universität Hamburg gemeinsam ein Blockseminar „Zum Problem des Theologisch-Politischen“. Er hatte mich dazu eingeladen, war ich auch schon seit einigen Jahren nicht mehr an der Universität tätig. Die Zusammenarbeit mit ihm war im besten Sinne unkompliziert: In Kürze hatten wir gemeinsam einen Seminarplan erstellt und über die Lektüreliste entschieden.

Als Theologe hatte Christian großes Interesse an den Forschungsgebieten, die man allgemein als öffentliche Theologie, politische Theologie, politische Religion oder dergleichen benennt. Er verkörperte einen Typus von Theologen, der sich mit großem Engagement auch in die Fragestellungen anderer Disziplinen einarbeitet. Er war an vielen Fragen interessiert und auskunftsfähig. In gewissem Sinne war er ein öffentlicher Theologe, vielleicht sogar ein öffentlicher Intellektueller, ein public intellectual; auf jeden Fall wäre er es geworden, wenn ihm das Leben mehr Jahre geschenkt hätte.

So war die Zeit der gemeinsamen Lehre für mich ein Genuss. Wann immer einem von uns die Worte fehlten, sprang der andere ein. Gemeinsam mit den Studierenden bildeten wir für einige Tage eine Lehr- und Lerngemeinschaft. Nach dem Abschluss des Seminars schrieb er mir: „Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Und den intellektuellen Disput sollten wir auch unbedingt durch regelmäßige Mittagslunche in St Georg oder Rothenbaum (Stadtteile in Hamburg, BC) fortsetzen.“

C) Und so haben wir es dann gemacht. In den Folgejahren trafen wir uns – meist in den Semesterferien – zu einem Mittagessen, um gemeinsam zu disputieren, uns auf dem Laufenden zu halten, gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen. Christian redete viel und schnell, war aber auch ein außerordentlich guter Zuhörer. Er hatte Interesse an seinem jeweiligen Gegenüber. Er interessierte sich natürlich für die intellektuellen Neigungen, aber auch für den Arbeitsalltag, die privaten Sorgen, die Freuden des Lebens.

Christian war schon immer viel unterwegs, exzellent vernetzt und damit auch gut beschäftigt. Die Arbeitslast erhöhte sich, wie ich aus der Ferne wahrnahm, mit der Pandemie enorm, in deren Verlauf er zudem noch Studiendekan seiner Fakultät wurde, schon zu normalen Zeiten eine arbeitsintensive Aufgabe. Seine „Leidenschaft“ – so würde es wohl Max Weber sagen (vgl. Wissenschaft als Beruf, Berlin 1992, 12) und seine „schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit“ (ebd., 36) waren ihm aber nicht zu nehmen.

Als im Sommer 2012 der Hamburger Politikwissenschaftler Michael Th. Greven unmittelbar nach seiner Emeritierung plötzlich starb, schickte ich Christian meinen hier veröffentlichten Nachruf. Seine Antwort lese ich heute mit einem inneren Beben: „Das ist ja furchtbar. Sag mal, was ist denn da passiert? Man mag es ja kaum glauben?“

Auch ich mag es kaum glauben, dass Christian Polke tot ist. Und da bin ich einer unter vielen Menschen, welche ihn sehr vermissen werden: Christian, den öffentlichen Theologen, den Lehrer, den guten Zuhörer und Freund. RIP.

Den Nachruf der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen finden Sie hier: https://www.uni-goettingen.de/de/nachruf+auf+professor+dr.+christian+polke/65035.html

Über eine Theorie der Demut in der Moderne. Eine Buchbesprechung.

Der Rostocker Philosoph Jonas Puchta legte kürzlich eine Veröffentlichung vor, die hier besprechen werden soll:

‚Du bist mir noch nicht demüthig genug‘. Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut. Freiburg/München: Karl Alber, 2021, 343 Seiten, 49,- €.

Ist die Demut nicht ein abseitiges Thema, gerade für die Philosophie?

Hat man sich durch Jonas Puchtas Monographie durchgearbeitet, dann wird man diese Frage sicher mit einem ‚Ganz und gar nicht!‘ beantworten müssen. Was Puchta im Rahmen seiner – als universitärer Qualifikationsarbeit entstandenen – Publikation erarbeitet, ist nichts anderes als der Versuch, einem philosophischen Verständnis der Demut (wieder) Geltung zu verschaffen

Der Trend geht nämlich zu einer Rhetorik der Demut, wie Puchta zu Beginn anhand einer Fülle von publizistischen Zitaten aus den letzten Jahren belegen kann. Alle Welt schreit nach mehr Demut: im Management, in der Politik, im Sport usw. Doch fehlt es an systematischen Untersuchungen zur Demut, gerade in der Philosophie. Als Philosoph macht es sich Puchta nun keineswegs leicht, denn er geht in einer Weise auch auf theologische Diskurse ein, die das alte Bonmot der „philosophia“ als „ancilla theologiae“ – Magd der Theologie – in Erinnerung rufen.

Ich bin mir aber sicher, dass der Autor die Philosophie keineswegs in dieser Rolle sieht, sucht er doch dezidiert nach einem Demutsbegriff, der ein „Gottesverhältnis“ (165) eben nicht voraussetzt. Gleichfalls sucht Puchta aber auch nicht künstlich die Distanz zu christlich-theologischen Demutsdiskursen: Er untersucht deren problematischen Seiten, kann aber auch deren konstruktiven Seiten für die eigene Argumentation einiges abgewinnen.

Was sind Puchta folgend die problematischen Seiten der theologischen Demutstraditionen? Das „Unbehagen an der christlichen Demut“ (33) macht sich breit, wenn Demut als etwas interpretiert oder auch gelebt wird, das Personen auf eine Stellung der Ohnmacht und Knechtschaft reduziert, gerade gegenüber staatlichen und kirchlichen Hierarchien. Puchta formuliert treffend: „Nach diesem Verständnis ist die Demut eine implizite (oder auch explizite, BC) Forderung, seine Situation resignierend auszuhalten und die Verunmöglichung eines Bestrebens, sie nach den eigenen Interessen zu verändern“ (36). Aber auch die „demütige Verachtung des ‚Fleisches'“ (41), die Verachtung alles Irdischen und als Demut sich kleidende Heuchelei und Hochmut (vgl. 47) werden den christlichen Demutsdiskursen angekreidet. Der Kritiker christlicher Demut sei, so Puchta, Friedrich Nietzsche gewesen, der sich an der von ihm empfundenen „Sklavenmoral“ (57) der Gläubigen rieb.

Puchta nimmt diese Kritik an der Demut sehr ernst, und jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, sollte dies ebenfalls tun, begegnet man doch weiterhin oft einem Demutsverständnis, das von Vorstellungen der Selbsterniedrigung, Demütigung und des blinden Gehorsams geprägt ist. Puchta erwidert die Kritik mit einem erhellenden Durchmarsch durch die christliche Theologie- und Philosophiegeschichte, beginnend von biblischen Zeugnissen, über die Theologie der Kirchenväter und Ordensgründer, über Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin bis hin zur frühen Neuzeit und weiter ins 20. Jahrhundert (63-119). Puchta verneint nicht, dass es gerade in einigen Formen des asketischen Denkens und den dazu gehörenden Praxen ein problematisches Verständnis der Demut gab (und gibt?). Positiv nimmt der Philosoph aber Denktraditionen auf, welche die Demut in Verbindung bringen mit Praxen der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis auf der einen Seite und mit der Tugend der Mäßigung auf der anderen Seite. Ein gewinnbringendes Verständnis von Demut „beruht (…) auf einem Akt der Selbsterkenntnis, der für die Selbstbeschränkung und das gemeinschaftliche Handeln ein ‚vernünftiges‘ Maß zum Ausgangspunkt hat“ (119).

An diesen Durchmarsch schließen sich „phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut“ an, die von zwei Seiten aus ein Licht auf Haltungen der Demut werfen: Demut aus Betroffenheit und Demut aus Besinnung. Puchta gibt zu Bedenken, dass Menschen immer wieder Erfahrungen der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, 136) bzw. des „unbedingten Ernstes“ (H. Schmitz, 145) machen; Erfahrungen, die unmittelbare Betroffenheit auslösen. Diese Erfahrungssituationen sind, so Puchta, für eine Theorie der Demut ebenso relevant wie das Phänomen, dass die Selbsterkenntnis des Einzelnen auf einer ‚Besinnung als einer besonnenen Selbstbetrachtung‘ (vgl. 165) beruht. Puchta steht bei der Beschreibung der Demutsphänomene in der Schuld des christlich-theologischen Denkens, versteht es aber auch, eine Brücke zu bauen zu philosophischen Demuts-Überlegungen, die kein Gottesverhältnis voraussetzen, sondern auf die „Geltungskraft“ (200) der beschriebenen Phänomene vertrauen. So formuliert der Autor seine eigene Definition der Demut auch bewusst ohne religiöse Bezüge:

„Ich definiere damit die Demut als eine in der Fassung verankerte Haltung, mit der eine Person ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit hinsichtlich ihres Wissens und Könnens grundlegend anerkennt.“ (201)

Im letzten Drittel seines Buches beschreibt Puchta „Arten der Demut“ (202) und setzt seine differenzierte Zwiesprache zwischen Philosophie und Theologie fort. Ihm ist es letztlich ein Anliegen „ein demütiges Handeln in der Moderne (zu) reflektieren“ (ebd.). Die Demut kann dann angesichts eines höheren Ideals (vgl. 205) wachsen oder aus der Begegnung mit einem Unverfügbaren (vgl. 221), als Korrektiv zu Haltungen der selbstherrlichen Weltbemächtigung – besonders relevant zu Zeiten des Klimawandels und Artensterbens! – und im gemeinschaftlichen Miteinander (vgl. 276).

Die „Zukunft der Demut“ (307) sieht Puchta freilich ambivalent. Zu Beginn des Buches legte Puchta Zitate vor, die von einer zeitgenössischen Wertschätzung der Demut zeugen. Zum Ende des Buches macht er aber deutlich, dass die kapitalistische (Spät-)Moderne gerade nicht eine Haltung der Demut fördert, sondern vielmehr zur Ichbezogenheit (vgl. 314) und Selbstoptimierung (318) animiert. Puchta urteilt:

„Die Demut hat in religiöser wie auch in nicht-religiöser Hinsicht einen schweren Stand in der Moderne. Die Zukunft der Moderne wird sich daran zu bewähren haben, inwiefern der Mensch entgegen der modernen Lebensführung wieder eine Bereitschaft dafür entwickeln kann, sich von einem ‚Übergroßen‘ (Rilke) ergreifen und seine Situation einer demütigen Besinnung unterziehen zu lassen.“ (320)

Puchtas Buch ist gut lesbar; auch dank zahlreicher literarischer Quellen, die der Autor zur Veranschaulichung und Explizierung seiner Argumentation anführt. Von einigen Redundanzen befreit hätte das Werk allerdings auch einige Seiten kürzer ausfallen können. Puchtas hochspannender Brückenschlag von theologischen zu philosophischen Gedanken – und wieder zurück – stellt in jedem Falle einen maßgeblichen Beitrag dar zu einem auch im 21. Jahrhundert bedenkenswerten Demutsverständnis.

Die Höllenfahrt Jesu als Comic. Eine Besprechung von „Judas“ (Loveness/Rebelka).

Ein wahrer Höllentrip!

Der Comic von Jeff Loveness (Story) und Jeff Rebelka (Bild) – jetzt auf Deutsch erschienen bei dem Ludwigsburger Haus Cross Cult – ist nichts für schwache Nerven.

Wir haben Karfreitag. Judas kommt nach seinem Selbstmord in die Hölle. Dort wird er nicht nur von Erinnerungen an sein irdisches Leben verfolgt, er trifft auch auf allerlei dunkles Personal: vieläugige Monster, den rachelustigen Schächer vom Kreuz, eine wilde Horde verdammter Seelen und, zuletzt, den eiskalten Luzifer höchstpersönlich. Zwischen diesem und Judas entspinnt sich ein längeres Gespräch über die Antihelden, Bösewichte und Unglücksfiguren der Heilsgeschichte, aber auch über Schuld und Sünde, den Ursprung des Bösen, die Prädestination. Luzifer kommt zum Schluss: „The story is broken – die Geschichte ist zerbrochen.“ Und Schuld daran hat: Gott. Denn Gott hätte ja auch alles anders machen können.

In diesem Moment kommt Jesus in die Hölle. Judas ist erschrocken. Dieser Jesus sieht reichlich zerschunden aus. Und er wirkt im ersten Augenblick orientierungslos, seine Präsenz in der Hölle sinnlos. Bis Judas Jesus in die Augen sieht. Es sind die gleichen Augen, die ihn auch im irdischen Leben anblickten. In diesen Augen findet sich aber noch etwas anderes: Schuldgefühle. Es sind die Schuldgefühle, die Jesus gegenüber Judas hat, weil er diesem die undankbare Aufgabe des Verrats aufgebürdet hatte. Es sind aber auch die Schuldgefühle aller Kreaturen, die sichtbar werden, denn Jesus ist ja das Lamm Gottes, „the lamb of God, who taketh the sins of the world“, wie Luzifer bibelfest zitiert.

All die Bösewichte der biblischen Überlieferung – ein Pharao, eine Isebel, der Schächer am Kreuz … bis hin zu Judas – konfrontieren Jesus mit ihrem Hass, ihrer Sünde. Denn er bzw. Gott sei es gewesen, der ihnen das Schicksal des Böse-sein-Müssens und des Sündigens aufgelastet habe. Er habe sie quasi dazu verdammt, Verdammte zu sein. Dieser Hass und diese Sünde, sie zerreißen Jesus. Und die Masse der Schuldigen wirft sich auf den Gekreuzigten. Im letzten Augenblick, kurz bevor Jesus von der Masse in die tiefste Tiefe hinab gerissen wird, blickt Judas Jesus noch einmal in die Augen: Und erkennt in diesen Augen trotz allem keinen Gegen-Hass. Stattdessen nimmt Jesus auch diese letzte aller Qualen auf sich. Und stürzt hinab ins Grauen der Sünde. Und Judas? Er springt Jesus hinterher.

Letztlich – so viel kann man verraten – wird Judas zum Retter Jesu, zum Retter des Retters. Am Ostermorgen überwindet Jesus die Höllenpforten, und Licht strömt in die kalte Finsternis. Jesus kehrt zurück ins Leben. Und lässt Judas mit einem Auftrag in der Unterwelt zurück. Davon handeln die beeindruckenden letzten Seiten des Comics.

Nicht nur die grafische Umsetzung von Rebelka beeindruckt bei diesem Comic – mit starken, kontrastreichen Farben, schemenhaften Gestalten und fascettenreichen Panels. Auch die Geschichte kann theologisch interessierte Leserinnen und Leser faszinieren. Denn die theologischen Fragen, die der Comic aufwirft, sind uralt. Und brandaktuell. Der Comic bietet keine einfache Lösungen an. Er erzählt aber die Geschichte eines Judas, der in der „zerbrochenen Geschichte“ seinen Weg, seinen Trost, seinen Sinn findet.

Mein Urteil: Sehr lesenswert!

Ein Lob auf die Rezension.

Ich schreibe gerne Besprechungen von Büchern, vor allem Fachbüchern. Warum?

Ich lese die zu besprechenden Bücher aufmerksamer. Ich mache mir Notizen, versuche der Argumentation zu folgen, gebe mir Mühe die Thesen zu identifizieren, unterstreiche schöne Gedanken und halte kritische Punkte fest. Das Buch wird mit der Lektüre zu einem wahren Arbeitsgerät mit den entsprechenden Gebrauchsspuren. Dadurch bleibt längerfristig aber auch das eine oder andere bei mir hängen … .

Ich lerne die Arbeit anderer Menschen kennen und lade Dritte ein, es mir gleich zu tun. Daher schlage ich öfters auch Bücher zur Besprechung vor, die etwas randständiger sind. Mit dem Kennenlernen des Buches ist dann meist auch ein Schätzenlernen verbunden. Denn ich bemühe mich in aller Regel keine Bücher zu „verreißen“, sondern versuche vielmehr, das Anregende und Interessante hervorzuheben. Besprechungen sind für mich so etwas wie ein öffentlich gemachtes  Interesse an den Werken anderer Menschen, auch dann, wenn Kritisches zu sagen ist. Beim Schreiben und Urteilen stelle ich mir innerlich vor, dass ich dem Autor oder der Autorin am nächsten Morgen beim Bäcker begegne; dann darf kein peinliches Schweigen oder gar ein Streit entstehen. Da bin ich hoffnungsloser Optimist und glaube an den Fortschritt durch konstruktive Kritik.

Ich lerne die hohe Kunst, eine Veröffentlichung in der weiten Forschungslandschaft zu platzieren. Jede Veröffentlichung hat einen Kontext, in dem sie erscheint und Zusammenhänge, auf die Bezug genommen wird. Als Rezensent ist es meine Aufgabe, nicht nur einen Inhalt wiederzugeben, sondern ich muss auch schauen, wie das Buch in die Landschaft passt. Besonders spannend wird es, wenn man bei Rezensionen das Fachgebiet wechselt. Dann kommt man nämlich schnell dahin, dass man Bücher nicht nur als Beitrag eines Faches liest und versteht, sondern darüber hinaus erkennt, dass das Buch auch für andere, interdisziplinäre Zusammenhänge ein wertvoller Beitrag sein kann.

Ich tue den Kolleginnen und Kollegen einen Dienst. Gewöhnliche Buchbesprechungen verhelfen einem nicht zu wissenschaftlichem Renommee. Aufgrund von Rezensionen erhält man keinen Ruf. Doch deshalb sollte man sie auch nicht verfassen. Vielmehr sollte man sich im Klaren darüber sein, dass viele Kolleginnen und Kollegen sich über die Besprechungen freuen, da sie so in die Lage versetzt werden, einen Überblick über ihr Forschungsfeld zu erlangen, ohne jedes Buch selbst lesen zu müssen. In diesem Sinne sind Rezensionen eine klassische Dienstleistung.

Ich erhalte das zu besprechende Buch umsonst. Vor allem bei wissenschaftlichen Fachbüchern, die schon einmal teuer sein können, ist das ein – ich gebe es gerne zu – nicht ganz uneigennütziger Vorteil.

 

 

 

Die Demut der Asche

Das trockene Laub zerfällt in der Hitze der Flamme, entzündet sich kurz und zerfällt schwarz in kleine Körner. Asche bleibt zurück.

Wir schätzen die Asche nicht. Asche ist zu nichts gut. Asche ist Sinnbild dafür, dass etwas das war, nicht mehr ist. Dass eine Präsenz Vergangenheit ist. Dass Zerstörung und Vernichtung herrschten. Dass dort, wo Leben war, nun „Schutt und Asche“ sich ausbreiten.

Wir schätzen die Asche nicht, und produzieren sie doch ständig neu. Denn Asche steht für das, was wir Menschen noch am besten können: zerstören, verbrennen, vernichten. Im Anthropozän ist kein Winkel dieser Erde mehr von dieser Zerstörung, diesem Brand, dieser Vernichtung, die Menschen verursachen, ausgenommen. Die natürlich entstehenden Feuer werden von den menschlich fabrizierten Aschenbergen in den Schatten gestellt. Wir haben die Möglichkeit alles zur Asche werden zu lassen. Und oft genug ergreifen Menschen diese Möglichkeit und lassen sie zur erschreckenden Wirklichkeit werden. In der großen Weltpolitik. Im Alltag der kleinen Entscheidungen.

Das Wissen um die viele Asche, die wir auftürmen, sollte eigentlich Demut lehren. Und Umkehr. Doch davon ist selten etwas zu spüren oder zu hören: Dass jemand umkehrt. Dass jemand sich schuldig bekennt. Dass ein Mächtiger und Hochmütiger angesichts der Asche, die er in die Welt hinauswirft, demütig wird. Dem Aufruf des ‚Nie wieder‘ folgt die Realität des ‚Schon wieder‘ nur zu schnell.

Und warum müssen wir erst immer katastrophal viel Asche aufhäufen, um den Ruf nach der Demut laut werden zu lassen? Wir wissen doch mittlerweile um unsere Zerstörungswut. Müssen wir es uns alle paar Jahrzehnte neu beweisen? Müssen wir uns immer wieder neu am eigenen Versagen ergötzen? Liest denn niemand die Geschichtsbücher und hört niemand die Erzählungen aus der Vergangenheit? Wir wissen: Ein heroischer Blick zurück lügt zumeist. Die Gegenwart steht auf blutigen Füßen.

Ich blicke auf das kleine Häufchen Asche vor mir. Und hoffe auf mehr Demut. Au mehr Umkehr. Geschichte und Gegenwart haben genug Asche gesehen.

Was ist Verorganisierung? Und was ist Veralltäglichung? Über die Verdauerhaftung des zauberhaften Anfangs.

Alles hat einen Anfang. Nicht selten ist dieser Anfang zauberhaft, mirakulös, voller Esprit und Charisma: eine neue Partei oder Bürgerinitiative wird gegründet und alle Mitglieder sind leidenschaftlich mit dabei; ein neues städtebauliches Projekt wird initiiert und alle ziehen an einem Strang; eine neue Forschungsinitiative wird verfolgt und alle sind Feuer und Flamme.

Und irgendwann kommt der Alltag in Form von Detailfragen, die zu klären sind; Regeln, die einzuhalten sind; Beteiligungsformate, die durchzuführen sind; Bedenken; Fragen; Zweifel. Irgendwann will man alles ordentlich machen und wählt Vorsitzende, stellt Satzungen auf und beruft Mitgliederversammlungen ein. So werden aus spontanen sozialen Bewegungen auf Dauer gestellte Organisationen. Aus  losen Interessensverbünde werden feste Gruppen mit Regeln und Mitgliedschaften und Grenzziehungen. Und diese, so schildert es der Soziologe Stefan Kühl in seinem Buch „Der ganz formale Wahnsinn“ (München 2023: 232), haben für ihre Mitglieder oft nicht mehr die attraktive Eigenart der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Eine soziale Bewegung, die sich nicht verorganisiert, verliert sich irgendwann in der Zerstreuung. Eine soziale Bewegung, die sich verorganisiert, verliert für viele ihrer Mitglieder die Attraktivität des Neuartigen und Charismatischen. Dieses Phänomen nennt Stefan Kühl „Verorganisierung“.

Ein ähnliches Phänomen beschrieb 100 Jahre vor Stefan Kühl Max Weber. Max Weber nannte das Phänomen aber nicht Verorganisierung, sondern Veralltäglichung. Unter Veralltäglichung leiden alle sozialen Beziehungen und Organisationsformen, die – idealtypisch vorgestellt – an einem außeralltäglichen Nullpunkt ihren Anfang nehmen: der Nullpunkt der göttlichen Offenbarung, der Nullpunkt einer Revolution, der Nullpunkt des Auftretens einer charismatischen Person. Der Übergang dieses außeralltäglichen Geschehens hinüber in den auf Dauer gestellten Alltag geht einher mit einer Veränderung der sozialen Beziehungen (vgl. Max Weber: Wirtschaft & Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Auflage, Tübingen 1972, 142f. bzw. 661f.).

Es entstehen nun stabile Herrschaftsformen, feste Verbünde, regelbasierte Interaktionen, die alle das Ziel haben, das Außeralltägliche hinüber in den Alltag zu retten; und damit zwangsläufig gründlich scheitern. Denn der Zauber des anfänglichen, außeralltäglichen Wunders verfliegt grundsätzlich schnell. Zu Beginn sind sich alle einig, aber schon bei der zweiten Sitzung kommen ersten Differenzen auf. Die erste Rede der neuen Vorsitzenden war elektrisierend, die zweite schon eher lau. Max Weber nutzt für dieses Phänomen die Beschreibungswörter „labil“ und „ephemer“ und meint damit den flüchtigen, nicht festzuhaltenden Charakter der außeralltäglichen Begegnung, des wunderhaften Geschehens.

Während „Verorganisierung“ also eher auf die äußeren Formen der notwendigen Stabilisierung von sozialen Bewegungen verweist, so verweist „Veralltäglichung“ eher auf die schnelle Verflüchtigung des inneren Geistes dieser neuen sozialen Interaktionsformen und Strukturen. Die – ich nenne es einmal so – „Verdauerhaftung“ der äußeren Form und des inneren Geistes sorgt dafür, dass das, was sich alle von dem Neuen erhofft haben, nie bzw. nur sehr bruchstückhaft eintritt. Es beginnen sehr schnell die zu mahlen, die wir alle nur allzugut kennen: die Mühlen und die Mühen des Alltags. Da bleibt dann vom anfänglichen Zauber wenig übrig.